42: Federsträubend

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Es war ein verregneter Freitagabend, ich lag grübelnd auf meinem Bett. Luna behauptete, es ginge ihr gut, aber ich glaubte ihr nicht. Es hatte einen Anschlag auf sie gegeben, sowas steckte man nicht einfach so weg. Es gab so viele Sachen, um die ich mir gleichzeitig Sorgen machen musste! Ich war gerade dabei, alles aufzuschreiben, als plötzlich mein Handy klingelte. Verwundert sah ich, dass es Nele war.
„Ja, hallo?"
„Skyyyyy! Aaaaaah!", jauchzte Nele, so laut, dass ich das Handy ein Stück von mir weghalten musste, um keinen Hörschaden zu bekommen.
„Was ist passiert?!", fragte ich sie besorgt. Nele strahlte mich an.
„ES ist passiert! Endlich! Ich bin soooooo jiiiiiiiiih!", kiekste sie und hüpfte vor Freude in die Luft.
„Okay... ich kann dir nicht ganz folgen. Was ist passiert?", fragte ich verwirrt.
„Skyyyyyy!"
„Ja, so heiße ich, ich weiß!"
„Es ist so... aaaah!" Ich ließ sie erstmal jubelnd durch ihr Zimmer hüpfen und ihre ganze Freude und Energie loswerden, bevor sie sich auf ihr Bett plumpsen ließ. Dann jedoch erlosch ihr strahlendes Lächeln langsam und ihr Blick wurde zweifelnd.
„Aber... was, wenn es nicht echt ist? Was, wenn es nur ein Spiel ist?!"
„Nele, WÜRDEST DU MICH BITTE AUFKLÄREN?!" Langsam wurde ich sauer.
„Sky. Es ist der Wahnsinn! Stell dir das vor!"
„Was soll ich mir denn vorstellen!?"
„Ich habe ihn heute gefragt, ob er mit mir Eisessen geht... und er hat ja gesagt... und dann hat er mich dort die ganze Zeit so angeschaut... und mir einen Eistropfen von der Wange gewischt... und dann haben wir uns geküsst!!!!!!" Aha, langsam kapierte ich, was sie meinte. Es folgte ein weiterer Jauchz-Kreisch-Hops-Anfall, bevor sie sich wieder aufs Bett hockte. Scheinbar war meine große Schwester bis über beide Ohren verknallt.
„Aber... ich weiß nicht, ob er es ernst meint.", erklärte sie dann traurig, „Vielleicht sollte ich mich in Zukunft von ihm fernhalten, vielleicht..."
„Was für ein Unsinn!", unterbrach ich sie, „Wenn du ihn liebst, dann kämpf darum! Ich glaube, wenn du dich in ihn verliebst, kann er nur gut sein." Neles Augen leuchteten auf.
„Meinst du?"
„Auf jeden Fall! Wirf das nicht einfach so weg!", riet ich ihr.
„Hach. Der See glänzt so wunderbar in meinen Augen, ich springe hinein und ich muss keine Angst haben, unterzugehen, denn er schwimmt neben mir und kann mich jederzeit retten, und wir sehen uns an, und dann..."
„Wie lange bist du schon verliebt?!", unterbrach ich sie, um mir weitere Ausführungen ihrer Träume zu ersparen.
„Schon sehr lange. Ich war immer so glücklich, wenn er mich ansieht, dann..."
„Also deshalb warst du so komisch!", schlussfolgerte ich.
„Komisch?! Ich doch nicht!", beschwerte sich Nele, bekam jedoch prompt wieder diesen verschleierten Blick und kicherte albern herum.
„Na dann, freut mich für dich!", meinte ich. Nele schwebte förmlich auf Wolke sieben, in der nächsten Stunde bekam ich noch viele solcher Er-und-Ich-am-See-Geschichten zu hören. Ich selbst kam kaum zu Wort, aber das war okay. So musste ich ihr wenigstens nicht erzählen, was die letzten Tage alles passiert war. Das sie recht gehabt hatte, dass der Rat in Gefahr war, dass sie nicht allmächtig waren, dass es gefährlich werden könnte und so weiter.
Irgendwann legte ich unter dem Vorwand, jetzt noch eine Verabredung zu haben, auf.

„Sky? Sky!", hörte ich plötzlich jemanden rufen. Ich fuhr hoch. War es tatsächlich schon morgen? Müde blinzelte ich in das durchs Fenster einfallende Licht und sah mich um, wer da gerufen hatte. Die Tür flog auf und Shiva kam herein.
„Sky, hier bist du. Ich dachte du wärst schon wach? Leni hat mir gesagt, dass Luan ihr gesagt hat, dass Mrs. Forester ihm gesagt hat, dass Mr. Blackheart dich in seinem Büro erwartet.", erklärte er. Verwirrt stand ich vom Bett auf und gähnte erstmal. Oh Mist, schon neun Uhr! Frühstück konnte ich vergessen. Als ich mich im Spiegel sah, musste ich feststellen, dass meine Haare zerzaust waren. Außerdem war ich noch im Schlafanzug.
„Alles klar, ich geh schon...", murmelte ich, während ich ein T-Shirt aus dem Schrank zog und mir mit den Fingern durch die Haare kämmte.
Fünf Minuten später sah ich wieder einigermaßen präsentabel aus und machte mich auf den Weg ins Hauptgebäude. Ich war etwas nervös, obwohl ich ja gar nichts angestellt hatte. Aber ich fühlte mich trotzdem schuldig und ertappt, auch, wenn ich keinen Grund dazu hatte.
Am Büro angekommen, zögerte ich, anzuklopfen. Erneut erinnerte ich mich daran, dass ich nichts falsch gemacht hatte, dann hämmerte ich gegen die Tür.
„Herein!" Vorsichtig schob ich mich in den Raum und sah mich überrascht um. Denn ich war nicht allein hier. Vor Mr. Blackhearts Schreibtisch standen schon Nicola, Vincent und Sophie, von der die beiden sichtbar Abstand hielten.
„Ah, perfekt, du bist da, dann können wir ja anfangen.", meinte Mr. Blackheart. War das ein gutes Zeichen? Aber er lächelte nicht, also vielleicht doch ein eher schlechtes?
„Also", er faltete die Hände, „Ihr habt ja wahrscheinlich schon davon gehört, was am Mittwoch passiert ist. Und heute morgen hat mich Mrs. Shygirl angerufen, die ja gerade bei Avery im Krankenhaus ist, und mich auf den neusten Stand gebracht." Ich spürte, wie mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, als der Schulleiter nicht weitersprach. War es möglich, dass Avery...?
NEIN!, rief die Stimme in mir. Aber es würde passen. Nicola und Vincent waren aus der Clique und oft bei Avery, Sophie und ich hatten geholfen, sie von dem Felsvorsprung zu retten... Vielleicht fand er, dass wir ein Recht darauf hätten, es zu erfahren, vielleicht...
„Sie hat mir gesagt,", unterbrach der Schulleiter meine Gedanken, „dass es Avery soweit wieder besser geht. Avery wollte, dass ihr vier zu ihr kommt und hat es geschafft, mich zu überzeugen, deshalb bringe ich euch jetzt zum Krankenhaus. Ich habe schon Mr. Darkcloud Bescheid gegeben, damit er uns begleitet, er wird Mrs. Forester ablösen. Wenn ihr nichts dagegen habt, starten wir direkt.", schlug der Schulleiter vor. Mir fiel erstmal ein riesiger Stein vom Herzen. Aber Moment mal, wieso wollte Avery mich und Sophie sehen?!
„Ähm, Mr. Blackheart?", meldete sich die jüngste der Tigerschwestern da auch schon zu Wort, „Ich glaube nicht, dass ich mitkommen sollte. Avery... mag mich nicht so, glaub ich. Solange sie sagen, dass es ihr gut geht, verlasse ich mich darauf und bleibe hier." Wahrscheinlich war das eine gute Idee, am besten, ich nahm mir ein Beispiel an ihr.
„Ich kann mich dem nur anschließen. Avery hasst mich, es wäre besser, ich würde nicht dort aufkreuzen.", meinte ich. Mr. Blackheart runzelte die Stirn.
„Das ist seltsam. Avery hat laut Penny betont, dass sie dich unbedingt sehen will." Was? Warum das denn? Doch ehe mir etwas einfiel, was ich erwidern konnte, wandte sich der Schulleiter ab und sah stattdessen die beiden Windwalker fragend an. Nicola nickte knapp.
„Wir können sofort los, Sir.", erklärte sie, es hätte wirklich nur noch das Salutieren gefehlt. Vincent verschränkte die Arme und nickte ebenfalls. Jetzt kam ich aus der Sache nicht mehr raus.

Es stank. Der Desinfektionsmittelgeruch biss mir in die Nase und ich war froh, dass die anderen – die Erwachsenen eingeschlossen – ebenfalls die Nasen rümpften. Der junge Mann an der Rezeption erklärte uns, wo wir hinmussten, und mahnte uns, nicht zu lange bei Avery zu bleiben, um sie nicht zu überanstrengen.
Schließlich standen wir vor der hellgelb gestrichenen Tür und Mr. Blackheart klopfte an.
„Herein!", ertönte Mrs. Shygirls Stimme von drinnen. Nicola und Vincent drängten sich vor mich, sodass mir die Sicht versperrt wurde, als die Tür aufging, aber es war mir lieber so. Die beiden Windwalker traten ein und ich folgte ihnen zögerlich. Wir befanden uns in einem kleinen Zimmer, ungefähr so groß wie unsere an der Schule. An einer Wand stand eine Art Waschbecken mit ein paar Schränkchen, in der Ecke hockte Mrs. Shygirl mit einem Buch. Sie hatte anscheinend bis gerade eben gelesen. Ich überwand mich und sah das Mädchen an, dass rechts von uns in einem schneeweißen Krankenhausbett lag. Avery sah blass aus, sie trug einen Kopfverband und hatte die Bettdecke bis zu den Schultern hochgezogen.
Dennoch lächelte sie Nicola und Vincent zu und begrüßte sie mit leiser, aber sicherer Stimme. Dann glitt ihr Blick weiter durchs Zimmer... und blieb an mir hängen. Ich starrte zurück, woraufhin sie sich abwandte.
Die Erwachsenen begrüßten sich ebenfalls, fragten Avery, wie es ihr ging, und bekamen sogar halbwegs freundliche Antworten.
„Ich würde gern kurz allein mit Nicola und Vincent sprechen.", bat das Schneeeulen-Mädchen schließlich, wobei es eher wie ein Befehl klang. Die drei Erwachsenen schienen überrascht, willigten aber ein und gingen zurück zur Tür. Ich stand nach wie vor mitten im Zimmer. Mr. Blackheart sah mich fragend an, bis mir auffiel, dass ich ja weder Vincent noch Nicola hieß. Hastig trat auch ich den Rückzug an und schloss die Tür hinter mir. Die Erwachsenen setzten sich im Gang auf grellgrüne Plastikstühle, die so gar nicht zu den pastellfarbenen Türen passen wollten. Aber vermutlich war das den Leuten hier egal.
Es dauerte nur fünf Minuten, bis Nicola und Vincent ebenfalls aus dem Zimmer kamen.
„Avery möchte Sky sprechen. Allein.", erklärte Vincent und schubste mich zur Tür. Ich stolperte vorwärts und sah aus dem Augenwinkel, wie Mr. Blackheart Vincent einen scharfen Blick zuwarf. Doch der sah es nicht, er fixierte mich. Sollte ich zu Avery reingehen? Ganz allein? Ohne irgendwen, der aufpasste, dass sie mir nichts antat?
Unsinn, meldete sich die Stimme in meinem Kopf, sie liegt verletzt im Bett. Da ist nichts mit angreifen. Wahrscheinlich stimmte das. Und jetzt fiel mir auch wieder ein, was ich mich schon die ganze Zeit fragte. Vielleicht würde Avery mir etwas verraten, wenn wir allein waren?
Plötzlich entschied ich mich. So eine Chance bot sich mir nur einmal, ich würde sie ergreifen und einfach hoffen, dass es kein Fehler war. Zögerlich öffnete ich die Tür und schlüpfte ins Zimmer. Avery blickte mir entgegen, ließ mich nicht aus den Augen, während ich mir Mrs. Shygirls Stuhl holte und mich mit etwas Abstand neben sie setzte. Ich erwiderte ihren Blick, ohne zu blinzeln.
„Was willst du von mir?", fragte ich schließlich, als es mir zu blöd wurde.
„Ich will wissen, warum du das getan hast.", zischte Avery im gleichen harten Ton wie immer.
„Was?" Meinte sie, warum ich sie angeblich geschubst oder warum ich ihr geholfen hatte? Oder wieso ich ihre Gedankenschreie ignoriert hatte?
„Du hasst mich.", meinte Avery.
„Ja.", bestätigte ich.
„Du findest meine Denkweise falsch."
„Ja."
„Du würdest mich töten!"
„Nein!" Wir starrten uns an.
„Aber warum?", wollte Avery wissen. Es entstand eine peinliche Stille.
„Warum, Sky?", wiederholte sie, diesmal war ihr Ton... nicht freundlicher, sondern eher... verständnislos. Als könnte sie es sich einfach nicht erklären.
„Weil ich kein Monster bin?! Man sollte nie irgendwem den Tod wünschen, egal, wie sehr man denjenigen hasst.", versuchte ich, mich zu erklären.
„Findest du?", meinte Avery. Ich nickte, woraufhin wieder eine kurze Stille folgte. Sie schien darüber nachzudenken, was ich gesagt hatte.
„Du hättest mich einfach sterben lassen können.", stellte sie kühl fest, „Aber das hast du nicht. Und dafür hast du einen Wunsch frei."
„Wie bei einer guten Fee?", spottete ich und kicherte.
„Fast. Zaubern kann ich nicht.", erklärte Avery ernst.
Wollte ich das? Eigentlich wollte ich möglichst wenig mit ihr zu tun haben, wenn sie mir jetzt auch noch einen Wusch schuldete, würde das eher nicht dazu beitragen.
„Danke, aber ich..." Doch ich unterbrach mich selbst, als mir etwas einfiel, was mich dazu brachte, meine Meinung zu ändern. Keine Ahnung, ob Avery darauf eingehen würde.
„Aber ich weiß schon, was ich mir wünsche.", erklärte ich. Sie zog die Augenbrauen hoch – was mit einem Kopfverband eher nicht empfehlenswert war – und sah mich fragend an.
„Ich hätte gern ein paar Antworten. Aber...", ich wandte mich zu ihr, „von der echten Avery." Sie sah ziemlich entgeistert aus, scheinbar hatte ich es geschafft, etwas auszuwählen, was sie auf keinen Fall tun wollte.
„Aber... warum willst du das?!" Doch ich antwortete nicht, bis Avery schließlich seufzte und die Augen schloss. Sie atmete tief durch, und schließlich sank sie in sich zusammen. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, ihre selbstbewusste Ausstrahlung verschwand. Als sie die Augen wieder aufschlug und meinem Blick begegnete, erkannte ich wieder das ängstliche, verstörte Mädchen, welches sie immerzu versteckte.
„Na dann.", ertönte ihre Stimme, nur viel wärmer als sonst. Sie klang zierlich und verletzlich, und so, als wäre es ihr super unangenehm.
„Okay...", ich brauchte kurz, um das zu verarbeiten, „Also. Drei Fragen. Warum bist du in den Wald gerannt? Warum sprichst du mit Steinen? Warum hast du solche Angst bekommen, als der Krankenwagen losgefahren ist?" Avery wandte den Blick ab.
„Das ist... kompliziert. Du... ich... spreche nicht mit Steinen. Ich habe... ach, es ist einfach... schwierig. ... sieh mich an!" Sie schlug die Bettdecke zurück und ich sah den dicken Gips um ihren linken Fuß, die Schiene an ihrem linken Arm, die Kanüle in ihrer Ellenbeuge und die vielen dünnen Pflasterstrips, von denen immer zwei über kleinere Wunden geklebt waren. Mein Blick glitt zurück zu Averys Gesicht.
„Ich habe mir das linke Bein gebrochen.", erklärte sie, „Den linken Arm verstaucht, den rechten Fuß verdreht, eine Platzwunde an der Stirn und eine am Hinterkopf und unzählige Schürf- und Schnittwunden bekommen." Ich nickte.
„Du hast gesagt, dass meine Familie..., dass sie mich nicht mögen. Und... du hattest recht.", flüsterte Avery. Es warf mich total aus der Bahn, wie betroffen und traurig sie klang.
„Was? Nein, so habe ich das nicht... ich hätte das nicht sagen sollen!", erklärte ich, doch Avery schüttelte den Kopf.
„Sie sind tot, Sky. Und wenn sie wirklich noch irgendwo da oben wären... wenn sie... mich wirklich... lieben würden... wenn sie von oben... auf mich... runterschauen... würden... dann wäre das alles... nie passiert und sie..." Averys Stimme brach. War das eine Träne, die ihr da über die Wange lief? Ich merkte, dass ich mit der Situation hier ziemlich überfordert war, also blieb ich einfach auf meinem Stuhl sitzen und wartete ab.
„Ich habe versucht, mit ihnen zu reden. Aber... du hast es ja gesehen.", meinte sie dann. Ich nickte abermals, wollte sie aber auf keinen Fall unterbrechen.
„Und warum ich Angst bekommen habe... daran ist Mana schuld.", erklärte sie.
„Mana?"
„Mana. Eine Eisbär-Wandlerin aus... meinem Dorf.", sie seufzte und ihre Augen schimmerten erneut verdächtig feucht, „Als mein... Vater... nicht zurückkam... war ich fünf. Und als... meine Mutter und meine Schwester gestorben sind... sieben. Am selben Tag ist auch... ja, sie war so etwas wie meine Oma... gestorben und... auf der Beerdigung... ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich bin im Krankenhaus aufgewacht. Es war... schrecklich. Schmerzen, Angst, so viele Leute um mich herum... ich bin abgehauen und... hab nicht mehr zurückgefunden. Und jetzt bin ich an der Schule... ich hatte mir geschworen, nie wieder an einen Ort aus meiner Vergangenheit zurückzukehren. Naja, hier bin ich, im Krankenhaus." Sie sank tiefer in ihr Kissen. Ich schwieg betreten.
„Und deshalb... kann ich nicht so sein. Ich kann nicht ich selbst sein.", meinte Avery leise, „Sonst würden sie sich von mir abwenden. Und ich darf nicht noch eine Familie verlieren. Das würde ich nicht verkraften."

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt