36: Wie's der Zufall will

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Ich dachte noch lange darüber nach, was Alex gesagt hatte. Woher wusste er, dass dieses Weihnachten so toll werden würde? Kannte er meine Oma oder so? Hm. Damit ich dieses Weihnachten toll fand, musste auf jeden Fall einiges passieren. Das Erste, was Gutes passieren könnte, wäre, wenn mein größter Wunsch in Erfüllung gehen würde. Ich wünschte mir ein eigenes Boot. Natürlich erstmal kein großes, eher eine Art Sportboot. Dafür sparte ich schon seit Jahren, es wäre wirklich toll, wenn ich es endlich bekommen könnte. Dann würde es vielleicht wirklich richtig cool werden!
Oder wir machten irgendeinen schönen Ausflug, das könnte auch lustig werden. Aber ich glaubte nicht daran, dass so etwas passieren würde. Ich packte noch ein Buch ein, das ich vor Kurzem in der Bücherei ausgeliehen hatte, und schaffte es sogar noch, einen kleinen Zeichenblock in den Rucksack hineinzuquetschen. Ich hoffte auf ein bisschen Ruhe nach den anstrengenden Schulwochen, obwohl es nicht der Unterricht war, der mich auslaugte. Aber die ganzen Streitereien zwischen den Schülern und die Sache mit den Erpressern hatten mir echt zu schaffen gemacht. Ein paar Tage Ruhe klangen jetzt perfekt. Einfach ein bisschen entspannen, ausruhen, nichts tun. Kurz mal durchatmen, bevor es wieder losging.
Doch bevor ich dazu kam, mir meine freien Tage auszumalen, hörte ich plötzlich, wie jemand an der Tür klopfte. Wer konnte das denn sein? Die meisten waren doch schon zu ihren Familien aufgebrochen oder packten gerade!
„Herein!", rief ich. Die Tür schwang langsam auf, ohne dabei auch nur ein einziges Geräusch zu machen. Ich sah ihr misstrauisch zu, aber niemand trat ein. Kurz kam ich mir vor wie in einem Horrorfilm. Es blieb still, dort war niemand.
„Hallo?", fragte ich vorsichtig, man hörte die Angst in meiner Stimme.
„Hi", hauchte jemand. Ein schüchternes Mädchen lugte ins Zimmer. Ihre blauen Augen blinzelten mich fröhlich an, dann schlich Luna zu mir hinein und blieb zögernd vor meinem Bett stehen.
„Hast du kurz Zeit?", fragte sie mit der üblichen leisen Stimme. Ich hatte das Gefühl, sie konnte gar nicht laut sein, nicht mal wenn sie es gewollt hätte.
„Naja, kurz schon.", erklärte ich, nicht ganz so begeistert. Schließlich würde meine Oma bald kommen. Luna jedoch nickte, ließ sich neben mir aufs Bett fallen und kam zum Glück direkt zum Punkt, ohne viel Zeit zu verlieren.
„Also, wir müssen dringend mal darüber reden, was wir alles herausgefunden haben." Moment mal, was? Sie wollte mit mir reden? Aber... die letzten Wochen hatte sie das Gespräch doch immer verweigert?!
„Was? Wieso jetzt?", rutschte es mir raus. Luna runzelte die Stirn.
„Naja, jetzt habe ich dich endlich mal erwischt.", erklärte sie. Sekunde, was hatte sie da gesagt? Sie hatte mich endlich erwischt?!
„Wie bitte? Du bist doch die ganze Zeit vor mir weggelaufen!", erinnerte ich sie.
„Bin ich nicht!", behauptete sie. Kurz fragte ich mich ernsthaft, ob sie ihre Erinnerungen der letzten Wochen verloren hatte. Wo sie mir immer gesagt hatte, ich würde die Augen vor der Wahrheit verschließen, ich würde nie erfahren, was hier passierte, ich wäre zu selbstsüchtig, um die Zusammenhänge zu erkennen. Ich spürte die Wut in mir aufsteigen, als ich an die beleidigenden Worte dachte, doch ich drängte sie zurück.
„Du wolltest nicht mit mir reden, du hast mir immer nur erklärt, ich wäre zu doof dafür!", erinnerte ich Luna säuerlich.
„Das habe ich nie gesagt!", beschwerte die sich. Also, das stimmte ja jetzt vorne und hinten nicht mehr!
„Hast du doch! Und dann bist du weggerannt."
„Das stimmt nicht! Ich habe gewartet, ob du noch was sagst, aber du hast nur wütend gekuckt. Also bin ich gegangen, um dich in Ruhe zu lassen!"
„Was für ein Quatsch! Du wolltest nicht mit mir reden!", unterstellte ich ihr.
„Gar nicht wahr! Ich gehe eben hin, wo ich will!", verteidigte Luna sich. Ich schnappte nach Luft.
„Ich habe auch nichts anderes behauptet!", empörte ich mich.
„Habe ich doch gar nicht gesagt!"
„Aber gedacht!"
„Woher willst du das wissen?!"
„Man sieht es dir an!"
„Bist du jetzt plötzlich der Mädchenexperte, oder was?!", regte sie sich auf.
„Was? Nein, ich... du... das habe ich nie behauptet!", verteidigte ich mich.
„Stimmt, du kommst ja nicht mal mit 'ner Eule klar!", meinte sie schnippisch. Zuviel war zu viel.
„Du hast doch keine Ahnung!", rief ich aus.
„Nein, du hast keine Ahnung!", entgegnete sie, „Du willst nicht wissen, was hier passiert! Du siehst nur, was du sehen willst!"
„Warum kommst du dann her? Nur um mich zu ärgern?!", schnauzte ich sie an.
Da sprang Luna auf. Mit einer einzigen fließenden Bewegung war sie an der Tür.
„Schade. Ich hatte gedacht, du wärst darüber hinweg." Und bevor ich noch etwas sagen konnte, huschte sie davon.
„Miese Elster!", knurrte ich ihr halblaut hinterher. Ich wusste, dass sie es trotzdem gehört hatte.

Es war ein schreckliches Gefühl, allein zu sein. Nachdem ich mich beruhigt hatte, war mir klar geworden, dass ich vielleicht ein kleines bisschen überreagiert hatte. Und, dass ich mich bei der Katzenclique erstmal nicht blicken lassen sollte. Luna war sicherlich längst bei ihnen gewesen, um sich ausgiebig über mich zu beschweren und ihnen zu sagen, dass sie sich ab jetzt von mir fernhalten sollten. Die Frage war, was ich jetzt machen sollte. Und zu allem Überfluss hatte ich gerade eine Nachricht von meiner Oma bekommen, in der sie schrieb, dass sie doch erst um 17Uhr kommen konnte, da sie noch etwas zu tun hatte.
Jetzt musste ich mich also weitere zwei Stunden beschäftigen, ohne das irgendwer etwas mit mir zu tun haben wollte. Zwei Stunden konnten lang sein, das wusste ich. Vor allem, wenn man niemanden hatte, der etwas mit einem machte. Ich hatte natürlich schon versucht, Nele zu erreichen, aber sie war nicht rangegangen. Wahrscheinlich feierte sie gerade mit tonnenweise Freunden Weihnachten und dachte nicht mal mehr an mich. Vielleicht sollte ich auch einfach versuchen, sie zu verdrängen.
Und kaum hatte ich das gedacht, kam mir eine Idee, was ich jetzt machen könnte. Avery war nach der Geschenkausgabe nicht direkt in die Hütte gegangen. Aber gerade sah ich durchs Fenster, und erspähte das Schneeeulen-Mädchen ein paar Hütten weiter. Scheinbar war sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer. Das war die perfekte Gelegenheit für mich, herauszufinden, wie sie auf mein Päckchen reagierte!
Ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, also sprang ich in meine Schuhe und flitzte hinaus auf die Wiese. Ich war flinker denn je, rannte zwischen den Hütten hindurch und kam gerade noch rechtzeitig an Averys an. Durchs Fenster sah ich, wie sie sich an ihren Schreibtisch setzte. Der stand zum Glück so, dass sie schräg von mir wegschaute, aber ich gerade noch sehen konnte, was vor ihr stand. Es war meine rote Schachtel, noch komplett eingepackt. Doch jetzt fing Avery an, daran herumzuknibbeln. Ich sah, dass sie das Papier nicht einfach zerreißen würde, sondern es vorsichtig öffnete. Sodass man es wiederverwenden konnte? Doch ich vergaß alles, als sie den Deckel der Schachtel abnahm. Jetzt kam es drauf an! Ich hielt die Luft an, und es passierte... nichts. Avery schaute einfach nur hinein. Sie bewegte sich nicht, schrie nicht, jubelte nicht, fuhr nicht wütend herum, um mich zu verprügeln. Sie starrte einfach nur. Dann hob sie langsam den Arm und nahm das Bild aus der Schachtel. Wieder geschah eine ganze Zeit lang nichts. Sie sah es sich einfach nur an, so, als wäre es ein ihr ein einziges großes Rätsel.
Ich drehte vor Aufregung fast durch. Würde sie die Sprüche auf der Rückseite noch entdecken? Was würde ihre Reaktion darauf sein? Was sie wohl gerade dachte? Etwas wie Wow, krasse Zeichnung oder eher Wer auch immer das war, den mach ich fertig!? Ich hätte es so gern gewusst. Aber ich war noch zu unerfahren, um Gedanken zu lesen, und vielleicht hatte ich auch gar nicht das Talent dazu. Aber es gab Momente wie diesen, in denen ich mir einfach nur wünschte, es zu können. Immerhin drehte Avery das Blatt nun um. Ich hibbelte herum, während sie die Sprüche las. Was würde sie dazu sagen? Würde sie es zerfetzen?!
Doch sie schien wie erstarrt. Sah es sich an, schien durch das Blatt hindurchzuschauen. Dann legte sie es langsam wieder in die Schachtel zurück. Sie schloss den Deckel und legte beide Hände darauf. Schließlich stand sie auf, nahm das Päckchen und legte es in ihre Schreibtischschublade. Ich sah, wie sie sie abschloss und den Schlüssel unter ihr Kopfkissen steckte. Averys Blick streifte durch den Raum, ich vergaß, mich zu ducken... doch sie sah mich nicht. Ihr Blick ging ins Leere, sie schien völlig in Gedanken versunken, als sie sich Schuhe überzog und anschließend die Hütte verließ.
Was war denn jetzt los? Wo wollte sie hin? Sollte ich hinterher? Doch ehe ich mich entschieden hatte, war das Schneeeulen-Mädchen lautlos im Wald verschwunden.

„Hi Oma!", rief ich und winkte dem kleinen roten Auto zu, das vor mir auf den Parkplatz fuhr. Meine Oma stieg aus, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit braunem Pferdeschwanz, in den sich bereits das erste Grau einschlich.
„Hallo Sky. Schön, dich wiederzusehen!" Ich freute mich mindestens genauso doll. Dennoch spürte ich das inzwischen allzu vertraute Ziehen in der Brust, das Gefühl von Heimweh, von Sehnsucht. Ich vermisste meine Familie Tag und Nacht, aber heute mehr denn je.
Meine Oma nahm mir mit einem aufmunternden Lächeln den Rucksack ab, als wüsste sie genau, was ich gerade dachte. Sie öffnete den Kofferraum und währenddessen stieg ich vorne ein und schnallte mich schonmal an, noch etwas, was ich im letzten halben Jahr gelernt hatte. Auf dem Boot hatte ich es seltsam gefunden, sich mit einem schwarzen Band an einem Stuhl festmachen, aber mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt.
„Also, wohin solls gehen?", fragte meine Oma scherzhaft, als sie sich neben mich ans Lenkrad hockte. Ich seufzte.
„Jenner, bitte."
„Okay, ich dachte du sagst nach Hause", erklärte sie und startete den Motor. Ich erwiderte nichts. Mein Zuhause war die Wavebird Star, und daran würde sich nichts ändern. Aber meine Oma nahm es mir zum Glück nicht böse, sie war heute sehr gut drauf. Also drehten wir das Radio auf und brausten los. Diesmal kreischte ich nicht wegen des Tempos, ich hatte das Gefühl, mich allmählich daran zu gewöhnen.

Eine Stunde später kamen wir am Haus meiner Oma an. Der gelbe Kasten wirkte im Vergleich zur Redcliff High winzig, anders als bei meinem ersten Besuch hier, als ich es riesig gefunden hatte. Aber es war natürlich immer noch dasselbe Haus wie vorher, wie ich feststellte, als ich in den Flur trat. Er sah noch genauso aus wie vor einem halben Jahr, der einzige Unterschied war, dass im Schuhregal jetzt wärmere Schuhe standen als noch im Sommer, als ich hergekommen war. Ich stellte meine Schuhe daneben.
„Also...", fing meine Oma an, „könntest du die nächste Stunde im Zimmer bleiben? Dann kann ich hier unten in Ruhe was vorbereiten." Sie zwinkerte mir zu. Ich nickte, ich hatte nichts gegen ein bisschen Ruhe nach den stressigen letzten Wochen.
Es war schon fast 18Uhr, die Fahrt hatte länger gedauert als letztes Mal, da es viel Verkehr gegeben hatte. Also schätzte ich, dass sie das Essen noch fertig machen und vielleicht sogar ein paar Geschenke vorbereiten wollte.
Ich schlenderte langsam die Treppen hoch, auf dem Flur an den ersten drei Türen vorbei und dann in das Zimmer, das nach wie vor für mich bereitstand. Ich schloss die Tür, damit meine Oma Ruhe hatte, und zog ein paar Sachen aus meinem Rucksack. Das Buch, das ich mir aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, war echt spannend, ich hatte es erst bis zur Hälfte gelesen. Und ehe ich mich versah, lag ich mitsamt Buch auf meinem Bett und war komplett in die Geschichte abgetaucht.

Ich vergaß alles um mich herum, bemerkte nichts mehr, was in der echten Welt geschah. Ich wurde erst aus meiner Welt gerissen, als plötzlich die Tür aufging.
„Sky? Ah, du liest. Ich weiß, ich störe, aber du wirst mir dafür danken. Komm mal mit runter.", bat sie mich.
„Hä?", machte ich. Richtig intelligente Antwort, ich weiß, aber was war denn jetzt los? Irgendwie gefiel mir nicht, wie gespannt und erwartungsvoll sie mich ansah. Musste ich jetzt irgendwas aufsagen oder vorspielen oder so? Unsicher stand ich auf und legte das Buch auf meinen Schreibtisch.
„Was machen wir?", wollte ich wissen, doch meine Oma presste den Finger an die Lippen.
„Psssst! Ab hier wird nichts mehr gesagt!", flüsterte sie. Na schön, sie war meine Oma, also beschloss ich, ihr einfach zu vertrauen, und schwieg. Wir gingen die Treppe runter, durch den Flur und an der Küche vorbei. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich das leckere Essen sah, das dort auf dem Herd brutzelte. Aber scheinbar war es noch nicht fertig.
Meine Oma winkte mir wortlos, weiter mitzukommen, und ich trottete hinter ihr her. Eigentlich hatte ich Hunger, ich hatte mich schon aufs Essen gefreut. Aber vorher kam noch irgendwas anderes, ich spürte die Anspannung in der Luft. Hoffentlich musste ich nichts vorführen oder so! Oder aber... plötzlich kam mir eine Idee, eine Hoffnung, eine Vorfreude, die ich nicht mehr unterdrücken konnte. Denn ich wünschte mir ja schon so lange ein eigenes Sportboot. Was, wenn das der Moment war, in dem mein größter Wunsch in Erfüllung ging? Vielleicht würde ich gleich in den Garten hinaustreten, und da würde es stehen, ein kleines, schnittiges...
Vor lauter Denken wäre ich fast in meine Oma reingelaufen, die plötzlich stehen geblieben war. Ich öffnete den Mund, um zu fragen, was los war, aber sie presste nur wieder den Finger an die Lippen, um mir zu sagen, dass ich still sein sollte. Ich spürte, wie es in mir kribbelte, so angespannt war ich. Plötzlich trat meine Oma zur Seite und machte eine einladende Bewegung in Richtung Wohnzimmer. Es war mit einer halb durchgezogenen Wand von der Küche abgetrennt, weshalb ich nicht sehen konnte, was darin auf mich wartete. Wir gingen also nicht in den Garten? Andererseits – mit ein bisschen Mühe passte so ein Sportboot vielleicht sogar ins Wohnzimmer.
Meine Oma wiederholte die Geste, da ich mich immer noch nicht bewegte. Zögernd machte ich einen Schritt auf die Trennwand zu. Was sollte ich sagen, wenn es wirklich ein Boot war? Dann jedoch siegte meine Vorfreude und ich sprang ins Zimmer.
Kaum sah ich, was vor mir stand, erstarrte ich. Von einer Sekunde auf die andere fühlte ich mich wie betäubt, als hätte mir jemand die Gefühle ausgeknipst. Ich vergaß zu atmen, hörte nicht mehr zu, was meine Oma sagte. Konnte das wirklich wahr sein? Ich wusste nicht mehr, was um mich herum geschah, fokussierte mit Tunnelblick das, das vor mir stand.
„Na, Überraschung gelungen?", fragte meine Oma, ich hörte sie wie durch eine Wattewand.
„Ja.", flüsterten ich und Nele gleichzeitig. Dann fielen wir uns in die Arme.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt