9: Sturzflug

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Nach Schulschluss rannte ich so schnell es ging aus dem Raum. Die letzte Stunde – Musik – war ausgefallen, da die Lehrerin in Brasilien feststeckte. Ich wusste nicht, was sie dort wollte, aber ich dachte nicht weiter daran. Jetzt ging es zu den Windwalkern!
„Spaß, wir kommen!", grölte Crowley, der wieder einmal eine Coladose dabeihatte. Er wirkte ziemlich überdreht, das machte wohl das Koffein. Auf der Lichtung waren schon fast alle Vögel versammelt. Als ich dazustieß, wurde es plötzlich leiser. Alle tuschelten und warfen mir hin und wieder bewundernde Blicke zu. Ich fühlte mich unheimlich cool und beliebt, als ich mir eine Cola schnappte und durch die Menge eine der Bänke ansteuerte, die halb im Gebüsch verborgen standen.
Faeye sah mich und drängte sich grinsend zu mir durch.
„Tja, da hast du deine Freundin aber ziemlich beeindruckt, wie?", Sie stupste mich neckisch an.
„Ich habe... was?!" fragte ich erschrocken zurück. Ich meinte: FREUNDIN ?!
„Ja. Avery fand das total gut!", bestätigte Faeye. Ich erstarrte. Hatte ich richtig gehört? Avery? Nein, unmöglich. Meine Ohren spielten mir sicherlich nur einen Streich!
Oder? Faeye sah mich verschwörerisch an. Sie meinte das ernst! Ich wollte ihr erklären, dass sie da was falsch verstanden hatte. Aber in meinen Kopf war nur ein einziger Gedanke: Nicht Avery!
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Wie sollte ich dem Kolibri-Mädchen klar machen, dass ich überhaupt nicht mit Avery zusammen war?
„Wie kommst du denn darauf?", brachte ich schließlich heraus.
„Na, wie du heute Vincent und Victor verjagt hast. Oder als du Crowley und Milan zum Blättersammeln abkommandiert hast. Du weißt doch selbst, vor wem du dich beweisen willst!", kicherte sie und stupste mich mit dem Ellenbogen in die Rippen.
„NEIN!", erwiderte ich heftig, „SIE IST NICHT MEINE FREUNDIN!" Faeye sah mich ungläubig an.
„Bitte Faeye!", flehte ich sie an, „Glaub mir! Ich will nichts von Avery!"
„Aber... warum... hast du das gemacht? Du schlägst dich als Anführer durch!"
„Ich habe das für MICH und EUCH getan. Nicht um unsere Anführerin...", ich unterbrach mich, als ich besagte Anführerin auf uns zukommen sah.
„Na, was geht ab?", fragte sie betont fröhlich. Innerlich ging ich sofort in Abwehrhaltung. Diese Freude war so künstlich und gespielt, hier war eindeutig was faul! Faeye schien nichts zu merken, sie erklärte weiterhin lächelnd:
„Wir haben über die kleine Pause gesprochen."
„Ah. Ja." Lächelnd wandte sich Avery an mich, „Übrigens, echt tolle Aktion. Danke"
„Oh, äh, kein Problem.", gab ich zurück. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln. Ich lächelte stolz zurück. So ein Kompliment von der Anführerin! Die auch schon wieder verschwand. Ich sah ihr nach und fragte mich, warum sie wohl so künstlich geklungen hatte.
„Du grinst ihr nach wie irgendein verliebter Trottel!", stellte Faeye fest.
„Was? Nein!", protestierte ich und versuchte zu erklären: „Ich frage mich nur, was gerade los war. Ihre Freude war eindeutig gespielt..."
„Dann ist echt nichts zwischen euch?", versicherte sich Faeye vorsichtig.
„Nein. Nicht mal Freundschaft.", erklärte ich fest.
„Oh.", machte Faeye und klang dabei fast ein bisschen enttäuscht.
„Aber warum sie so komisch geredet hat: Avery klingt von Zeit zu Zeit einfach so.", erklärte sie mir.
„Ach so", murmelte ich, in Gedanken schon ganz woanders. Ich war nur froh, das Faeye nicht länger glaubte, ich wäre in das Schneeeulenmädchen verliebt!

Etwas eine Stunde später fiel ich erschöpft auf mein Bett. Wir hatten gefeiert ohne Ende, irgendwann hatte ich einfach nicht mehr gekonnt. Lustlos warf ich meinen Rucksack auf den Schreibtisch. Dabei fiel etwas herunter, eine kleine, bunte Schachtel. Ich fing sie gerade noch auf, bevor sie auf dem Boden aufkam. Wandler hatten gute Reflexe. Gerade als ich das Ding zurückstellen wollte, hielt ich inne. Moment, das war doch das Päckchen, dass ich zum Abschied von meiner Oma geschenkt bekommen hatte. Mit der Anweisung, es erst zum Schulbeginn zu öffnen. Nachdenklich wog ich es in der Hand. Obwohl es so klein war, war es ziemlich schwer.
Was wohl drin war? Meerblaue Socken? Ein Familienfoto zum an die Wand hängen? Ein kleines Holzbötchen als Deko?
Ich beschloss, meine Neugier nicht länger zurückzuhalten. Vorsichtig riss ich ein Loch ins Papier und knibbelte an den Rändern herum, bis ich es herunterziehen konnte. Darunter kam eine wunderschöne, türkise Schachtel zum Vorschein, auf der lauter Luftblasen abgebildet waren. Aufgeregt hob ich den Deckel an und linste hinein. Dann nahm ich ihn ganz ab und zog eine kleine Karte aus der Dose. Ich las mir durch, was auf der Rückseite stand:

Für: Sky Von: Oma
Hier ein kleines Geschenk. Einige Funktionen sollen gegen Heimweh helfen ; )
Viel Spaß damit
Aber beachte unbedingt die weiteren Hinweise auf der Gebrauchsanweisung!!!

Ziemlich nichtssagend. Na toll, jetzt war ich nur noch neugieriger. In der Schachtel war sonst nur ein Päckchen Luftpolsterfolie zu sehen. Ich zog es heraus und wog es in der Hand. Ziemlich schwer! Aufgeregt knibbelte ich die Folie ab und wickelte irgendwas aus. Das Päckchen schrumpfte allmählich. Warum so ein kleines Ding wohl so gut verpackt war? Ich wickelte ein weiteres Stück ab.
„Nein!", rief ich.
In meiner Hand lag ein brandneues, schwarz glänzendes Handy!
Ungläubig drehte ich es in der Hand. Glotzte fassungslos auf den glatten Bildschirm, aus dem mein Spiegelbild zu mir zurückstarrte. Das konnte doch nicht sein!
Das muss ein Traum sein! Und meine neue Beliebtheit sicher auch. Das ist zu unreal. »Ja, nur ein Traum«, beschloss ich.
Aber insgeheim wusste ich, dass das real war.
„Das ist gerade wirklich passiert!", flüsterte ich.
Meine Oma hatte mir ein eigenes Handy geschenkt!
„Was ist passiert?", wollte Shiva wissen, der gerade zur Tür reinkam. Meine Finger legten sich um die glatte Oberfläche des Geräts. Ich hob es vom Bett und hielt es hoch, sodass Shiva es sehen konnte.
„Meine Oma hat mir ein Handy geschenkt.", sagte ich einfach.
„Wow cool!", freute sich der Graureiherjunge für mich. Dann hielt er inne und sah meinen fassungslosen Blick.
„Äh... nicht cool?!", fragte er vorsichtig.
„Doch. Das ist... Wahnsinn. Das beste Geschenk meines Lebens.", hauchte ich und strich über den dunklen Bildschirm. Plötzlich leuchtete er auf und zeigte einen schwarzen Hintergrund, auf dem stand:
Lies erst die Gebrauchsanweisung, Sky!
Ich blickte mich suchend um.
„In der Schachtel liegt noch was!", stellte Shiva fest und zog einen Umschlag hervor, den er mir in die Hand drückte. Ich riss ihn auf und zog ein handgeschriebenes Blatt von meiner Oma hervor. Staunend las ich mir die ersten Zeilen durch. Ganz oben stand erstmal der Code, mit dem ich das Handy entsperren konnte, und wie man ihn änderte. Ich tippte die Zahlen in mein Handy ... und es öffnete sich!
Als nächstes stand auf dem Zettel, wie ich das Hintergrundbild änderte. Das verschob ich erstmal auf später und las weiter.
Laut meiner Oma sollte ich jetzt in die Telefon-App gehen. Ich wollte gerade auf das kleine Telefonhörer-Symbol klicken, als plötzlich die Tür aufging.
„Hi. Störe ich?", fragte eine Stimme. Die schlanke Gestalt eines Mädchens zeichnete sich vor dem offenen Fenster ab.
„Was machst du hier?", fragte ich überrascht, als ich Leni erkannte.
„Ich wollte mal fragen, ob ich dir Mathe erklären soll. Damit du es nächstes Mal selbst hinkriegst.", erklärte das Habichtsadler-Mädchen. Ich überlegte kurz. Es war schon spät, eigentlich durften wir uns um die Zeit nicht mehr besuchen. Das gab sicher Ärger! Andererseits konnte ich wirklich Hilfe gebrauchen. Und wer sollte es den Lehrern schon erzählen?
„Ja, gerne.", antwortete ich schließlich.
„Was? Das geht nicht! Wenn das die Lehrer mitbekommen...", protestierte Shiva.
„Wer soll es denen denn erzählen? Du petzt doch wohl nicht, oder?", fragte ich meinen besten Freund. Der brummte nur etwas und wandte sich ab. Leni, die mittlerweile einmal um die Hütte und durch die Tür in unser Zimmer gekommen war, grinste mich an.
„Okay. Wo ist dein Buch? Wir brauchen ein paar Beispielaufgaben!"

Eine gefühlte Ewigkeit später glaubte ich endlich, zumindest das meiste verstanden zu haben. Leni konnte wirklich gut erklären, auch wenn sie dauernd Witze über die Aufgabenstellung riss.
Als sie mir alles erklärt hatte, rechnete ich noch ein paar Aufgaben. Eindeutig NICHT meine Lieblingsbeschäftigung!
Als ich mit den ersten Aufgaben durch war, kontrollierte Leni, was ich falsch gemacht hatte.
„Wow, richtig gut! Ich finde keine Fehler mehr!"
„Echt?", fragte ich ungläubig.
„Ja, du hast es endgültig verstanden. War doch gar nicht schwer, oder?", fragte sie zurück.
„Nein!", wunderte ich mich, „Ich hab's echt kapiert! Wow, das ist meinem Vater in acht Jahren nicht gelungen."
Wir kicherten. Aber ich merkte, dass Leni irgendwie nervös war. Wahrscheinlich rechnete sie damit, dass irgendwerreinkam und sie hier erwischte. Shiva hatte damit nichts zu tun haben wollen, also war er raus gegangen, um in 2. Gestalt zu fischen. Leni sah aus dem Fenster. Mittlerweile war es dunkel.
„Es ist so schön draußen. Hättest du Lust auf einen nächtlichen Flug?", fragte sie mich verlegen. Ich überlegte. Mit den Windwalkern war es immer lustig, und im Dunkeln zu fliegen klang nach Spaß. Andererseits musste ich auch nicht nachfragen, um zu wissen, dass so etwas streng verboten war. Ich wurde nervös. Aber so was wollte ich mir natürlich nicht entgehen lassen!
„Okay, gerne.", antwortete ich.
„Cool. Dann komm mit."
Aufgeregt folgte ich Leni nach draußen. Ich war das erste Mal in meinem Leben dabei, die Regeln zu brechen! Okay, vielleicht nicht das allererste Mal. Aber trotzdem aufregend. Wir huschten über die Wiese vor der Schule. Ich kam mir vor wie in einem Agentenfilm. Gemeinsam arbeiteten Leni und ich uns durch das dichte Gestrüpp des Waldes auf der anderen Seite des Rasens.
Ein paar Minuten später kamen wir aus dem Unterholzgekrochen. Suchend sah ich mich um. Wir standen auf einer Klippe, die etwa zehn Meter vor uns abfiel und unten im Meer endete. Was mir allerdings zu denken gab, war, dass außer uns niemand zu sehen war. Wo waren die anderen Windwalker?
„Kommt noch jemand oder...?", wollte ich von Leni wissen.
„Nein.", sagte sie leise, „Wir sind ganz allein."
Ich bekam es mit der Angst zu tun.
Meine Gedanken kreisten, einer gruseliger als der andere. Diese Szene sah aus wie aus einem Horrorfilm! Was wollte Leni hier? Gleich würden irgendwelche Entführer kommen und uns einpacken!
Leni verschwand hinter einem Busch und kam wenig später als braun-weißer, mittelgroßer Adler wieder hervor.
Ich wusste, dass ich mich jetzt auch verwandeln sollte. Gerade so zwängte ich mich in meine Adlergestalt. Als ich es endlich hinbekommen hatte, hüpfte ich aus dem Gebüsch. Leni saß noch immer auf dem kalten Stein der Klippen.
»Hast du schon mal was Verrücktes gemacht?«, fragte sie mich.
»Kommt drauf an«, wich ich aus. Natürlich hatte ich auf unseren Reisen und auf dem Schiff früher sehr viel erlebt, es gab kaum etwas, was ich noch nicht versucht hatte. Zum meinen krassesten Erlebnissen gehörten definitiv das Dorf in Afrika, Haischwimmen in Australien oder die Arktis-Tour, die erst ein halbes Jahr zurück lag.
Aber das war vermutlich nicht das, worauf Leni hinauswollte.
»Komm«, sagte sie zu mir, »Lass uns zusammen etwas WIRKLICH Verrücktes tun!«
Mit diesen Worten hopste sie auf den Rand der Klippen zu. Das sah allerdings ziemlich verrückt aus. Was hatte sie vor?
Ich blieb vorsichtshalber auf Abstand.
»Was wird das, wenn's fertig ist?«, erkundigte ich mich misstrauisch.
Mittlerweile stand das Habichtsadler-Mädchen so nah am Abgrund, dass sie keinen Zentimeter weiter nach vorn gehen konnte, ohne abzustürzen.
»Komm her, Sky. Lass uns fliegen!«, rief sie mir zu.
Ich überlegte. Sie würde mir sicher nichts vorschlagen, was gefährlich war. Oder? Was, wenn ich über der Klippe abstürzte? Quatsch, das würde mir nicht passieren! ...Aber was wenn doch?
Plötzlich entschied ich mich. Meine Instinkte übernahmen die Kontrolle und ich hüpfte einfach zu Leni vor, ohne auf die Klippe zu achten.
Kurz dachte ich darüber nach, einen Panikanfall zu bekommen, bis mir einfiel, was ich gerade war. Meine zweite Gestalt war ein Vogel, ausgestattet mit exzellent funktionierenden Flügeln! Oh man. Und ich hatte Angst davor, irgendwo runterzufallen. Peinlich, aber das musste ja niemand wissen. Unerschrocken warf ich einen Blick über den Rand der Klippe. Im selben Moment bereute ich es, denn es ging dort WIRKLICH tief runter. So schnell ich konnte wandte ich mich wieder ab.
»Was jetzt?«, fragte ich Leni, darum bemüht, nur zu ihr zu schauen und nicht an den Abgrund neben mir zu denken.
»Jetzt springen wir.«, erklärte mir Leni lässig, als ob sie sich alle paar Tage 20m von einem Felsen herunterstürzte.
Wahrscheinlich drückte mein Blick ziemlich genau das aus, was ich gerade dachte:
Etwas wie „Bist du irre?!", denn Leni kicherte leise in meinem Kopf.
»Schau nicht so. Komm. Du wirst sehen, das macht richtig Spaß! Auf drei?«
Während ich noch dabei war, mir eine passende Entschuldigung auszudenken, stellte sie sich direkt an den Rand der Felsen. Mein Schweigen schien sie als ein Ja zu werten.
»Eins!...Zwei!«
Wow, das ging jetzt irgendwie ganz schön schnell. Ich wurde hektisch, sie setzte mich unter Druck. Ließ mir keine Zeit für Panik. In einem Anfall geistiger Ohnmacht stellte ich mich neben ihr auf und ging in die Knie.
Mit einem markerschütternden »DREEEIIII!« Stürzte sich Leni in den Abgrund. Ich hatte nicht mal mehr die Zeit, tief durchzuatmen. Dann ließ ich mich fallen.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt