29: Zeit für Ordnung

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„Hey, Sky!" Ich hätte mich am liebsten irgendwo verkrochen, als ich Leni auf mich zukommen sah. Den ganzen Rest des gestrigen Tages hatte ich sie nicht mehr gesehen. Doch gleichzeitig spürte ich, wie die Wut wieder in mir hochstieg. Sie hatte einfach danebengestanden, als Avery Yuna angegriffen hatte. Wahrscheinlich hatte es ihr sogar Spaß gemacht, sie so zu sehen, schließlich verstand ich mich zu Lenis Ärger besser mit Yuna als mit ihr.
„Was ist?", fragte ich, um einen freundlichen Ton bemüht. Trotzdem klang ich unendlich genervt.
„Nichts. Ich wollte nur..." Doch bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach ich sie.
„Wenn es nichts ist, dann hau wieder ab!", schnauzte ich sie an. Leni zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Sky, was...", stammelte sie, offensichtlich verwirrt und verletzt von meiner Reaktion.
„Du hast mir gesagt, dass du gegen Avery bist, ja?", zischte ich, „Aber wenn es um Yuna geht, bist du plötzlich ganz anders! Wie schrecklich es für dich sein muss, zu sehen, dass ich mit ihr glücklich bin!" Leni sah mir nicht in die Augen.
„Das ist nicht wahr!", meinte sie, schon deutlich leiser als vorher, „Ich... finde es gut, dass du... glücklich... bist."
„Ach bitte. Du bringst es ja kaum raus.", schnaubte ich verächtlich. Ihr verzweifelter, verletzter Blick war mir egal, ich war zu wütend auf sie, um das an mich ranzulassen.
„Ernsthaft, du willst einfach nur nicht, dass sie und ich befreundet sind!"
„Genau. Ich weiß, was Yuna für ein Spiel spielt. Du bedeutest ihr nichts. Sie..."
„Und du bedeutest mir nichts!", rief ich aus und stapfte davon, bevor sie noch etwas erwidern konnte. Das war echt das letzte! Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Lenis Schluchzen ließ mich kalt. Zumindest beinahe.

Leni sprach nicht mehr mit mir. Das überraschte mich nicht sonderlich, im Gegenteil, ich war sogar sehr erleichtert darüber. Noch war ich sauer auf das Habichtsadler-Mädchen, also wollte ich erstmal nichts von ihr hören. Aber trotzdem tat es mir ein bisschen leid, auch wenn ich versuchte, dieses Gefühl zu ignorieren.
„Guten Morgen!", unterbrach Mr. Blackheart meine Gedanken. Er hatte uns an diesem Sonntagmorgen alle in der Aula zusammengetrommelt, um etwas anzukündigen.
„Zunächst einmal: Hierbei geht es leider nicht um den Schüleraustausch. Dazu gibt es noch keine neuen Entwicklungen. Ich wollte euch ein paar Sachen zum Weihnachtsfest sagen. Zuallererst: Wir werden an Heiligabend gemeinsam feiern, alle, die noch nicht zu ihren Familien aufgebrochen sind. Aber davor hatte ich noch eine Idee: Was haltet ihr von einer Wichtelaktion?", fragte er uns. Wir würden wichteln? Ich war sofort begeistert von der Idee. Andere jedoch nicht.
„Sie meinen, wir sollen... Wichtel einfangen gehen? Aber... das ist richtig gemein!", beschwerte sich Luna empört. Ich musste mir das Lachen verkneifen, als ich die ernsten Mienen von Kiki, Bumble, Summer und Amy sah. Mr. Blackheart schüttelte grinsend den Kopf.
„Nein, das meinte ich nicht", erklärte er, „eine Wichtelaktion bei den Menschen bedeutet, dass jeder einen Zettel zieht, auf dem steht, wem er ein kleines Geschenk besorgen soll. Und dann muss man sich was Gutes überlegen, was demjenigen gefallen könnte, ohne, dass man ihm sagt, dass man ihn gezogen hat." Luna stieß erleichtert die Luft aus.
"Und ich dachte schon, ich hätte was nicht mitbekommen!"
„Nein nein, ich würde niemals wen einfangen gehen", versicherte unser Schulleiter. Nachdem er das klargestellt hatte, sahen schließlich alle aus, als wären sie dafür.
„Also. Wer will mitmachen?" Ich jubelte, als alle unsere Hände gleichzeitig in die Luft schnellten. Mr. Blackheart schien sehr zufrieden.
„Super. Dann würde ich sagen, wir losen Morgen im Unterricht aus. Mrs. Shygirl wird dann zu euch kommen. Ich habe für Weihnachten auch schon einiges geplant, das seht ihr dann. Bitte gebt mir bis übermorgen Bescheid, ob ihr in den Ferien nach Hause fahrt oder nicht. Für alle, die hierbleiben, haben wir einen fünftägigen Ausflug geplant. Mehr dazu in zwei Tagen. Außerdem noch eine Sache: Wenn ihr irgendwelche Ideen habt, wie wir feiern können, kommt gern zu mir und dann schauen wir, wie wir das umsetzen können. Okay?", schloss der Schulleiter.
„Jaaa!"
„Juhu!"
„Yeah!", schallte es durch die Aula. Kaum waren wir wieder draußen, fingen alle an zu diskutieren. Was Mr. Blackheart wohl für uns geplant hatte? Ich hatte eh vorgehabt, in den Ferien hierzubleiben, und jetzt war ich noch gespannter auf das Programm. Es war nur noch eine Woche bis Weihnachten! Wen ich wohl ziehen würde? Hoffentlich nicht Leni! Victor oder Vincent wären aber auch nicht so gut.

Dasselbe wiederholte ich immer wieder, als Mrs. Shygirl am nächsten Tag in der Verwandlungsstunde mit einer Schüssel voller Zettel in den Klassenraum kam, den wir im Winter anstelle der Waldlichtung nutzen. Die ersten zogen ihre Zettel. Ich sah June nach Luft schnappen und hoffte, dass sie Victor oder Vincent gezogen hatte, da sie nicht sehr beliebt waren. So könnte ich sie nicht mehr bekommen. Als Mrs. Shygirl vor meinem Tisch ankam und mir die Schüssel hinhielt, schickte ich ein letztes Stoßgebet zum Himmel.
Bitte nicht Leni, Victor oder Vincent! Dann versenkte ich meine Hand in der Schüssel und zog einen der Zettel heraus. Ich faltete ihn auf – und erstarrte. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Meine Wünsche waren erfüllt worden. Doch ich hatte mir nicht das richtige gewünscht. Ich starrte auf den Namen, den Mrs. Shygirl aufgeschrieben hatte.
Avery. Innerhalb von zwei Sekunden hatte sich meine Einstellung zu dieser Wichtelaktion komplett ins Negative umgekehrt. Konnte ich mich irgendwie wieder abmelden?
„Alles klar, dann habt ihr jetzt alle eure Zettel. Einige von euch sehen... nicht so glücklich aus. Nur nochmal zur Erinnerung: Irgendwer hat auch euch gezogen. Würdet ihr wollen, dass euch euer Partner keine Mühe gibt? Oder sich wünscht, jemand anderen zu haben?", redete uns Mrs. Shygirl ins Gewissen. Ich versuchte, mir das nicht vorzustellen, doch ich merkte, dass mein Ärger abflaute. Außerdem hatte ich sowieso eine bessere Idee.
Was konnte ich der Anführerin der Windwalker schenken, worüber sie sich so richtig ärgern würde?

Am Abend bekam ich zufällig mit, wie Patrik und Vera mit Bumble besprachen, was sie später zu ihrer Party mitbringen würden. Es versetzte mir einen Stich zu hören, dass sie feiern würden. Ohne mich. Aber schließlich war das meine eigene Schuld und ich bereute meinen Austritt noch immer nicht. Zumindest nicht doll genug, um wieder einzusteigen.
Außerdem hatten mir die drei einen perfekten Zeitpunkt verschafft, um Avery zu beobachten und herauszufinden, was sie mochte und was nicht.
Als die Windwalker ankamen und anfingen, die ganzen Snacks und Getränke auf den Tischen aufzubauen, saß ich gut verdeckt und gegen die Windrichtung im Gebüsch. Bumble drehte die Musik auf, Vincent schleppte Colaflaschen an und mir wurde immer schwerer ums Herz. Es war keine vier Wochen her, dass ich mit meinen Freunden auf dieser Lichtung gefeiert hatte. Aber das war Vergangenheit. Ich schüttelte diesen Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich wieder auf Avery. Sie stand am Rande der Lichtung und ließ zufrieden den Blick über ihre feiernden Leute schweifen. Vincent kam und bot ihr eine Limo an, die sie aber ablehnte. Mochte sie die nicht? Aber vielleicht hatte sie auch einfach keinen Durst. Mir kam fast das Abendessen hoch, als ich sah, wie Shiva auf sie zuging. Er kam von der Seite und strich sich noch schnell das Haar glatt, bevor seine Anführerin sich zu ihm umwandte. Scheinbar wollte er ihr beweisen, dass er total nett war und es keinen Grund gab, ihn wegen irgendwas zu bestrafen oder so. Ich ballte die Fäuste. So tief waren sie gefallen. Jetzt war es ein Wettbewerb, wer am bravsten war.
Die beiden unterhielten sich kurz, dabei lächelte Shiva die ganze Zeit und verhielt sich schrecklich unterwürfig. Er nickte immer, wenn Avery etwas sagte, und stimmte ihr dann zu. Wenn sie über ihn den Kopf schüttelte, konnte ich sogar aus der Entfernung erkennen, wie mein bester Freund hektisch zurückzurudern versuchte.
Doch schon nach ein paar Minuten hatte Avery scheinbar genug und wedelte mit der Hand, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Wäre Shiva ein Hundewandler gewesen, hätte er sich jetzt mit eingezogenem Schwanz und gesenktem Kopf davongemacht. Er huschte durch die Menge, ich sah ihn schon kurz darauf nicht mehr, weil ich immer noch Avery im Auge behalten wollte. Doch die nächsten zehn Minuten passierte nichts mehr. Neben mir hörte ich eine Mücke herumsurren, doch ich konnte nichts dagegen tun, ohne entdeckt zu werden.
Nach weiteren zehn Minuten tat mir allmählich der Rücken weh. Ich hatte einen juckenden Mückenstich am Arm und die Sekunden zogen sich wie Kaugummi. Außerdem war mein linkes Bein eingeschlafen. Ich wollte gerade versuchen, weg zu humpeln, als Avery plötzlich die Augen aufriss. Sie hob eine Hand und die Musik verstummte. Ich folgte ihrem eiskalten Blick zur anderen Seite der Lichtung. Sie stierte einen Jungen an, der sich eine Coladose nehmen wollte und mitten in der Bewegung erstarrt war. Er sah ziemlich ertappt aus und konnte nur zurückblinzeln.
„Was machst du hier?!", rief Avery und lief los, die Menge teilte sich vor ihr und kam wieder zusammen, um sich hinter ihr aufzubauen.
„Äh... feiern?", schlug der Junge vorsichtig vor. Als ich langsam näher kroch, konnte ich ihn an den fettig-braunen Haaren erkennen. Es war Timur, der Otter-Wandler.
„Wer hat ihn hergebracht?!", schrie Avery in die Menge hinter ihr. Niemand rührte sich.
„Du wirst jetzt...", setzte sie an Timur gewandt an.
„Nein! Avery, bitte. Ich habe ihn eingeladen." Bumble wuselte hinter den Leuten hervor und reckte den Arm hoch. Ich fand es echt edel von ihr, sich zu melden, aber gleichzeitig wünschte ich mir für sie, sie hätte es nicht getan.
„Ich dachte, das wäre okay. Tut mir leid, kommt nicht wieder vor.", versprach das Hummel-Mädchen. Wenn Blicke hätten töten können, wären Timur und sie längst am Boden gelegen, so, wie Avery schaute.
„Darüber reden wir noch, Bumble", spie sie aus, „Timur – wenn ich bis drei gezählt habe und du dann immer noch hier bist, schmeiß ich dich in den Pool! Eins."
Timur war verschwunden, bevor wir nochmal blinzeln konnten. Wahrscheinlich eher weniger wegen der Sache mit dem Pool, schließlich war er ein Wassertier. Aber wer einmal Averys geballten Zorn entgegenbekommen hatte, wollte so etwas nie wieder erleben.
„Sieht aus, als bräuchte hier jemand ein bisschen Nachhilfe in unseren Regeln." In Averys Stimme lag eiskalte Grausamkeit. Ihre Leute beeilten sich, aus der Schusslinie zu kommen, sodass um Bumble herum schnell viel Platz war..
„Also.", Avery wandte sich an Bumble, „Brauchst du ne kleine Lektion?" Auf ein Zeichen rückten Vincent und Victor vor.
„Nein, brauch ich nicht. Ich dachte es wäre okay, war es aber nicht. Das habe ich verstanden." Bumble versuchte, ruhig zu bleiben, doch ich bemerkte, wie ihre Hand zitterte. Vincent packte sie am T-Shirt, als sie zurückwich.
„Ach ja? Weißt du, was mir immer gesagt wurde? Strafe muss sein. Und wieso? Damit man es sich merkt und es sich auf keinen Fall wiederholt." Bumble versuchte, sich aus Vincents Griff zu befreien, doch Victor schnappte sich ihr Handgelenk und verdrehte es.
„Meinst du nicht, das ist Lektion genug?", presste sie heraus, während sie sich bog, um sich wieder zu befreien. Einige Windwalker senkten die Köpfe.
„Tatsächlich...", Avery tat grinsend, als müsse sie überlegen, „...nicht." Sie schien ihre Rolle als Mächtige Chefin richtig zu genießen. Victor drehte ihr den Arm auf den Rücken und Vincent trat, ohne sie loszulassen, zur Seite. Avery kam ganz nah an Bumble heran, bis sie nur noch wenige Zentimeter von deren Gesicht entfernt war. Sie beugte sich über das rundliche, eher kleine Mädchen und zischte ihr zu:
„Ist es jetzt klar?" Ihre Stimme war schneidend scharf und eiskalt. Ich krümmte mich innerlich.
„Ich verstehe zwar nicht, was du dagegen hast, dass er hier ist, aber ich wird mich dran erinnern", versprach Bumble und ich sah ihr die Angst an. Avery scheinbar auch, denn sie witterte ihre Chance, ihre Clique ein für alle Mal in die Schranken zu weisen.
„Du verstehst es nicht?!", wiederholte sie in unheilvollem Ton und trat einen Schritt zurück.
„Das sind Landtiere! Sie sind unwürdig!", rief sie dann. Victor verdrehte Bumbles Arm immer weiter.
„Sie sind verräterisch! Sie sind hochnäsig! Sie sind gemein!" Bumble ächtzte und krümmte den Rücken.
„Sie sind schrecklich! Willst du noch mehr hören?!", schloss Avery. Bumble schüttelte nur stumm den Kopf und versuchte sich loszureißen.
„Dann kommen wir mal zur Strafe", kündigte Avery an. Bumbles Augen weiteten sich, aber immerhin ließ Victor sie endlich los. Sie versuchte, sich unauffällig das Handgelenk zu reiben, doch jeder bekam es mit.
„Ich schau mal, was wir haben. Wie wäre es mit...", sie dachte nach. „Du bleibst jetzt hier und räumst auf. Danach hat jeder von uns einen Gefallen bei dir frei und du baust für nächsten Sonntagabend die Party allein auf." Avery lächelte selbstzufrieden. Bumbles weit aufgerissene Augen füllten sich mit Tränen.
„Das geht nicht! Das schaff ich niemals allein..." Victor packte wieder ihren Arm mit beiden Händen und drehte sie dann in unterschiedliche Richtungen. Bumble verkrampfte sich und verzerrte das Gesicht.
„Bist du sicher?", fragte Avery drohend. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich auch noch existierte. Niemand tat etwas gegen Avery. Also musste ich etwas tun.
Ich sprang aus dem Gebüsch, öffnete den Mund... und knickte um. Mist.
„Na sieh mal einer an, welcher Parasit da aus dem Gebüsch kriecht" Avery beugte sich über mich. Sie zog eine Augenbraue hoch, als ich meinen eingeschlafenen Fuß schlug, damit er wieder aufwachte. Doch es half nicht. Ich sprang auf und balancierte mich auf einem Bein aus.
„Lass sie in Ruhe!", befahl ich Avery. Die schien es jetzt nicht mehr lustig zu finden.
„Was ist in dich gefahren, mir zu Wiedersprechen?! Deiner Anf..."
„Halt!", unterbrach ich sie, „Du bist nicht meine Anführerin." Ich lächelte honigsüß.
„Sorry. Ich wollte dich nicht unterbrechen. Mach weiter" Ich wedelte auffordernd mit der Hand. Avery schien sich aufzublähen, bald würde sie platzen. Wenn sie jetzt was sagte, kam es so rüber, als würde sie auf mich hören. Wenn nicht, stand sie als Verliererin da.
„Du hast mir nicht zu sagen, wann ich sprechen soll", erklärte sie schließlich. Clever. Aber mir fiel sofort eine Antwort ein.
„Tja, du hast mir auch nicht zu sagen, wo ich hingehe, oder? Und mit wem? Also gehe ich jetzt mit Bumble ins Sekretariat" Darauf fiel Avery nichts mehr ein. Zumindest hörte ich nichts mehr, weil ich mir Bummels Hand schnappte und sie davon zerrte.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt