38: Erkenntnisse

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Ich atmete tief durch, um mich darauf vorzubereiten, was ich gleich machen würde. Es würde megapeinlich werden, ich hoffte einfach, dass meine Mitschüler es nicht falsch interpretierten.
„Äh, Starlight?", fragte ich und versuchte, selbstsicher zu klingen. Sie wirbelte zu mir herum.
„Also, könnte ich dich kurz... sprechen? Allein?", brachte ich hervor, und war erleichtert, dass es wie eine normale Frage klang. Starlight runzelte die Stirn, ihr Blick wurde misstrauisch.
„Klar.", meinte sie, ihr Ton war deutlich kälter geworden. Selbst meinen scharfen Adleraugen wäre der winzige Wink, den sie mit der Hand gab, fast entgangen. Ich sah nicht, an wen er gerichtet war, und auch nicht, was sie damit bezweckte. Alles, was ich sah, waren die Blicke meiner Mitschüler. Neugierige (Sophie, June, Summer), Empörte (Luna, Sisi), Verdutzte (Luan, Nicola, Crowley, Alex) und Eiskalte, Tödliche (Avery).
Doch Starlight setzte sich in Bewegung und winkte mir, ihr zu folgen. Rasch übernahm ich die Führung und wir gingen ein Stück in den Wald hinein. Kaum waren wir außer Hörweite, blieb Starlight stehen. Ich sah, dass sie mir nicht weiter weg folgen würde, obwohl wir noch lange nicht außer Sicht waren.
„Du vertraust mir nicht.", stellte ich fest und zwang mich, Starlight anzusehen.
„Gut erkannt.", meinte sie nur und verschränkte die Arme, „Was willst du von mir? Mich fertigmachen, meine Geheimnisse aus mir herausfoltern und mich anschließend als Druckmittel gegen den Rat verwenden?" Ich wusste nicht genau, ob ich Lachen oder schockiert sein sollte. Sie sagte das so uninteressiert, als würde es ihr jeden Tag passieren.
„Das würde ich als Adler nicht mal schaffen, abgesehen davon, warum ich sowas machen sollte." Sie zuckte mit den Schultern und erwiderte nichts.
„Naja, jedenfalls: Ich muss etwas wissen", erklärte ich ihr. Sie lächelte kalt.
„Wusste ich's doch."
„Was, nein, nicht so!" Sie zog eine Augenbraue hoch, was ultracool aussah.
„Also, was ich meine, ist, dass wir beide vielleicht etwas voneinander wissen müssen", versuchte ich, mich zu erklären.
„Müsste ich nicht wissen, wenn ich etwas von dir wollen würde?", fragte sie mich. Jetzt war ich es, der grinste. Auch wenn es nur ein gespieltes Grinsen war, denn gleich würde ich mich sehr weit aus dem Fenster lehnen müssen.
„Nicht, wenn du nicht weißt, was ich weiß. Zum Beispiel über das, was hier vorgeht.", meinte ich in etwas leiserem, verschwörerischem Ton.
„Ach ja? Und wenn ich dir sage, dass ich darüber bereits genug weiß?"
„Dann lass mich das Gegenteil beweisen." Wieder zog sie eine Augenbraue hoch.
„Na, dann mach mal" Okay, sie hatte angebissen. Jetzt musste ich ihr erzählen, was ich alles herausgefunden hatte.
„Kann ich mich darauf verlassen, dass du es 1. nicht weitererzählst und mir 2. danach auch sagst, was ich wissen will?", versicherte ich mich. Starlight musterte mich von oben bis unten, doch ich ließ mich nicht einschüchtern. Schließlich schnippte sie mit den Fingern, keine Ahnung, wozu, und verkündete:
„Du hast mein Wort, dass ich nichts weitersage." Gut. Hoffentlich würde sie das auch halten. Ich atmete tief durch, legte mir die Worte zurecht und fing an.
Stück für Stück erzählte ich ihr alles, was in den letzten Monaten passiert war... zumindest was die Erpresser anging. Meine eigenen Probleme hatten sie nicht zu interessieren.
„...aber ich habe seit einigen Tagen nichts neues mehr herausgefunden.", schloss ich meine Erklärung. Starlight hatte währenddessen nicht eine Mine verzogen, kurz dachte ich, es hätte nicht geklappt. Doch dann löste sie die verschränkten Arme und ich sah, wie sich ihr Körper ein kleines bisschen entspannte.
„Schön, du hast es geschafft, mir etwas Neues zu erzählen. Weißt du noch irgendetwas wichtiges? Personenbeschreibungen, Erkennungsmerkmale, Namen?", fragte sie.
„Naja, eine lispelt und eine andere klingt ziemlich heiser. Aber sie benutzen wahrscheinlich Codenamen, Jump, Klatsch und der Brand.", erzählte ich.
„Alles klar. Bleibt bei mir.", meinte sie. Ich war positiv überrascht, dass sie vorhatte, ihr Versprechen zu halten. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass sie sofort Johnson anrief und ihm alles erzählte.
„Also... kommt dir irgendetwas davon bekannt vor?", wollte ich wissen. Starlight seufzte.
„Naja. Mein erster Gedanke... nein, aber das kann ich nicht sagen." Was? Jetzt hielt sie ihr Wort plötzlich doch nicht mehr!
„Du hast mir was versprochen!", erinnerte ich sie.
„Ich habe dir versprochen, deine Geheimnisse nicht weiter zu erzählen. Aber zu keinem Zeitpunkt habe ich dir versprochen, dass du auch etwas dafür verlangen kannst.", berichtigte sie. Ich ging im Kopf nochmal das Gespräch durch... und merkte, dass sie recht hatte. Mist.
„Aber... Es könnte wichtig sein!"
„Vielleicht, aber nicht für dich." Das hübsche Mädchen lächelte. Ich war sprachlos.
„Aber, du... das...", leider fiel mir nichts ein, was ich darauf erwidern konnte.
„Pass auf. Es gab besorgniserregende Vorfälle, ich werde mich darum kümmern, die Zusammenhänge herzustellen. Aber du hältst dich da raus, ist das klar?", schärfte sie mir ein. Ich schwieg wütend. Das schien ihr als Antwort zu reichen.
»Und mich solltet ihr nicht vergessen!«, ertönte plötzlich eine Stimme in unseren Köpfen. Ich zuckte zusammen und wirbelte herum, doch zum Glück trat nur eine Nebelparderin aus dem Gebüsch. Luna also. Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, sie hätte alles mitbekommen, was Starlight und ich besprochen hatten.
»Ich bin enttäuscht von dir, Sky. Erst bist du angeblich so dahinter her, mit mir zu sprechen, dann verscheuchst du mich und jetzt ersetzt du mein Wissen gegen das einer Außenstehenden.«, beschuldigte sie mich, ich hörte, wie sauer sie auf mich war.
„Also, ganz ehrlich, ich glaube, diese Zusammenarbeit hier wird mir sehr viel mehr bringen als die mit dir. Du hast doch eh keine Zeit mehr dafür.", knurrte ich. Unfreundlich konnte ich auch! Luna zuckte nur mit dem Ohr.
»Dann viel Spaß und viel Glück.«, meinte sie und tauchte wieder ins Gebüsch ein. Sie verschwand, ehe ich nochmal blinzeln konnte.
„Wer ist sie bitte?", wollte Starlight leicht genervt wissen.
„Luna, Nebelparderin, sieht alles, kennt jeden, weiß alles, was hier passiert." Starlight nickte langsam.
„Mit der solltest du nochmal reden. Die weiß noch irgendwas wichtiges.", behauptete sie.
„Woher willst du das wissen?", fragte ich. Doch Starlight antwortete nicht, sie schlug bereits wieder den Rückweg zur Gruppe ein. Ich folgte ihr wortlos.

„Na dann.", meinte Mrs. Fieldman, als sie an der Spitze der restlichen Erwachsenen wieder aus dem Gebäude kam. Wir waren nicht mehr bei den Klippen gewesen, da sie uns gerufen hatte.
„Wir wollten noch Kaffetrinken, Star, Sisi, kommt ihr mit?", fragte sie. Sisi nickte sofort, doch Starlight schüttelte den Kopf. Ihre Mutter fragte nicht weiter nach, sondern drehte sich um und winkte ihren Leuten, ihr zu folgen. Die Erwachsenen steuerten einen der großen Tische an, die am Waldrand standen. Doch Starlight blieb felsenfest neben uns Schülern stehen.
„Irgendwas stimmt hier nicht.", murmelte sie leise, sodass ich es kaum noch verstand.
„Was denn?" Doch sie antwortete nicht, kniff nur die Augen zusammen. Ich tat es ihr gleich, doch ich konnte um mich herum nichts Verdächtiges entdecken.
„Hoffen wir, dass du dich täuschst.", entgegnete ich also. Doch Starlight bleckte die Zähne, was bei ihr selbst in Menschengestalt gefährlich aussah.
„Ich täusche mich nicht.", flüsterte sie.
Mir wurde kalt. Das hieß, dass wir in Gefahr waren. Ich spürte den Knoten im Bauch, der, den ich immer bekam, wenn es ernst wurde. Das war im letzten halben Jahr deutlich zu oft passiert.
„Ich schau mich mal in der Luft um", beschloss ich nervös. Bevor Starlight etwas erwidern konnte, hatte ich mich auch schon verwandelt; mittlerweile ging das sehr schnell. Ich hatte Angst davor, aufzusteigen, Angst davor, wieder von irgendwem angegriffen und zu Boden gerammt zu werden. Doch ich überwand mich, meine Flügel griffen in die Luft und ich stieß mich kraftvoll ab. Fliegen war ja eigentlich total toll. Wenn ich nur nicht so eine Angst gehabt hätte, etwas zu finden, das mir nicht gefiel, nicht so ein Gefühl gehabt hätte, dass etwas passieren würde.
Was soll das? Ich bin ein Adler, der König der Lüfte! Es gibt wenige Tiere, die es mit mir aufnehmen, sei es aufgrund fehlender Flügel oder fehlender Krallen., versuchte ich, mir selbst Mut zu machen. Mit herzlich wenig Erfolg.
Ich segelte weiter, über die Wipfel der Bäume hinweg. Dabei versuchte ich, mir keine allzu großen Sorgen zu machen, was an der Schule gerade los war, denn mittlerweile sah ich sie nicht mehr. Hoffentlich ging es dort allen gut! Ob ich hätte dableiben sollen? Was, wenn sie mich jetzt gerade brauchten?!
Und wirklich, es war ein Fehler gewesen, wegzufliegen. Aber nicht, weil ich an der Schule gebraucht werden würde. Sondern weil ich mich ganz allein angreifbar machte.
Ich merkte, wie etwas auf mich herabstieß. Mir blieb vor Schreck die Luft weg, ich spürte die scharfen Krallen des Angreifers in meinem Rücken. Meinem Schnabel entwich ein Kreischen, während ich gleichzeitig einen Gedankenschrei losließ. Ich versuchte, mich umzudrehen, doch der andere Vogel war schon weg. Ganz kurz bekam ich einen Blick in ein graues, schmales Gesicht mit böse blitzenden Augen, dann stieß der Falke wieder zu. Diesmal erwischte er mich am rechten Flügel, es fühlte sich an wie ein Messerstich. Ich trudelte, wirbelte herum... doch er war schon wieder ganz woanders. Er war so viel kleiner, so viel flinker als ich. Ich hatte keine Chance, spürte die Krallen und den scharfen Schnabel überall. Vielleicht waren es auch mehrere Angreifer, ich konnte es nicht sagen. Alles, was ich noch merkte, war Schmerz. Ich trudelte herum, als sei ich betrunken, versuchte verzweifelt, auszuweichen. Dennoch traf jeder Vorstoß des Falken sein Ziel. Ich verlor immer mehr an Höhe, während ich versuchte, mich zu konzentrieren, um einen Hilferuf auszustoßen. Doch Krallen und Schnäbel hackten auf mich ein, lenkten mich ab, ließen mich weiter absacken. Ich spürte nur noch scharfe Krallen überall, Wunden, die wie Nadelstiche schmerzten. Blindlings schlug ich um mich, packte mit den Krallen in die Luft... und schaffte es, irgendwas zu erwischen. Es war ein Flügel, ich umkrallte ihn, so fest ich konnte. Ich hatte den Angreifer erwischt! War es jetzt vorbei?
Doch dann spürte ich Blut über meine Krallen laufen und hörte den erschrockenen Schrei des Fremden in meinem Kopf. Ich war gerade dabei, jemanden zu verletzen! Schockiert ließ ich los... und noch im selben Moment wurde mir klar, wie dämlich das war. Doch zu spät, der Falke war wieder frei. Der nächste Angriff saß, ich taumelte, fiel, war jetzt nur noch etwa fünf Meter über dem Boden.
»Hilfe!«, schrie ich, doch ich schaffte es nicht, einen Fernruf daraus zu machen. Jetzt sah ich den Falken, seine eiskalten, bösen Augen, die für einen neuen Angriff Maß nahmen. Dann stieß er wieder zu. Mir war klar, dass es nur eine Lösung gab, doch die war sehr riskant. Aber ich hatte keine Wahl, wieder hackte der Falke auf mich ein. Also senkte ich den Schnabel und ging in den Sturzflug über. Hoffentlich war ich schneller als mein Gegner! Doch als ich zurückblickte, erkannte ich endlich, mit was für einem Tier ich es zu tun hatte: Einem Wanderfalken. Dem schnellsten Vogel der Welt. Dem, der im Sturzflug bis zu 300 km/h erreichte. Ich hatte keine Chance gegen ihn, er drehte ab, ich... Moment mal, er drehte ab?! Warum das?! Ich riss den Kopf wieder herum und da sah ich es. Der Boden war nur noch einen halben Meter entfernt.
Ich spreizte die Flügel, versuchte, abzudrehen, doch ich wusste, dass es zu spät war. Ich kniff die Augen zusammen und bereitete mich darauf vor, volle Kanne auf dem Boden aufzuschlagen.
Doch das passierte nicht. Ich spürte, wie mich etwas packte und herumdrehte. Es gab einen dumpfen Laut, als der, der mich gefangen hatte, rückwärts auf den Boden fiel.
Ich öffnete vorsichtig die Augen und erkannte, dass mich jemand in den Armen hielt. Er hatte mich mit vollem Körpereinsatz vor dem Aufprall bewahrt. Nein, nicht er. Sie. Denn jetzt blickte ich in die wunderschönen, hellblauen Augen eines Mädchens.
„Was ein seltsamer Niederschlag heute.", meinte Starlight trocken. Ich ächzte.
„Ich habe dich schreien gehört und... meine Güte, bist du durch Rosensträucher geflogen?", wollte sie überrascht wissen.
»Es war ein Angriff, ich konnte nicht reagieren, er war viel zu schnell, der Sturzflug war zu knapp und... ja. Danke.«
„Ein Angriff. Von einem Vogel, nehme ich an?"
»Ein Wanderfalke.«, präzisierte ich. Starlight nickte knapp.
„Okay. Nichts gebrochen, nur Schnitt- und Kratzwunden, sobald du dich verwandelt hast, wirst du mit Pflastern vollgeklebt.", kündigte sie mir an. Sie brachte mich zurück zur Schule, wo die Erwachsenen noch immer an ihrem Tisch saßen, und Kuchen aßen, als wäre nichts passiert.
„Mom? Wir bräuchten Pflaster!", rief Starlight zu ihnen hinüber. Ihre Mutter sah auf und grinste – sie grinste! – bei meinem Anblick. Ich hatte gerade keinen Spiegel parat, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich aussah wie ein gerupftes Hühnchen. Oder ein gerupfter Adler oder was auch immer. Mrs. Fieldman wollte aufstehen, doch Mrs. Shygirl hatte mich gesehen.
„Hier bin ich die Krankenschwester, machen sie sich keine Umstände.", erklärte sie, war mit ein paar Schritten bei mir und pflückte mein Adler-Ich von Starlights Armen.
„Danke", meinte sie, klang dabei allerdings seltsam schnippisch. Dann nahm sie mich mit ins Hauptgebäude. Ich war verwundert über ihre schroffe Art gegenüber den Ratsmitgliedern, doch ich beschloss, sie nicht danach zu fragen.
„Wo bist du wieder hineingeraten?", wollte die Sekretärin wissen. Ich seufzte und erzählte ihr das nötigste. Währenddessen verwandelte ich mich, zog mir die Klamotten an, die sie mir gab, und ließ mich verarzten. Starlight hatte recht gehabt, ich bekam dutzende Pflaster. Komischerweise wurde ich diesmal nicht mit Fragen gelöchert, wer mich angegriffen hatte, wieso und was ich noch alles geheim hielt. Es war angenehm, mal nichts sagen zu müssen.

Zum Glück war ich auch nicht allzu schlimm verletzt, sodass die Behandlung nicht sehr lange dauerte. Schon zehn Minuten später verließ ich die Krankenstation wieder.
„Hey Sky!", rief mich plötzlich eine Stimme. Ich wirbelte erschrocken herum, aus Angst, ich würde wieder angegriffen werden. Doch es war nur Starlight. Sie sah sehr ernst aus.
„Keine Sorge, mir geht's gut.", versuchte ich es. Doch sie wirkte nicht beruhigt.
„Ich weiß. Komm." Verwundert folgte ich der Leopardin um die Ecke, wo wir allein waren.
„Hör zu.", bat sie, „Wir fahren gleich wieder, aber vorher..." Sie steckte die Hand in die Tasche und zog einen kleinen, zerknitterten Zettel hervor.
„Hier.", sie hielt ihn mir hin, „Das sind Johnsons und meine Telefonnummern." Was?! Ich blickte auf den Zettel, wo tatsächlich Telefonnummern standen. Warum gab sie sie mir? Langsam nahm ich das Stück Papier entgegen, als wäre es etwas wirklich Wertvolles, Teures. Wahrscheinlich war er das sogar, diese Kontakte zu haben war der Wahnsinn.
„Danke", murmelte ich, unsicher, was ich sagen sollte. Starlight nickte knapp und wandte sich um, um zu den Erwachsenen zurückzugehen. Ich schob das Stück Papier in meine Hosentasche und wollte ihr folgen... doch irgendein Instinkt hielt mich davon ab.
Ich lugte vorsichtig um die Ecke und sah, wie jemand auf die Hütten zulief. Er schaute sich wachsam um, dann sah ich nur noch, wie er hinter der nächstbesten Hütte verschwand. Moment, das war doch Mr. Brand! Was tat er denn hier? Ich schlich vorsichtig näher und schlüpfte ebenfalls um die Ecke. Doch dahinter war niemand. Ich sah mich um, doch ich war allein. Wäre da nicht die Wandler-Ausstrahlung gewesen, hätte ich gedacht, er hätte sich in Luft aufgelöst.
Eigentlich war er der Bruder des Ratsvorsitzenden, seine Stellvertretung. Es war unglaublich unverschämt, ihn zu verfolgen! Dennoch tat ich es. Doch schon hörte ich, wie sich seine raschelnden Schritte im Gras näherten. Gleich würde er um die Ecke kommen und mich sehen! Ich sprang, erreichte einen Türgriff, riss daran und fand mich im Jungsklo wieder. Ohne nachzudenken schloss ich mich in einer Klokabine ein und zog die Beine hoch, damit man mich von außen nicht sah.
Die Schritte wurden lauter, trafen auf Stein, ich betete einfach, er würde nicht merken, dass die Tür des Waschraums offen war. Hoffentlich würde er mich nicht entdecken, dann hätte ich eine Menge zu erklären! Obwohl es mich auch interessieren würde, was er mitten während des komischen Besuchs ganz allein in der Schule zu suchen hatte. Und warum er sich so seltsam umgesehen hatte.
Ich zuckte zusammen, als ich hörte, wie die Tür zufiel. Jemand atmete, ganz dicht neben mir, es war nur eine dünne Tür dazwischen. Ich hielt vor Schreck die Luft an, als ich erkannte, dass Mr. Brand ebenfalls in den Waschraum gekommen war. Ich bewegte mich keinen Millimeter, hoffte einfach, dass er nicht merken würde, dass ich hier war.
„So ein verdammter Drecksbursche", hörte ich ihn knurren. Er klang jetzt nicht mehr so freundlich, bedrohlich oder wütend würde besser passen. Wen meinte er? Etwa einen von uns?! Hatten wir uns nicht gut genug benommen?!
„Aber der wird seine Rache schon noch bekommen." Ein leises Lachen ertönte, das gar nicht mehr nach dem netten Mann von vorhin klang. Ich fühlte mich wie betäubt, doch ich musste es tun. Langsam ließ ich mich zu Boden gleiten, duckte mich auf den gefliesten Boden und spähte durch den Schlitz zwischen Fliesen und Tür. Tatsächlich, da stand er, direkt vor dem Waschbecken. Auf dem Becken neben ihm lag ein grüner Plastikkoffer. Das war doch ein Erste-Hilfe-Set? So eins hatten wir früher auch immer an Bord gehabt. Jetzt zog Mr. Brand einen Verband daraus hervor. Was wollte er damit? Doch nur eine Sekunde später erfuhr ich es, denn da krempelte er sich die Ärmel hoch... und mir blieb die Luft weg.
Sein Arm trug tiefe, blutige Krallenspuren. Als hätte ihn ein Raubvogel dort gepackt. Und nicht nur irgendeiner. Sondern ein Adler.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt