Ich war Leni hinterher gesprungen! Aus meinem Adlerschnabel drang ein schrilles Kreischen. Von Leni war nur ein ausgelassenes Jubeln zu hören. Noch war nichts passiert, wir fielen nebeneinander in die Tiefe. Komischerweise fing das ganze an, Spaß zu machen. Ich entspannte mich langsam, vor allem, als Leni endlich die Flügel aufspannte, um ihren Fall zu bremsen. Ich schoss an ihr vorbei wie an einem Fallschirmspringer, der seinen Fallschirm geöffnet hatte und vom Wind nach oben geweht wurde.
Erleichtert spreizte auch ich die Flügel und legte die Federn so an, das die Luft nicht mehr durchkam. Mit einer leichten Bewegung zog ich hoch zu Leni, die ein Stück vor mir gestoppt hatte.
»Gib zu, dass du es toll fandest«, meinte Leni sanft zu mir.
»Äh, ja, war schon cool«, gab ich zu. Vorsichtig beobachtete ich sie. Dieser Ton eben hatte mir etwas Sorgen gemacht.
»Weißt du, was ich am besten fand?«, fragte sie mich leise, im selben komischen Ton. Mir war das irgendwie nicht geheuer.
»Nein...?«
»Das WIR das ZUSAMMEN gemacht haben.«, hauchte sie mir in den Kopf.
Oh oh, das lief irgendwie aus dem Ruder! Was wollte sie hören?
»Äh, ja. War cool.«, wiederholte ich. Damit gab sie sich zum Glück zufrieden.
Wir glitten durch die Nacht, beinahe ohne einen Ton zu verursachen. Ich genoss es zu fliegen.
Aber plötzlich merkte ich, dass Leni mir immer näherkam. Unsere Flügelspitzen berührten sich kurz. Ich musste mich beherrschen, um nicht zurückzuweichen. Das fühlte sich... falsch an. Und je länger wir so nebeneinander herglitten, desto unangenehmer wurde es mir. Ich fühlte mich eingeengt, es drückte mir fast die Luft ab.
»Schön, dass ich so einen tollen Moment mit dir teilen kann.«, hauchte Leni. Das gab mir den Rest.
»Wir sollten zurück.«, beschloss ich. Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ruckartig tauchte ich ab, um von Leni wegzukommen. Ich brauchte Freiraum, Privatsphäre, Abstand!
Das war so peinlich gewesen, ich hätte mich am liebsten irgendwo versteckt. In einem Höllentempo schoss ich davon, drehte einige komplizierte Manöver, um einen Vorsprung zu haben und landete auf der Klippe. Ohne stehen zu bleiben raste ich direkt weiter zu dem Busch, hinter dem meine Klamotten lagen. Hier fühlte ich mich sicher.
Auch wenn ich wusste, dass ich mich Leni gegenüber wie der größte Tsunami der Küste verhalten hatte. Warum war das nur alles so kompliziert?!
»Hey Sky, wo bist du?«, rief da auch schon Lenis Stimme. Einen Augenblick später hörte ich flatternde Flügelschläge, dann Krallen auf dem glatten Stein, als sie landete.
»Hier. Sorry das ich so weggeflogen bin, ich dachte nur...«, oh je, was hatte ich mir da nur wieder eingebrockt? Jetzt musste ich auch noch eine Erklärung für mein Verhalten liefern!
»...ich dachte, ich stürze gleich ab. Bin noch nie so lang geflogen.«, schwindelte ich und hätte mich im selben Moment dafür ohrfeigen können. Jetzt stand ich als der Vogel da, der nicht fliegen konnte!
»Oh. Okay. Da muss man natürlich aufpassen.«, meinte Leni. Zum Glück klang sie, als würde sie mir das ganze glauben. Ich hörte ein Rascheln, dann ertönte ihre Menschenstimme.
„Kommst du? Wie du gesagt hast, wir sollten zurück."
»Ich brauch noch für die Verwandlung...«, schickte ich ihr in den Kopf. Wieder gelogen! Und wieder hörte ich mich an wie ein Trottel!
„Klar, kein Problem", flüsterte sie. Immerhin schien sie nicht zu denken, ich sei doof.
Seufzend konzentrierte ich mich auf die Verwandlung. Eine Minute später kam ich als Menschenjunge hinter dem Gebüsch hervor. Leni hob sich in ihren blauen Klamotten kaum vom dunklen Nachthimmel ab. Sie kam lächelnd auf mich zu und legte die Arme um meine Schultern. Dann sah sie mir aus nächster Nähe tief in die Augen.
Sie wollte doch nicht...?!
Bevor sie auf dumme Gedanken kam, drückte ich sie meinerseits an mich. Gerade noch mal gut gegangen!
„War echt cool mit dem Sprung und so. Vielleicht kommen nächstes Mal noch mehr von den anderen mit.", schlug ich unschuldig vor, um ihr klarzumachen, dass ich mich NICHT nochmal alleine mit ihr treffen wollte.
„Eher nicht. Ich will das mit dir machen. Zu zweit.", erklärte Leni mir. Oh nein, wie sollte ich aus der Nummer nur wieder rauskommen?
„Äh, okay", erwiderte ich automatisch. Mist! Jetzt steckte ich noch schlimmer in Schwierigkeiten als vorher!
Leni lächelte selig. Da brachte ich es auch nicht mehr übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.
„Gehen wir?", fragte ich und bot ihr peinlicherweise den Arm an. Wie dumm von mir! Jetzt sah es so aus, als wären wir schon zusammen! Ich wollte meine Bewegung in einen Fingerzeig Richtung Schule abwandeln.
Doch zu spät, Leni hakte sich strahlend bei mir unter. Sie hatte definitiv Schmetterlinge im Bauch. Es tat mir so leid, dass sie sich Hoffnungen machte. Aber wie sollte ich es ihr erklären, ohne ihre Gefühle zu verletzen? Das war wahrscheinlich nicht möglich. Also schwieg ich und ging mit ihr zurück durch den Wald zur Schulwiese.
Am Waldrand trennten wir uns.
„Bis morgen, Sky.", flüsterte Leni mir zu. Ich nickte nur und murmelte etwas Unverständliches. Dann beeilte ich mich, in meine Hütte zu schlüpfen. Vorsichtig öffnete ich die Tür zu meinem Zimmer. Zum Glück war sie noch ganz neu, sodass sie nicht einmal knarrte. Als ich allerdings hindurchschlüpfte und sie hinter mir schloss, war ich es, der vor Schreck fast aufgeschrien hätte. Ein gelbes Paar Augen starrte mich aus der Dunkelheit an. Was war das?! Ich kiekste vor Schreck, als die Augen sich bewegten, und tastete hektisch nach dem Lichtschalter.
Endlich traf ich, die Deckenlampe flackerte und grelles Licht erhellte den Raum. Ich kniff geblendet die Augen zu. Auch das Monster mir gegenüber blinzelte.
»Mach das sofort aus! Nicht das uns jemand erwischt! Um DIE Zeit dürfen wir SICHER nicht mehr auf sein!«, japste Shivas Stimme in meinem Kopf.
Ich zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Da erkannte ich ihn endlich: Mein Mitbewohner saß in seiner Graureihergestalt auf dem Bett und blickte mir leicht panisch entgegen.
Ich haute auf den Lichtschalter und die Beleuchtung erlosch. Shiva zuckte zusammen, als meine Faust auf den Schalter knallte. Ups, das war etwas zu fest gewesen. Aber egal, Hauptsache wir waren nicht erwischt worden. Ich tastete mich durchs dunkle Zimmer zu meinem Bett und fischte meinen Schlafanzug vom Boden. Müde schlüpfte ich ins Oberteil und streifte mir die Hose über.
»Was hast du so lang gemacht?«, erklang plötzlich Shivas strenge, misstrauische Stimme in meinem Kopf.
„Ich war noch eine Runde fliegen", behauptete ich. Das war immerhin die halbe Wahrheit. Shiva schien mir zu glauben.
Dennoch musste ich mir noch viel anhören wie:
»Das wird jetzt aber nichts Regelmäßiges, hoffe ich.«
»Was soll ich machen, wenn jemand kommt und nach dir fragt?«
»Du solltest dich an die Regeln halten, Sky!«
Irgendwann hörte ich einfach nicht mehr hin und schlief ein.
Ich träumte von Klippen, Matheaufgaben und gelbäugigen Monstern. Und immer wieder von Leni.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich, als hätte mir jemand einen Hammer über den Kopf gezogen. Müde grapschte ich nach dem Wecker, um das nervige Klingeln abzustellen. Schnell döste ich wieder ein. Ich war gestern echt spät ins Bett gekommen!
Erst als der Wecker zum zweiten Mal schrillte, konnte ich mich zum Aufstehen überwinden. Als ich mich gewaschen und angezogen hatte, fühlte ich mich endlich wach. In der Schulmensa lief ich gut gelaunt zum Windwalker-Tisch. Ich kam allerdings nicht dort an. Leni fing mich am Buffet ab, sie schien auf mich gewartet zu haben.
„Hey Sky, Wollen wir nochmal fliegen? Vor dem Unterricht?", fragte sie mich. Ich konnte nicht rechtzeitig antworten, sie hatte sich bereits bei mir untergehakt und nahm mich mit zur Klippe.
Das ging irgendwie etwas zu schnell. Der letzte Flug war wirklich peinlich gewesen, aber der Sprung hatte Spaß gemacht.
„Na gut. Bin dabei. Lass uns fliegen!", rief ich, was Leni mit einem Nicken beantwortete.
„Let's gooo!", schrie sie und stürzte sich den Felsen hinab. Im Fall begann sie, sich zu verwandeln. Wow, das sah cool aus! Ich beschloss, es auch so zu machen. Übermütig sprang ich über den Rand der Klippe. Leni vor mir war schon zur Adlerin geworden und bremste ihren Fall bereits wieder. Ich wartete noch einen Moment und genoss den Sturz. Allerdings war ich jetzt schon wirklich weit unten. Oh oh, das würde knapp werden! Ich schlug mit den Flügeln, so fest ich konnte. Nichts geschah. Da fiel es mir siedend heiß ein: ICH HATTE MICH NOCH GAR NICHT VERWANDELT! Mir war klar, dass mir die wenigen Sekunden bis zum Eintauchen ins Meer nicht reichen würden. So schnell es ging drehte ich mich noch irgendwie in der Luft, um keinen Bauchklatscher hinzulegen. Mit den Füßen voraus knallte ich ins Wasser. Glück gehabt, durch die Drehung hatte ich mich nicht verletzt.
Vorsichtig sah ich mich unter Wasser um. Erst sah ich nur tiefes blau. Der Meeresgrund war zu weit weg, ich konnte ihn nicht sehen. Alles, was ich erkennen konnte, waren ein Seetang-Wald etwa 100m entfernt und ein paar wenige Fische. Plötzlich tauchte allerdings ein Schatten vor mir auf. War das ein HAI?! Ich versuchte wegzukommen, aber bald merkte ich, dass das kein Fisch war. Es war ein Mensch!
Und dann erkannte ich sie: Ein dürres, hübsches Mädchen, umwallt von ihren dunkelbraun-schwarzen Haaren. Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Überwältigt starrte ich sie an. Unfähig, irgendwas zu sagen oder zu denken.
„Nele", hauchte ich.
„Sky! Oh, ich bin so froh, dass ich dich hier gefunden habe!", in der Stimme meiner Schwester schwang alles mit. Unfassbares Glück, Jubel, Verblüffung und Freude.
„Warum...?", fragte ich, aber Nele grinste nur.
„Das ist Wunderwasser", erklärte sie mir Augenzwinkernd. Ich war viel zu glücklich, um mich darüber aufzuregen, dass meine Schwester mich veräppeln wollte.
Ich wollte sie an mich reißen, drücken, festhalten, nicht mehr gehen lassen. Aber ich kam nicht zu ihr.
„Wir können uns nicht umarmen, Sky.", erklärte sie mir entschuldigend.
Was meinte sie? Warum konnte sie mich nicht umarmen? Mochte sie mich nicht mehr?!
„Das ist nur Technik...", sie tippte gegen etwas zwischen uns. Ich verstand gar nichts mehr.
Hatte sie etwa Alkohol getrunken?
Meine Schwester grinste angesichts meiner dummen Miene. Dann schoss sie auf mich zu und stoppte kurz vor mir.
„Auflachen, Sky!", forderte sie mich auf und berührte mich sanft an der Schulter.
„Hey, das Kunststück war doch keck!", rief sie und schüttelte mich leicht.
„Ja! Du hast mich echt erschreckt!", beklagte ich mich. Meine Stimme hörte sie komisch leise an, irgendwie schläfrig.
„WOLLEN SAHNE SKY!", schrie Nele plötzlich.
Ich zuckte zusammen. Was war plötzlich in sie gefahren?! Ich wollte ein Stück wegschwimmen, konnte mich aber komischerweise nicht mehr vom Fleck bewegen.
Ganz langsam verarbeitete mein Gehirn Neles Worte. Erst jetzt realisierte ich, dass sie mehr wie „Wolken an Sky" geklungen hatten.
Verwirrt blickte ich mich um.
„Wolken...? Hier unter Wasser...??", murmelte ich.
„Du verpasst noch das Frühstück, Sky!", rief Nele mit komischer Stimme. Viel zu tief und zu... jungenhaft. Das klang nicht nach meiner Schwester!
Auch die eh schon verschwommene Wasserlandschaft wurde immer unschärfer. Ich kniff geblendet die Augen zu, als vor mir ein helles Licht aufleuchtete.
Neles Gesicht blieb, aber seit wann trug sie ihre Haare so kurz? Und warum war ihre Hautfarbe plötzlich so dunkel?
„Los jetzt, aufstehen!", forderte mich plötzlich eine Bekannte Stimme auf.
„Shiva...?", murmelte ich verschlafen und sah mich um.
„Seit wann bist du hier im Wasser?", fragte ich verwirrt.
Shiva legte den Kopf schief. Er schien nachzudenken.
„Ich weiß ja nicht, was du geträumt hast,", meinte er schließlich, „aber du hast gestrahlt ohne Ende!"
Geträumt?
Ich setzte mich auf und stellte fest, dass ich in meinem Zimmer war. Shiva grinste.
„Ja. Es war wirklich schön", meinte ich tonlos. Nur ein Traum! Oh man!
Die Enttäuschung schnürte mir die Kehle zu. Es traf mich wie ein schlag in den Magen. Meine Schwester war nicht hier, sondern weiter entfernt denn jeh!
„Wie gesagt, wir sollten zum Frühstück.", meinte Shiva, der von meiner Trauer nichts mitbekommen hatte. Seufzend zog ich mich an und schlurfte ihm nach zur Mensa.
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...