22: Verräter und Verdächtige

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Ich hielt vor Spannung die Luft an, als Luna ihre Gedankenstimme zu einem Flüstern senkte, um mir ihr Geheimnis zu verraten.
»Sie kommen seit einigen Monden. Sie sind nicht nett, glaub mir, überhaupt nicht waldig. Immer, wenn sie mit Mr. Blackheart reden, wir der total weiß im Gesicht. Ich glaube, sie schimpfen ihn. Und sie wissen genau, was hier alles passiert. Nur mich kennen sie nicht, ich bin zu gut getarnt für Insektenaugen! Diese Leute sind böse wie alle Knallmenschen und Silberschnapper zusammen, am besten versteckst du dich vor ihnen.«, riet sie mir leise. Ich starrte sie an. Böse Leute, die wussten, was hier passierte? Die Mr. Blackheart... erpressten? Die schon seit einigen Monaten hier waren?! Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Klar, ich hatte das schon vermutet, aber Beweise dafür zu haben... Es stimmte also wirklich.
»Das reicht jetzt.«, beschloss eine Tigerin, die aus den Büschen sprang und vor uns landete, »Komm Luna, wir machen da weiter, wo uns Sky unterbrochen hat.« Hinter June kamen auch Sophie, Phil und Lou zu uns.
»Und? Was habt ihr besprochen?«, fragte Lou. Luna erwiderte nichts, daher musste ich etwas sagen.
»Nichts.«, murmelte ich in Gedanken. Lou fauchte.
Du wirst mir uns ja wohl erzählen, was ihr gemacht habt! June kam drohend näher.
Nein, June. Das ist ein anderes Thema für einen anderen Tag., meinte Luna, drehte sich um und pirschte durch die Büsche davon. June sah ihr verdutzt nach, doch schließlich folgten sie und die anderen dem Nebelparder-Mädchen.
Ich blieb verwirrt zurück und fragte mich, wo sie hinwollten. Und was sie dort vorhatten. Sollte ich ihnen nachfliegen? Doch meine Verzweiflung siegte über die Neugier. Ich rannte zu meiner Hütte zurück. Es war gerade mal viertel nach sechs! Und trotzdem musste ich mich schon mit solchen gruseligen Sachen herumschlagen. Ich zog mein Notizbuch heraus, in das ich manchmal Ideen aufschrieb, und fing an zu notieren. Ich schrieb alles Wort für Wort nieder, was Luna gesagt hatte, was ich selbst wusste und gesehen hatte und was ich vermutete, was hinter dem Ganzen steckte. Als ich fertig war, wurde mir klar, wie gefährlich das war, was ich hier machte.
Zusammengefasst: Zwei Fremde waren hier, die uns rund um die Uhr beobachteten und Einfluss auf Mr. Blackheart nahmen! Vielleicht hatte Nele recht gehabt, das war eine Nummer zu groß für mich!
Was wollten diese Leute? Wie gefährlich waren sie? Würden sie versuchen, uns anzugreifen oder so? Was war ihr Ziel? Wer war ihr Auftraggeber?
All diese Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Doch keine von ihnen konnte ich beantworten. Sollte ich Nele nochmal anrufen? Eigentlich war sie ganz normal gewesen vorhin... und ich merkte, dass ich es jemandem erzählen musste. Also schnappte ich mir mein Handy.
„Was ist vorgefallen?", begrüßte sie mich.
„Ich habe nur ein paar weitere Infos zusammenge..."
„Oh, Infos! Infos sind so wichtig für unsere Gesellschaft. Ich bin froh, dass du dich der Weisheit geöffnet und die wichtigen Dinge gefunden hast!", trällerte Nele. Ich stöhnte auf. Was war nur wieder mit ihr los?
„NELE! Bitte bleib bei der Sache! Ich und die Schule sind in Gefahr!", erinnerte ich sie.
„Ach Sky, du wirst eines Tages so weise sein zu erkennen, dass die Gefahr nichts weiter als eine Erfindung jener ist, die Angst und Schrecken in der Welt verbreiten wollen. Schließ die Augen und lass dich fallen, in dem ständigen Vertrauen, das ich da sein werde, um dich aufzufangen. Komm mit mir, lass dich von jenen, die dich lieben, führen, und vertraue darauf, dass sie einen Ort kennen, an dem..." Ich legte auf.
Das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen! Plötzlich war mir das alles zu viel. Ich stopfte die Informationen, die ich jetzt hatte, in einen weit entfernten Teil meines Gehirns. Ich wollte mir gerade echt keine Gedanken darüber machen! Das war mir zu gefährlich. Stattdessen zog ich mein Zeichenpapier heraus und begann, eine Schneeeule zu skizzieren. Die langen Flügel, den großen Kopf und die Schwanzfedern. Die riesigen Augen und den Schnabel, die Krallen und die Musterung der Federn. Je weiter ich skizzierte, desto wütender schien die Eule zu schauen. Desto angriffslustiger schoss sie auf den Betrachter zu. Desto böser sah sie aus.
Als ich endlich einen Entwurf hatte, der mir gefiel, wollte ich daran weiterarbeiten. Doch dann hörte ich, wie der Wecker klingelte und Shiva sich im Bett räkelte, streckte und gähnte.
„Morgen, Sky. Seit wann bist du wach?", fragte er und klang dabei ziemlich verschlafen.
„Ach, erst seit fünf Uhr" Ich verzog das Gesicht. „Ich musste einfach über einiges nachdenken", erklärte ich dann.
„Ach so. Und deshalb zeichnest du Porträts von einer Teufelseule?", fragte er mich.
„Nein, ich zeichne sie nur, weil ich das Motiv gerade im Kopf hatte.", wich ich aus. Hoffentlich sah Avery das Bild niemals, sonst hatte ich ein Problem!
„Übrigens...", Ich wandte mich ab, um ein Blatt Papier aus meiner Schreibtischschublade zu ziehen, „Das habe ich neulich gemacht"
Es war eine Buntstiftzeichnung von einem Falken, der nach Beute Ausschau hielt. Shiva strich ehrfürchtig mit den Fingerspitzen darüber.
„Wow. Das sieht echt toll aus!" Ich freute mich, dass es ihm gefiel, auch wenn ich beispielsweise die Augen nicht so gut getroffen hatte.
„Was machst du damit?", wollte Shiva neugierig wissen. Ich legte die Zeichnung wieder zurück in meine Schublade.
„Weiß ich noch nicht. Aber vielleicht werde ich es aufhängen", schlug ich vor. Shiva nickte. Doch plötzlich öffnete sich die Tür. Ich erstarrte vor Schreck.
»Die Fremden kommen! Sie wollen sich rächen, dass ich nicht beim Treffen war!«, schoss es mir durch den Kopf. Ich sprang auf und schnappte mir eins meiner Schulbücher, um mich verteidigen zu können.
„Kommt ihr? Mrs. Twenty hat heute Muffins gemacht, die sind gleich weg.", informierte uns eine weiche, schöne Stimme. Moment. Das war doch Avery! Ich wollte das Buch weglegen, aber sie hatte mich schon gesehen. Auch mein panisch-wütender Gesichtsausdruck entging ihr nicht.
„Du scheinst mich hier nicht willkommen zu heißen.", stellte sie mit eisiger Stimme fest und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich spürte, wie ich wütend wurde. Was hatte sie nach dieser Prüfung erwartet? Da platzte es aus mir heraus.
„Du hast meine Prüfung sabotiert! Nur weil du gewinnen wolltest, hast du mir ein Bein stellen lassen!", warf ich ihr vor. Avery fuhr zurück, als hätte sie sich versengt. Für eine Sekunde sah ich irgendwas in ihren Augen, doch ich konnte nicht sagen, was es war. Dann wurde ihr Blick härter und kälter denn jeh.
„So denkst du also von mir, ja?", rief sie. Doch die Tatsache, dass sie so wütend war, ließ mich noch misstrauischer und entschlossener werden.
„Ja! Du bist schuld daran, dass mich jetzt alle für kampfunfähig halten! Du hast dir deine Versetzung nicht verdient! Und dann machst du Mr. Blackheart auch noch klar, dass da niemand war, der betrogen hast, und du wirklich gewonnen hast!", fauchte ich.
„Ich bin an nichts schuld. Dein Versagen hast du allein dir selbst zuzuschreiben! Ich hätte es wissen sollen! Das kommt also dabei heraus, wenn man einen Nebelparder datet!", fuhr Avery mich an. Meinte sie etwa meine Besprechung mit Luna?
„Ich habe etwas wichtiges zu besprechen gehabt! Das ist kein Grund..."
„WAS GIBT ES BITTE MIT DIESEN LEUTEN ZU BESPRECHEN?!", schrie sie.
„Etwas wichtiges! Und ihr, DU könntest mir da niemals bei helfen! Sieh dich an! Du verbietest uns, mit Leuten zu reden, die wir mögen, Dinge zu tun, die wir tun wollen, unser Leben zu leben! Du kontrollierst jeden unserer Atemzüge, bestrafst und kommandierst uns herum! FÜR WEN HÄLTST DU DICH EIGENTLICH?!", kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, wünschte ich, ich könnte sie zurückholen. Averys Gesicht zeigte keine Regung, doch ihr Blick spießte mich auf. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich in ihre kalten blauen Augen starrte. Sie sah aus, als wäre sie bereit, mich jetzt und hier anzugreifen, wenn ich ihr in die Quere kommen sollte. Doch sie sagte nur einen einzigen Satz:
„Wenn du so denkst, dann schau, wie du damit klarkommst." Ihre Stimme klang so eisig und schneidend scharf, dass ich zusammenzuckte. Dann wandte sich unsere Anführerin an Shiva.
„Wir gehen.", befahl sie, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand. Shiva warf mir einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihr. Als er die Tür hinter sich schloss, war klar, dass ich mich heute nicht beim Frühstück blicken lassen sollte. Ich hatte sowieso keinen Hunger mehr. Mein einziger Trost war, dass Avery das Bild nicht gesehen hatte, welches ich rechtzeitig unter meinem Buch versteckt hatte.
Ich hockte mich auf mein Bett und seufzte. Jetzt hatte ich die Anführerin der Windwalker-Clique - die immerhin die halbe Schulklasse umfasste - gegen mich. Ich war ehrlich geschockt über Averys Verhalten. Was dachte sie von sich? Oder hatte ich tatsächlich überraegiert? Nein, Avery hate das alles verdient! Aber ich hatte trotzdem ein Problem.
Ich versuchte, an etwas anders zu denken, aber Averys Gesicht tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Ihr Blick. Als würde sie vor nichts zurückschrecken, um ihre Macht zu bewahren. Das war wahre Boshaftigkeit! Ich wusste, dass sie schon jetzt eine furchtbare Rache plante. Mein Magen schien sich zu verknoten, als ich an den bevorstehenden Tag dachte. Auch wenn wir keinen Unterricht hatten, würde ich die Clique noch in der Mensa und sicherlich auch zwischendurch sehen. Wenn Avery ihnen erzählte, was für ein Verräter ich war, würden sie sich auf mich stürzen, sobald ich die Hütte verließ! Sie würden mich irgendwohin mitnehmen, um mich dort zu verprügeln und mir eine Lektion zu erteilen. Mir wurde klar, dass ich unmöglich ohne Rückendeckung nach draußen gehen konnte. Doch jetzt war ich mir immerhin sicher: Avery hing in der Sache mit der Erpressung mit drin! Wahrscheinlich waren ihre Eltern auch dabei und sie spionierte für sie. Warum sollte sie sich sonst sämtliche Macht über die Windwalker holen wollen? Sie brauchte eine Gruppe Verbündeter, die ihr blind gehorchte!
Vor lauter Wut packte ich mir ein Kissen und schleuderte es durch den Raum. Wieso waren die anderen so doof, es selbst nicht zu erkennen?! Ich musste mit irgendwem sprechen... und so rief ich zum dritten Mal an diesem Morgen Nele an.
„Sky!", rief sie, als sie ranging, „Was ist? Ich habe nicht viel Zeit!" Sie redete mit irgendwem neben ihr, scheinbar einer Mitschülerin. Ich sah, dass die beiden durch irgendeinen langen Gang eilten, um sie herum andere Studenten.
„Oh, ach so, entschuldige! Ich ruf später nochmal an!", meinte ich hastig und legte auf, bevor sie wegen mir eine ihrer Vorlesungen verpasste oder so. Vielleicht sollte ich einfach Frühstücken gehen. Doch als ich aus dem Fenster meiner Hütte sah, wurde mir klar, dass es zu spät war. Avery stapfte über die Wiese auf meine Hütte zu, neben ihr gingen - wie zwei Leibwächter - Victor und Vincent. Sie kamen, um mich zu holen! Panik stieg in mir auf. Ich saß in der Falle! Die Hütte hatte keinen zweiten Ausgang! Oder? Doch! Die Fenster! Ich riss das Fenster neben Shivas Bett auf. Eisige Luft fuhr in den beheizten Raum, doch ich achtete nicht darauf. Stattdessen zog ich mir den Pullover aus, verwandelte mich und schoss ganz knapp durch das Fenster in den Himmel empor. Als Avery die Tür zu meinem Zimmer aufriss, war ich schon weit, weit weg.

Erst, als es schon fast Mittag war, flog ich zurück zur Schule. Ich kreiste etwas über den Hütten, bevor ich auf meinem Dach landete. Als ich auf den Boden flatterte und durchs Fenster spähte, sah ich, dass sie nicht auf mich gewartet hatten. Shiva war drinnen, doch als er mich sah, öffnete er das Fenster, woraus ich schloss, dass er mir nicht böse war. Ich flog hinein und er schloss es wieder. Drinnen verwandelte ich mich zurück.
„Sky... wieso hast du das gesagt?", fragte er mich. Es klang nicht wütend oder drohend, sondern höchstens vorwurfsvoll und mitleidig.
„Ich habe heute einfach schon zu viel erfahren. Ich vertraue Avery nicht mehr, ich bin sicher, dass sie die Schule sabotiert!", platzte es aus mir heraus. Shiva runzelte die Stirn.
„Dann hatte sie doch recht. Avery meinte, du versuchst, ihr was anzuhängen und sie vor der Schulleitung anzuschwärzen. Ich hätte nie gedacht, dass sie recht hat, aber... Sky, warum tust du sowas?!", fuhr mich Shiva an. In seinem Blick spiegelten sich Verwirrung und Entsetzen.
„Aber... ich habe recht! Ich wusste nicht, dass Avery so was erzählt, und ich wollte auch nicht zu Mr. Blackheart gehen! Aber ich habe die Vermutung, dass sie irgendwas plant!", erklärte ich... und spürte förmlich, wie meine Worte von meinem besten Freund abprallten.
„Ich gehe zu den anderen. Du bist nicht eingeladen." Mit diesen Worten ließ er mich sitzen. Ich starrte ihm fassungslos hinterher und fragte mich, ob sich denn alle gegen mich verschworen hatten.
Da klingelte mein Handy. Ich öffnete meine Nachttischschublade und zog es heraus. Überrascht sah ich, dass es Nele war.
„Hi Nele!", ging ich ran und lächelte in die Kamera, um zu überspielen, wie niedergeschlagen ich war. Doch meine Schwester wäre nicht meine Schwester, wenn sie darauf reingefallen wäre.
„Was ist passiert?", wollte sie wissen. Ich erzählte es ihr.
„Heute Morgen habe ich ja das Mädchen getroffen, dass immer als Tier draußen unterwegs ist. Sie hat mir erzählt, dass hier Fremde waren, die mit unserem Schulleiter reden und hier alles beobachten. Ich wusste sofort, dass sie etwas mit Avery zu tun haben müssen, die meiner Meinung nach den Betrug bei meiner Prüfung organisiert hat. Demnach steckt sie da mit drin. Aber sie gibt es nicht zu, und als ich darauf beharrt habe, ist mir einiges rausgerutscht... jetzt ist sie supersauer auf mich und versucht, sich an mir zu rächen. Obendrein glaubt Shiva jetzt, dass ich sie bei der Schulleitung anschwärzen will, und spricht nicht mehr mit mir.", erzählte ich. Nele runzelte die Stirn.
„Und du bist sicher, dass diese Avery daran schuld ist?", wollte sie wissen. Ich nickte heftig.
„Sie ist die Einzige, die es sein kann", erklärte ich, doch ich sah, dass meine Schwester nicht überzeugt war. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen.
„Du könntest...hm. ...Nein.", sie schüttelte den Kopf.
„Ich könnte was?", bohrte ich nach.
„Du könntest... aufhören, dir Sorgen zu machen. Das mit den Freundschaften renkt sich wieder ein. Aber geh zu einem Lehrer und sag ihm, was los ist!", befahl sie mir. Ich seufzte, sie wusste selbst, dass ich das nicht tun würde. Es entstand eine lange Pause, keiner von uns wollte etwas sagen. Dann atmete meine Schwester zitternd aus.
„Bring dich bitte nicht in Gefahr, ja?", meinte sie leise. Ich senkte den Kopf.
„Ich werde es versuchen", versprach ich, obwohl mir klar war, wie schwach das klang. Doch ich hatte keine Ahnung, was in den nächsten Wochen passieren würde. Ich wusste weder, was der Plan dieser Leute war, noch, mit wem wir es überhaupt zu tun hatten. Doch ich hatte so ein Gefühl, dass uns eine schwere Zeit bevorstand.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt