26: Die Ankündigung

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Wieder und wieder las ich mir die Nachricht durch. Ich konnte nicht glauben, dass meine Familie mir geschrieben hatte! Es bedeutete mir so viel, endlich von ihnen zu hören. Es war tatsächlich schon vier Monate her, dass ich etwas von ihnen gehört hatte. Nicht dass ich es anders erwartet hätte. Sie waren ja schließlich dauernd unterwegs und hatten fast nirgends Empfang.
Hallo liebster Sky! Wir hoffen, dir geht es gut. Wir sind gerade in Kolumbien, an der Grenze zu Panama. Zum Glück gibt es hier Empfang. Wir vermissen dich so sehr, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie einsam es hier ohne dich und Nele ist! Aber wir hoffen, dass es dir an der Redcliff High – oder eben bei Oma – gefällt, auch wenn du dich am Anfang gegen das Land gesträubt hast.
An dieser Stelle musste ich kurz innehalten, um meine Tränen wegzublinzeln. Sie vermissten mich. Sie dachten noch an mich. Sie wussten, dass ich am Anfang gegen die Schule gewesen war. Und sie hatten mich dazu gezwungen, weil sie gewusst hatten, wie sehr es mir gefallen würde.
Vier von elf Monaten hast du jetzt schon geschafft! Wir haben nämlich beschlossen, euch beide – Nele und dich – in den Sommerferien wieder an Bord zu holen. Hoffentlich habt ihr bis dahin nicht alles verlernt, was wir euch damals beigebracht haben!
Wir lieben dich, Sky, egal wie weit entfernt du bist. Und es vergeht kein Tag, an dem wir nicht morgens zu dritt in die Sonne schauen und an euch denken. Wir hoffen, ihr habt manchmal auch noch Zeit für einen schönen Sonnenaufgang.
Und trotz allem, versuch, dich in der Schule anzustrengen. Wenn du nicht durchfällst, bist du in zweieinhalb Jahren wieder zurück!
Ganz ganz ganz liebe Grüße
Mom, Dad und Timmy
Eine Träne tropfte auf den Bildschirm. Ich packte mein Handy und presste es an meine Brust, wollte es nie mehr loslassen. Es war, als würde ich meine Mom in den Arm nehmen. Ich wollte die Worte in mich aufsaugen, jedes einzelne abspeichern und sie nie wieder vergessen. Denn diese Worte hatte meine Mutter geschrieben. Sie waren von ihr. Beinahe meinte ich, ihr Gesicht vor mir zu sehen. Wie sie lächelte. Mich ansah. Wie vertraut und unverändert ihr Gesicht aussah. Und da konnte ich nicht mehr. Ich sank in mich zusammen und heulte. Aber diesmal vor Glück.

Es war überwältigend gewesen, diese Nachricht zu lesen. Nicht ganz so schön war es, mit Nele zu telefonieren. Sie war wieder total seltsam, doch diesmal nicht so enthusiastisch. Im Gegenteil: Sie wirkte lustlos und komplett deprimiert. Ich hatte versucht, sie aufzumuntern, doch sie hatte nur ständig wiederholt, dass sie nichts wert sei und nichts mehr einen Sinn hätte. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich verabschiedete mich.
Ich beschloss, nach draußen zu gehen und mir den Sonnenuntergang anzusehen. Das hatten wir eigentlich gemeinsam machen wollen, doch Nele hatte dazu keine Lust mehr gehabt. Im Dämmerlicht funkelte das weiße Schulgebäude in einem hübschen orange-apricot. Doch ich achtete nicht darauf. Ich wollte allein sein und ein bisschen im Wald herumstreifen. Natürlich nicht, weil ich hoffte, Yuna zu treffen. Nein! Höchstens ein bisschen. Na schön. Ich wollte sie sehen. Also ging ich zurück dahin, wo sie mich letztes Mal gefunden hatte. Doch ich kam nicht weit.
Etwa auf halber Strecke hörte ich plötzlich ein Rascheln im Gebüsch. Ich war sofort in Alarmbereitschaft. Vorsichtig schlich ich näher und hörte, dass dort irgendwer telefonierte. Es klang nach Milan, dem Fuchs-Jungen. Was machte der denn noch hier? Bisher hatte ich sehr wenig mit ihm zu tun gehabt, aber er war immerhin kein Erpresser oder Spion oder so. Ich gab meine Deckung auf und trat aus dem Gebüsch.
„Halt! Ich muss aufhören!", rief er in sein Handy und steckte es weg, bevor sein Gesprächspartner noch etwas sagen konnte.
„Sky! Was machst du denn hier?", wollte er dann von mir wissen.
„Ich... wollte allein sein. Zum Nachdenken.", erklärte ich. Milan legte den Kopf schief.
„Ich wollte nichts sagen, aber... du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen." Ich überlegte, wie ich darauf antworten sollte. Sollte ich lügen und sagen, dass er sich irrte? Oder ihm die Wahrheit sagen? Ich sah Milan an... und plötzlich platzte es aus mir heraus.
„Meine Schwester ist total komisch. Ich mach mir echt Sorgen um sie und... hatte gehofft, Yuna hier irgendwo zu treffen, damit ich sie fragen kann, was sie von der ganzen Sache hält."
Milan nickte nachdenklich.
„Und wieso Yuna? Hat nicht Avery bei euch das Sagen?", erkundigte er sich dann.
„Naja... wir hatten ein paar... Auseinandersetzungen", wich ich aus. Doch er wollte nicht lockerlassen, bis ich ihm irgendwann alles erzählte. Wie unfair Avery uns behandelte. Wie gemein sie war. Wie sie uns alle kontrollierte. Und wie ich sie damit konfrontiert hatte. Wie ich daraufhin aus der Clique ausgetreten war. Und dass sie seitdem nicht mehr mit mir sprach. Als ich geendet hatte, war es, als würde mir ein riesiger Stein vom Herzen fallen. Es tat so gut, mit jemandem darüber zu reden! Auch wenn es nicht Yuna war, sondern Milan.
„Wow. Das klingt... heftig.", meinte der und klopfte mir mit der flachen Hand auf den Rücken, so fest, dass ich husten musste.
„Wenn du was brauchst, sag Bescheid!", bot er mir an.
„Danke", röchelte ich.
„Dann... geh mal deine Freundin suchen", Milan grinste mich an, als meine Wangen rot wurden.
„Sie ist nicht... wir sind nur Freunde.", murmelte ich hastig. Er grinste weiter.
„Ach so, klar. Dann viel Spaß bei... was immer ihr macht", damit verschwand er zwischen den Bäumen.
Während ich weiterging, dachte ich nach. Ich hatte überhaupt nicht gewusst, dass er so ein guter Zuhörer war. Als ich endlich auf der moosigen Lichtung ankam, staunte ich nicht schlecht: Yuna war bereits da! Und sie schien auch nicht überrascht, mich zu sehen.
„Endlich. Ich wusste doch, dass du herkommen würdest." Ich wollte irgendwas erwidern... doch mein Gehirn schien sich in Matsch verwandelt zu haben.
Sie wollte mich sehen. Ich bin ihr wichtig. Sie hat auf mich gewartet. Sie freut sich, dass ich da bin!, schoss es mir durch den Kopf.
„Äh... ja", stammelte ich, woraufhin eine peinliche Stille entstand. Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen kroch und hoffte, dass sie es im Halbdunklen nicht sah. Die Sonne war schon fast ganz untergegangen, so lange hatte ich mich mit Milan unterhalten.
„Also... wollen wir zu den Klippen? Dort kann man den Sonnenuntergang besser sehen.", schlug Yuna schließlich vor.
„Ja, gern", erwiderte ich erleichtert. Sie strahlte mich an und ihre Hand schob sich in meine, bis sich unsere Finger verschränkten. Ich fühlte mich, als würde ich auf Wolken schweben. Die Realität war mit einem Schlag ganz weit weg, als Yuna ihren Kopf auf meine Schulter legte und wir Hand in Hand aus dem Wald traten. Von der Sonne war nicht mehr viel zu sehen, nur der Himmel war noch in einem leuchtenden Pink gefärbt. Ich legte meinen Arm um Yunas Hüften zog sie noch etwas näher zu mir heran. Unsere Hände verschränkten sich vor uns und sie lehnte sich an mich. Ich hielt die Luft an, aus Angst, diesen Moment irgendwie zu zerstören. Doch dann legte ich langsam meinen Kopf auf ihren. So verharrten wir, als wären wir schon seit Jahren zusammen, und sahen aufs Meer hinaus.
Doch plötzlich räusperte sich jemand. Ich zuckte zusammen und der Moment war zu Ende. Langsam ließ Yuna mich los und ich drehte mich zum Waldrand um. Zwischen den Sträuchern stand Vincent.
„Äh... sorry", meinte er und kam ein paar weitere Schritte auf uns zu, blieb dann jedoch leicht verunsichert stehen.
„Also... äh... ich...", er verstummte und sah verlegen auf den Boden.
„Nein nein, alles gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen", versicherte ich ihm. Es war unsere Schuld, dass wir nicht daran gedacht hatten, dass auch andere Schüler gern hierherkamen. Doch plötzlich veränderte sich Vincents Gesichtsausdruck. Erst war er scheinbar schockiert gewesen, doch jetzt stierte er mich böse an.
„Nur meine Anführerin darf mir sagen, was ich tun soll!", keifte er.
„Was soll das, Vincent?" Yuna verschränkte die Arme und funkelte zurück.
„Er ist kein Windwalker mehr, falls du's nicht mitbekommen hast", erinnerte er sie, „Wir dürfen nichts mit ihm machen – schon gar nicht so was" Er sah uns vielsagend an. Ich hätte am liebsten vor Scham den Kopf eingezogen und mich irgendwo verkrochen, aber ich erinnerte mich daran, dass er genau das wollte. Also blieb ich aufrecht stehen und erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln. Adler sind gut in sowas.
„Was machst du überhaupt hier?", fragte Yuna.
„Ich habe einen Zettel gefunden, auf dem stand, dass ich hierherkommen sollte", zischte er Yuna zu. Wahrscheinlich hatte ich es nicht hören sollen, aber dafür hätte Vincent das Flüstern wohl öfter üben sollen. Doch ich beschloss, so zu tun, als hätte ich es wirklich nicht verstanden. Mit den Windwalkern hatte ich schon genug Probleme, sie mussten nicht wissen, dass ich etwas von ihren geheimen Treffen mitbekommen hatte.
Irgendwie schaffte ich es, mich von Yuna zu verabschieden und an Vincent vorbeizukommen, ohne vor Peinlichkeit zu sterben. Sobald ich zurück in meiner Hüte war, legte ich mich ins Bett. Dann versuchte ich zu entscheiden, ob ich Lachen, Losheulen oder mir die Decke über den Kopf ziehen und nie wieder aufstehen sollte. Es war so wunderschön gewesen mit Yuna! Aber wir waren schon wieder unterbrochen worden. Das konnte doch echt nicht wahr sein! Ich spürte, wie ich wütend wurde. Wäre Vincent nicht gewesen, wäre das der schönste Abend meines Lebens geworden!
Ich spürte, wie ich errötete. Dabei hatte ich die Worte ja nicht mal laut ausgesprochen. Außerdem waren sie nicht wahr. Zumindest nicht ganz. Also... Oh man. Konnte es ernsthaft sein, dass ich bis über beide Ohren verknallt war?!
Klar!, jauchzte eine Stimme in mir. Ich versuchte mit aller Kraft, sie zu ignorieren, doch ich schaffte es nicht.
Was mich unweigerlich zu der Frage führte, die ich die ganze Zeit krampfhaft zu unterdrücken versuchte: War Yuna auch in mich verliebt?
Ist sie! Sonst hätte sie das nicht mitgemacht! Ist doch wohl klar!, die Stimme überschlug sich vor Aufregung. Aber... was hieß das? Waren wir damit... zusammen?!
Frag sie! Frag sie, ob sie deine Freundin sein will!, kreischte die Stimme in mir. Beim großen Sturm, das konnte ich doch nicht machen! Was, wenn sie nein sagen würde? Mich angewidert wegstieß? Oder in Gelächter ausbrach und mich damit vor der ganzen Schule bloßstellte? Ich befahl mir, nicht weiter darüber nachzudenken.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt