16: Weißes Wunder

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Wir waren alle sehr erleichtert. Das mit dem guten Eindruck hatten wir ganz gut hinbekommen. Als Mr. Blackheart wieder in die Aula kam, blieb er jedoch wie erstarrt stehen und ließ seinen Blick über uns schweifen. Wir folgten ihm.
Vincent und Victor waren längst nicht mehr die einzigen, die sich prügelten, mittlerweile machten auch Milan, June, Phil und Timur mit. Sebastian lag auf dem Boden, unter ihm kämpfte sich gerade ein Waschbär hervor. Diejenigen, die unter dem Treppengeländer gestanden hatten, waren mit Cola überschüttet und blickten mit tödlichem Blick hoch zu Crowley, der sich gerade aus dem Staub machte. Und Sierra stand mitten in einem Scherbenhaufen, der mal unser Geschirr gewesen war, und wedelte unterwürfig, wie um sich zu entschuldigen.
Wir konnten nicht anders, wir prusteten los. Es sah wirklich zu komisch aus. Erst schien Mr. Blackheart sauer auf uns zu sein, doch dann blickte er sich nochmals um und fing ebenfalls an zu grinsen.
„Na dann: Danke für euer vorbildliches Verhalten. Ich denke, jetzt dürft ihr auch mal durchdrehen. Aber seid so gut und passt auf, dass ihr niemanden verletzt, klar?" Wir nickten. Zumindest die, die gerade niemanden niederschlagen mussten Mr. Blackheart schien sich auf uns zu verlassen und verschwand in seinem Büro. Als wir uns langsam wieder von unserem Lachflash erholten, beschloss ich, auf mein Zimmer zu gehen und Nele anzurufen. Ich hatte ihr natürlich von der Inspektion erzähle, jetzt fieberte sie wahrscheinlich mit mir mit und wartete schon auf meinen Bericht.
Ich lief in meine Hütte und stieß fast mit dem völlig überdrehten Crowley zusammen. Er hatte wohl wieder einmal zu viel Cola getrunken. Was für eine Überraschung. Ich schob mich an ihm vorbei und schlüpfte in mein Zimmer.
Drinnen nahm ich mein Handy aus der Schreibtischschublade und rief direkt Nele an. Sie nahm sofort ab.
„Hi Nele, die Inspektion war...", fing ich an.
„Oh bei der großen Welle, Sky, es ist alles so genial! Ich mach mir überhaupt keine Sorgen wegen diesem Inspektionsding. Ihr habt das sicher super gemacht! Alle haben alles super gemacht! Die Welt ist einfach super!", jubelte Nele überschwänglich. Ich sah wahrscheinlich ziemlich verwirrt aus, denn sie strahlte in die Kamera.
„Ich bin glücklich!", erklärte sie.
„Ach ne."
„Doch! Es ist alles so super hier an Land. Findest du nicht?", wollte Nele lächelnd wissen.
„Äh, nein... also ja, also... was ist los mit dir?", fragte ich skeptisch.
„Ich habe einfach gute Laune! Das Leben ist so schön. Und genau dieses Leben ruft. Bis bald, Sky, hab einfach Spaß! Bye!" Mit sonniger Laune legte Nele auf. Ich starrte ungläubig auf mein Handy. Sie hatte mich einfach weggedrückt! Und sie wollte auch nicht hören, wie unsere Inspektion gelaufen war, sondern redete die ganze Zeit selbst! Sonst war sie doch immer für mich da! Ich war sehr verwirrt. Und seit wann verhielt sie sich so komisch? Sicherheitshalber schrieb ich ihr eine Nachricht: Hast du zu viel Meerwasser geschluckt oder bist du betrunken?
Fast sofort kam eine Antwort: Wieso betrunken? Ich bin zufrieden mit mir, mit dir, mit meinen Freunden und mit allem auf der Welt! Es ist einfach schön!
Alles klar. Meine Schwester hatte offiziell ihren Verstand verloren. Was sollte ich tun?
Geht's dir gut? Kann ich dir irgendwie helfen?, schrieb ich.
Mir geht's besser denn jeh!, kam es zurück. Alles klar, ich gab auf. Vielleicht war das eine Wahrheit oder Plicht Aufgabe von ihren neuen Freunden.
„Hey, was machst du?", fragte mich Shiva, der gerade hereinkam.
„Ich habe mit Nele telefoniert.", erklärte ich, denn natürlich wusste er schon, wer Nele war. Er nickte, fragte aber nicht weiter nach. Stattdessen ging er komischerweise zu seinem Schreibtisch, nahm eine Tüte heraus und hängte sie außen an den Kleiderschrank. Dann zog er sein Schultablet hervor und kam damit auf mich zu.
„Könntest du darauf aufpassen? Nicht, dass es irgendwie verloren geht oder so.", bat er mich. Ich sah ihn verwirrt an.
„Wieso soll ich aufpassen? Was machst du?", fragte ich. Er schickte mir einen gespielt beleidigten Blick.
„Habe ich dir doch erzählt, ich besuche dieses Wochenende meine Familie.", erklärte er. Ach so, das hatte ich ganz vergessen!
„Mrs. Twenty hat versprochen, mich hinzufahren, ich werde das ganze Wochenende als Tier verbringen." Mit diesen Worten nahm mein Zimmernachbar die Tüte vom Schrank und winkte mir zu.
„Dann bis Montag, Shiva!", verabschiedete ich mich. Was in der Tüte war, brauchte ich gar nicht zu fragen. Der Fischgestank sprach für sich. Dann war Shiva weg. Ich grinste und stellte mir vor, wie eine Graureiherherde an einem See stand, Fische aus einer Plastiktüte futterten und über Menschen quatschten. Was dabei herauskam, war ein echtes Chaos. Aber vielleicht würde ich Shivas Familie mal kennenlernen. Irgendwann mal.

Am Samstagmittag klopfte plötzlich jemand ans Fenster. Ich sprang vom Schreibtisch, an dem ich gerade etwas gezeichnet hatte, auf und schaute nach draußen. Dort stand Yuna, sie winkte mir und machte mir Zeichen, dass ich rauskommen sollte. Ich öffnete die Tür und lief durch den kurzen Gang. Als ich durch die Haustür der Hütte trat, umfing mich die Kälte wie ein eisiger Mantel. Wie scheußlich kalt! Ich ging direkt wieder ein paar Schritte zurück, drückte die Tür auf und zog mich nach drinnen zurück. Ich schnappte mir meine Jacke und die Schuhe. Dann startete ich den nächsten Versuch.
„Da bist du ja endlich. Hättest du Zeit?", fragte Yuna. Ich war sofort in Alarmbereitschaft. Als mich das letzte Mal Leni so etwas gefragt hatte, war es echt unangenehm geworden.
„Kommt drauf an wofür...", gab ich zögerlich zurück. Yuna kicherte.
„Keine Panik, ich habe mich nur gefragt, ob du mit in den Computerraum kommen willst. Die anderen schauen auf dem großen Fernseher Nachrichten und es gibt echt interessante News. Kommst du?" Ich war erleichtert. Nachrichten klangen gut, also folgte ich Yuna ins Hauptgebäude. Wir schoben uns durch die Tür des Computerraums und ich hörte den Ton der Sendung schon, als wir noch vor der Tür standen.
„...wird es noch heute Nacht heftige Schneefälle in den Bergen geben, vielleicht zeigen sich auch noch einige Flocken weiter im Tal. Dies ist ein Jahrzehntereignis, Schneefälle sind hier bei uns in San Francisco aufgrund der warmen Meeresströmung an der Küste sehr selten...", der Wettermoderator schien außer sich vor Freude. Ich und Yuna hockten uns zwischen die vielen Schüler, die schon da waren und begeistert den Fernseher anstarrten. Ich war weniger überrascht. Schnee hatte ich schließlich schon mehr als oft genug gesehen, was war da so besonders dran? Als die Sendung vorbei war, fingen alle an zu kreischen, zu jubeln und aufgeregt miteinander zu quasseln. Schon wieder war ich verwirrt.
„Was regt ihr euch denn so auf? Es ist doch nur Schnee!", warf ich in die Runde. Die anderen verstummten und sahen mich an.
„Offensichtlich kommst du nicht aus der Gegend hier.", stellte Bumble fest. Damit hatte sie sogar recht. Hoffentlich fragte niemand genauer nach, noch hatte ich meinen Mitschülern nichts von meiner Vergangenheit auf dem Meer erzählt.
„Nun ja, dann erkläre ich's dir mal: Aufgrund der warmen Meeresströmungen des Pazifiks ist Schnee hier nämlich fast unmöglich. Der Pazifik wärmt die Küste das ganze Jahr auf, sodass Regen gar nicht in der Luft gefrieren kann, also kommt gar kein Schnee runter. Wenn es aber besondere Verhältnisse von verminderten...", fing Faeye an, wahrscheinlich irgendeinen auswendiggelernten Zeitungsartikel vorzutragen. Ich hörte fasziniert zu und verstand langsam, warum alle so ausrasteten. Der letzte Schnee hier war schon etliche Jahre her. Das war etwas absolut Einzigartiges!

Das merkte ich auch noch einmal, als am nächsten Morgen nach dem Frühstück eine Versammlung in der Aula veranstaltet wurde.
„Ihr habt alle mitbekommen, dass es in den nächsten Tagen hier bei uns schneien soll. Das ist beinahe schon ein Jahrhundertereigniss, weshalb ich gut verstehen kann, wenn ihr jetzt sehr aufgeregt seid. Trotzdem muss ich euch darauf hinweisen, die Regeln zu befolgen. Ich hänge die Regellisten auch überall im Schulhaus auf, aber hier sind sie nochmal:
Immer warme Sachen überziehen, speziell wenn man eine tropische Heimat hat. Schneeballschlachten dürfen nicht eskalieren und auch kein Schnee ins Gesicht geworfen werden. Auf Eis aufpassen, sonst rutscht ihr aus, besonders bei den Klippen. Auf Dachlawinen von Schul- und Hüttendächern achten. Nicht zu lange draußen bleiben, Erkältungsgefahr. Passt auf..." Ich war schockiert. Was waren das nur für dämliche Regeln? Es war doch wohl selbsterklärend, dass man sich bei der Kälte was Richtiges anziehen musste! Oder man nicht zu lange draußen bleiben durfte. Unser Schulleiter zählte noch in etwa hundert andere ach-so-wichtige Punkte auf. Was dachte der von uns? Dass wir zu doof waren, uns das selbst zusammenzureimen? Ich hörte genervt zu und driftete in Gedanken langsam ab. In eine weiße Wunderwelt, wo der Schnee von den Bäumen rieselte, Tiere durch die weiße Pracht stapften und die alles still und magisch erschien. Diese Traumwelt gefiel mir so gut, dass ich beschloss, sie zu zeichnen. Später. Jetzt wurde ich erst mal von meinen Klassenkameraden mitgezerrt, um weiter die Nachrichten zu verfolgen.

Irgendwann am späten Nachmittag war es dann so weit.
»Schnee! Er ist da! Kommt sofort alle raus!  Es schneit!!!«, schrie Lunas Gedankenstimme. Auf sie war wohl verlass, sie merkte alles, was hier vor sich ging. Ich stand gemächlich auf und zog mir Jacke und Stiefel über.
„Los, komm, das willst du nicht verpassen!", schrie Crowley zu mir herein, als ich nicht gleich angerast kam. Ich schlüpfte ganz in Ruhe in meine Schuhe, bevor ich meinem Mitschüler folgte. Als wir vor die Schule traten, waren schon alle da. Sogar die Lehrer hatten sich unter uns gemischt und schienen sich mit uns zu freuen. Einige Schüler öffneten den Mund und versuchten, Schneeflocken mit der Zunge zu fangen, wie sie es wahrscheinlich in Filmen gesehen hatten oder so. Sie stellten sich allerdings ziemlich doof an, weshalb ich ihnen gleich mal zeigte, wie es richtig ging. Mit meinen scharfen Adleraugen suchte ich mir ein Flöckchen aus, öffnete den Mund und lief ihm hinterher. Die anderen nahmen sich bald ein Beispiel an mir und rannten ebenfalls durch die Gegend. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis Phil June über den Haufen rannte und eine Schlägerei begann. Doch zum Glück hatten wir einige Lehrer hier, die sofort eingriffen und das Gerangel beendeten, bevor jemand verletzt wurde.
Wir blieben draußen, bis die Sonne untergegangen war, und versuchten, aus der dünnen Puderzuckerschicht auf dem Boden Schneebälle zu formen. Erfolglos, aber wir hatten trotzdem Spaß. Erst, als es schon kurz vor zehn war, ermahnten uns die Lehrer, endlich nach drinnen zu gehen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war meiner Meinung nach alles ganz normal. Auch als mir wieder einfiel das es gestern „geschneit" hatte, drehte ich nicht gleich durch. Anders als einige Schüler vor meiner Hütte, die kreischend und lachen herumtobten.
Verschlafen blickte ich auf mein Handy. Ups, schon neun Uhr! Ich beeilte mich, in meine Klamotten zu schlüpfen und mir die Schuhe anzuziehen, schließlich wollte ich das Frühstück nicht verpassen. Die Jacke ließ ich in der Hütte. Als ich vor die Tür trat, wurde mir klar, wieso sich meine Mitschüler so aufregten: In der Nacht hatte es noch mehr geschneit! Zwar höchstens 1cm, aber für die, die hier aufgewachsen waren, war das anscheinend wie drei Meter Pulverschnee. Sie sprangen, in die dicksten Wintersachen gehüllt, auf dem Schnee herum. Ich ging an ihnen vorbei ins Hauptgebäude, während sie mich anstarrten.
„Hey, Sky, ist dir nicht kalt?", rief einer der Klamottenberge, an der Stimme konnte ich Faeye erkennen. Ich schüttelte den Kopf und verschwand, bevor ich einen Lachkrampf bekam. Ernsthaft! Es war nicht kälter als gestern um diese Zeit, da waren alle noch in Pulli herumgelaufen. Ich ging um die Ecke und durch den Haupteingang nach oben in die Mensa. Dort saßen schon einige Windwalker an unserem Stammtisch und unterhielten sich angeregt. Es waren allerdings nicht viele, nur Bumble, Avery, Vincent und Nicola, die anderen waren wohl schon fertig mit Essen. Auch ich holte mir Müsli und setzte mich dazu. Die Stimmung am Tisch war allerdings recht schweigsam und düster, weshalb ich mich beeilte, wieder nach draußen zu kommen. Ich wollte noch in den Wald!
Schon zehn Minuten später schlenderte ich wieder an Faeye und den anderen Klamottenbergen vorbei und grüßte sie lässig, bevor ich in Richtung Waldrand abbog.
Als ich unter den ersten Zweigen eintauchte, war ich wie in einer anderen Welt. Alles war so ruhig und friedlich! Ich ging ein ganzes Stück in den Wald hinein, bis der Lärm aus Richtung Schule verstummt war. Hier setzte ich mich ins mit einer dünnen Schneeschicht überzogene Moos und dachte, ich hätte endlich mal Zeit für mich allein.
„DU!", schrie plötzlich jemand hinter mir. Ich sprang vor Schreck auf, wirbelte herum und sah Ylva. Sie funkelte mich an und ich sah auf den ersten Blick ihre angespannte Haltung, sie war jederzeit bereit, loszuspringen. Ich war sofort in Alarmbereitschaft.
„Was ist los?", fragte ich das Wolfsmädchen und musterte sie herausfordernd. Sie starrte zurück.
„Deine Clique ist in letzter Zeit recht viel herumgekommen, was?", antwortete jemand an ihrer Stelle. Ich drehte mich wieder um und sah, dass sich Sierra an mich angeschlichen hatte.
„Was wollt ihr von mir?", rief ich, da mir langsam zu viel wurde. Warum schlichen sie sich einfach so an mich an? Die Wölfe waren heute nicht zum Spaßen aufgelegt!
„Wir wollen, dass du deine Leute in Zukunft von unserer Hütte fernhältst!", verkündete Ylva und kam drohend ein paar Schritte näher. Für einen Moment war ich ehrlich irritiert.
„Äh, wie? Meine Leute? Welche Hütte?", stammelte ich. Was sollte das denn heißen?
„Hütte eins. Letzten Freitag. Macht's Klick?", fauchte Ylva. Sierra hielt sich noch im Hintergrund, doch ich wusste, dass auch sie eine kampfstarke Wandlerin war und, wenn es so weit kommen würde, hatte ich schon gegen sie keine Chance. Aber warum waren die beiden nur so sauer auf mich?
„Was soll denn am Freitag gewesen sein?", rief ich verzweifelt. Doch Ylva sah mich nur böse an und keifte: „Das weißt du genau!" In meinem Kopf ratterte es. Wenn es zum Kampf kam, so wie die beiden Mädchen es anscheinend vorhatten, war ich erledigt. So weit durfte ich es nicht kommen lassen! Konnte ich versuchen, vernünftig mit ihnen zu reden?
„Okay, hört mal zu. Ich glaube, wir können das auch in Ruhe besprechen, oder? Ich helfe euch gern oder werde es zumindest versuchen, aber wenn ihr mir nicht erklärt, was..." Ich unterbrach mich selbst, als ich sah, wie sich Ylvas Gestalt veränderte. Ohne hinter mich zu blicken, wusste ich, dass auch Sierra sich gerade verwandelte.
»Tu nicht so! Du wirst unsere Rache zu spüren bekommen, du fieser Anführer!«, rief ihre Gedankenstimme. Oh nein! Jetzt verstand ich, was sie meinten!
„Nein, wartet. Ich bin nicht der Anführer der Windwalker! Ich glaube, ihr seid sauer, weil Avery ihren Leuten – also uns – etwas befohlen hat, was euch nicht gefällt, oder?", versuchte ich, die Situation zu erklären.
»Lüg wen anders an, Junge!«, schrie Ylva und sprang. Da erst wurde mir klar, dass ich zu lange gezögert hatte. Hätte ich mich verwandelt, hätte ich jetzt wegfliegen können. Aber es war zu spät.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt