Nach dem längsten Schultag meines Lebens schleppte ich mich in mein Zimmer. Endlich konnte ich in Ruhe Trübsal blasen! Ich wollte mich nur noch unter meiner Decke verkriechen und schlechte Laune haben. Da hatte ich Nele endlich wieder gesehen und dann hatte sie sich als Traumgestalt erwiesen! Meine Enttäuschung war auch nach dem langen Schultag noch nicht verschwunden, im Gegenteil: Ich fühlte mich noch schlaffer als am Morgen.
„Komm, Sky, mach Hausaufgaben! Wir wollen noch zu den Windwalkern!", nervte mich Shiva, der schon als Junge an seinem Schreibtisch hockte und am Stiftende kaute.
„Ja ja, ich mach ja schon.", grummelte ich. Als ich mich allerdings an die Aufgaben machen wollte, ging plötzlich die Tür auf.
„Sky. Avery hat mich geschickt dich zu holen. Komm mit.", erklang eine scharfe, eiskalte Stimme hinter der Tür. Ich zuckte zusammen. Ein kleines, schlankes Mädchen mit dünnen, hellbraunen Haaren trat ins Zimmer ein. Es war Nicola, die Kauz-Wandlerin. Sie hielt sich aufrecht, als hätte ihr jemand einen Stock in die armeegrüne, gemusterte Jacke eingenäht. Verwirrt blickte ich zu Shiva, der aber auch nicht zu wissen schien, was ich tun sollte.
„Komm mit. Du solltest Avery nicht warten lassen.", sagte Nicola zu mir. Ihr Gesicht sah aus wie in Stein gemeißelt und auch ihre Stimme verriet nichts.
„Okay okay, ich komm ja schon", antwortete ich. Sie nickte knapp und ging mit langen, festen Schritten voraus. Ich eilte hinterher. Sie führte mich auf die Party-Lichtung, wo schon Avery, Yuna und Vincent standen.
Averys Gesicht verriet nichts. Yuna sah eher fröhlich aus und Vincent war anscheinend stolz, dass er hier war. Ich schloss daraus, dass es ja wohl nichts Schlechtes sein konnte, wofür mich Avery herbestellt hatte.
So kann man sich täuschen.
Als wenig später Leni mit Patrik auf den Platz kam, legte das Schneeeulenmädchen los.
„Sky und Leni. Mir ist zu Ohren gekommen, was ihr gestern Abend gemacht habt. Wollt ihr mir das ganze nochmal aus eurer Sicht erzählen oder soll ich einfach Yunas Version nehmen?", fragte Avery mit kalter Stimme.
Darum ging es also! Oh nein, dabei war mir diese komplette Veranstaltung doch so peinlich! Dennoch würde ich mich jetzt vor unserer Anführerin dafür rechtfertigen müssen. Ich straffte die Schultern.
„Wir haben nichts falsch gemacht, Avery. Wir sind eine Runde über die Klippen geflogen, nachdem Leni mir beim Lernen für die Schule geholfen hatte. Du kannst uns dafür nicht bestrafen.", erklärte ich laut und bemühte mich, meine Stimme ruhig und fest klingen zu lassen. Leni stand etwas eingeschüchtert neben mir, wirkte jedoch, als wäre sie der gleichen Meinung. Avery überhörte meinen Einwurf.
„Zum einen habt ihr die anderen unserer Clique ausgeschlossen, zum anderen die Schulregeln gebrochen. Außerdem habt ihr das ganze verdächtig ruckartig abgebrochen. Und ich will gar nicht wissen, was ihr sonst noch so hinter unserem, hinter meinem Rücken gemacht habt!" Beim letzten Satz wurde die Stimme unserer Anführerin immer schriller. Ihre Augen schienen Funken zu sprühen und es sah aus, als wolle sie sich auf uns stürzen.
Ohne es zu wollen schickte ich ihr einen strengen, warnenden Blick. Sofort fing sie sich wieder. Anders als Leni, die ihre Schüchternheit offensichtlich vergessen hatte.
„Was soll das heißen! Du bist nicht unsere Königin! Für Strafen sind – und auch nur bei gutem Grund – die Lehrer zuständig!", rief das Habichtsadler-Mädchen aus. Avery schwieg.
„Wessen Idee war das?", fragte sie schließlich. Noch während ich überlegte, ob ich behaupten sollte, ich sei schuld, trat Leni einen Schritt vor.
„Das war mein Vorschlag und ich bereue ihn keinesfalls! Du kannst nicht über unser Privatleben entscheiden, Avery!", rief sie ärgerlich.
„Doch.", erwiderte die Anführerin eiskalt. Mir blieb der Mund offen stehen. Das war eine Ansage! Wieder einmal erschrak ich vor so viel Hochnäsigkeit und Selbstliebe. Ich beschloss, etwas zu unternehmen.
„Avery.", meldete ich mich zu Wort, während mich sie missbilligend ansah.
„Wir hätten dir und den anderen Windwalkern vielleicht Bescheid sagen können. Nächstes Mal denken wir daran.", versprach ich ihr.
„Nächstes Mal?", äffte Avery mich nach, „Ihr werdet so was nicht nochmal machen!"
„Ja ja, okay. Wir hätten es dir sagen sollen.", stimmte ich brav zu und hoffte, das Gespräch damit beenden zu können.
Tatsächlich sah Avery schon sehr viel besänftigter aus. Leider war Leni noch nicht fertig.
„Das ist wirklich gemein! Du versuchst, uns für etwas zu bestrafen! Dazu hast du kein Recht! Wir dürfen doch selbst bestimmen, was wir machen. Als gute Anführerin unserer Clique solltest du das verstehen!", ereiferte sie sich.
Avery schenkte ihr einen tödlichen Blick.
„Das klären wir allein, Leni. Bis später, Sky." Mit einer knappen Handbewegung scheuchte mich die Anführerin weg. Nicola begleitete mich. Im Gehen hörte ich noch, wie Avery hinter uns anfing zu schimpfen. Beim großen Wind, das klang nicht gut! Arme Leni. Hoffentlich nahm sie sich das Ganze nicht zu sehr zu Herzen!
Als Nicola mich bei meiner Hütte abgeliefert hatte, nickte sie knapp und marschierte dann davon, ohne sich nochmal umzudrehen.
„Zum Glück ist sie weg!", murmelte ich. Ich mochte Nicola nicht, sie war viel zu steif, besaß keinerlei Humor und außerdem hatte ich sie noch nie lachen sehen.
„Finde ich auch.", antwortete Shiva, der mittlerweile anscheinend mit den Hausaufgaben fertig war. Er saß auf dem Bett und hatte ein Buch gelesen. Jetzt sah er mich gespannt, aber auch ein bisschen besorgt an.
„Was war los? Warum hat Avery dich bestellt?", fragte er nervös. Ich beschloss, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Wenn Avery es wusste, würde ohnehin bald die ganze Clique informiert sein.
„Ich... war ja gestern fliegen.", fing ich an.
„Jaaaa...?", fragte Shiva vorsichtig.
„Also, es ist so. Ich... war nicht allein. Äh... es... also... ich...", stammelte ich. Was sollte ich sagen? Wie konnte ich es erklären?
Ich atmete tief durch und brachte es hinter mich: „Leni hat mich eingeladen. Avery war damit aber nicht einverstanden und hat uns eine ordentliche Standpauke erteilt." Verlegen stand ich herum und hörte mir Shivas Gelächter an.
„Du...bist mit ihr...geflogen?!...Beim großen...Windsto-ho-hoß!", brachte er prustend hervor.
„Was? Warum lachst du?", fuhr ich ihn an. Shiva bekam vor Schreck einen Schluckauf und kicherte hicksend weiter.
Fünf Minuten später kam er endlich dazu zu fragen, wie das Gespräch ausgegangen war.
„Naja. Ich wurde weggeschickt und Leni bekommt gerade nochmal extra-Ärger", berichtete ich. Shiva sah mich besorgt an.
„Oh je. Klingt nicht gut. Gerupfte Feder!", rief er theatralisch.
„Naja, wir können nichts dagegen tun. Avery wird ihr schon nicht den Kopf abreißen!", scherzte ich.
„Stimmt. Dann kann ich ja endlich weiterlesen.", stellte Shiva desinteressiert fest und senkte den Blick wieder auf sein Buch.
Ich setzte mich endlich an den Schreibtisch und brachte die blöden Hausaufgaben hinter mich.
Etwa eine Stunde später war ich endlich fertig. Ich beschloss, noch ein bisschen an meinem neuen Handy herumzuspielen und vor allem mal die ganzen Apps abzuchecken. Ich zog den Zettel meiner Oma aus der Schreibtischschublade und machte mich erstmal daran, das Hintergrundbild zu ändern. In der Fotomediathek waren ein paar alte Bilder von mir, Nele, unseren Eltern und der Wavebird Star, unserem Schiff. Die hatte mir meine Oma weitergeleitet. Das letzte war am Tag unserer Abreise aufgenommen worden. Ich wählte es als neues Hintergrundbild aus.
Damals war ich fünf gewesen und hatte skeptisch in die Kamera geschaut. Nele sah abenteuerlustig aus und unsere Eltern strahlten von der Reeling herunter. Mein Vater winkte in die Kamera. Ich konnte mich noch gut an diesen Tag erinnern, als wir das Festland verlassen hatten. Es war einer der besten Tage meines Lebens gewesen.
Ich las mir den Zettel noch einmal durch. Beim dritten Punkt blieb ich hängen.
Geh mal in die Telefon-App! Kleine Überraschung ;)
Aufgeregt drückte ich auf das Telefonhörer-Symbol. Die App öffnete sich. Ich erstarrte. Wow. Nein. Ich konnte mich nicht bewegen, starrte einfach nur auf den Bildschirm. Zitternd hob ich eine Hand und drückte auf das Display. Eine neue Seite öffnete sich. Überwältigt starrte ich den Namen an, den das Handy mir anzeigte: Nele. Es stand auf dem glatten Bildschirm wie selbstverständlich. Darunter waren Tasten mit den Aufschriften „Nachricht", „Anrufen" und „FaceTime". Soweit ich wusste, war das eine Art Videoanruf.
Ich stürzte mich auf den Zettel, um nach einem Hinweis für einen schlechten Scherz zu suchen. Aber ich fand nichts.
So schnell ich konnte schnappte ich mir das Handy und rannte nach draußen in das kleine Wäldchen hinter der Schule. Kaum hatte ich die ersten Bäume hinter mir gelassen, konnte ich nicht mehr weiter. Meine Beine zitterten, als ich mich ins Moos fallen ließ. Es war kühl, ich hatte keine Jacke angezogen. Doch ich spürte die Kälte nicht, in meinem Kopf war jetzt kein Platz für so etwas.
Ganz langsam hob ich die Hand und näherte mich dem „FaceTime"-Symbol. Doch ich konnte es nicht antippen. Mein Finger blieb in der Luft hängen. Zitternd schwebte er über der Taste, aber ich war viel zu nervös, um sie zu drücken. Wieso eigentlich? Ich wollte Nele so unbedingt wiedersehen, eigentlich müsste ich mich freuen, anrufen und glücklich mit meiner Schwester quatschen. Aber ich konnte nicht. Vielleicht, weil ich Angst hatte, dass sie sich vielleicht gar nicht mehr für mich interessierte. Ob sie mich überhaupt sehen wollte. Oder ob ich mit meinem Anruf nur störte.
Schließlich gab ich mir einen Ruck. Nele war meine Schwester, sie würde sich sicher freuen! Ich drückte auf den grünen Knopf. Als das Handy anfing zu tuten, erschrak ich so sehr, dass es mir aus der Hand rutschte. Zum Glück fiel es ins Moos, sodass es nicht kaputt ging. Mit zitternden Fingern hob ich es wieder auf. Ich war aufgeregter als an meinem ersten Schultag! Auf dem Bildschirm sah ich mich schon selbst, so, wie Nele mich gleich sehen würde. Sobald sie ran ging. Nervös kämmte ich mir mit den Fingern durch die Haare, zupfte meinen Pullover zurecht und überprüfte abermals meine Frisur, während ich wartete. Quälend langsam verstrichen die Sekunden, sie fühlten sich wie Stunden an. Warum nahm Nele nicht ab? Wollte sie mich nicht sprechen? Hatte ich was falsch gemacht?
Wieder und wieder strich ich mir durch die Haare, während ich den Bildschirm genauestens beobachtete. Sekunde um Sekunde verstrich. Warum ließ Nele mich so lange warten? Ich wurde immer nervöser. Gleichzeitig spürte ich, wie meine frische Hoffnung langsam schwand. Warum wollte Nele nicht mit mir sprechen?
Wahrscheinlich hing sie gerade mit ihren neuen Freunden herum und war zu cool für mich geworden! Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. So ließ ich mich nicht behandeln! Wieder tutete das dämliche Handy. Diesmal reichte es! Ich presste den Finger auf den roten Hörer und legte auf. Wie von selbst drückte ich auf „Nachricht". Meine Finger flogen nur so über die Tasten. Ehe ich mich versah, stand in dem kleinen Feld:Was sollte das? Denkst du, nur weil du aufs College gehst, bist du jetzt was Besseres? Dann halt nicht! Bitte, ich brauch deine Unterstützung nicht, ich krieg das auch alleine hin! Mach doch, was du willst, ist mir eh egal!
Das klang vielleicht etwas zu gemein. Einige Stellen sollte ich nochmal bearbeiten, damit... NEIN! Plötzlich explodierte ich innerlich. Das hatte Nele so was von verdient! Wutentbrannt und ohne nochmal darüber nachzudenken versendete ich die Nachricht. Ha! Nimm das, Nele! Schadenfroh beobachtete ich den Bildschirm. Kurz darauf erschien die Meldung:
Gelesen um 15.36.
Genugtuung erfüllte mich. Das hatte sie davon, dass sie so gemein gewesen war! Ich schaltete das Handy aus und steckte es ein. Mittlerweile war es wirklich eiskalt geworden. Ich fröstelte auf dem Weg zu meiner Hütte. Drinnen zog ich eines meiner Bücher hervor. Ich hatte Lust, ein bisschen zu schmökern.
Dennoch war ich nicht ganz bei der Sache.
Tief in mir war ein einziger, schwarzer Trauerkloß. Ich hatte meine Chance, Nele wieder zu sehen, vermasselt. Nach dieser Nachricht wollte sie wahrscheinlich erst recht nichts mehr mit mir zu tun haben! Ich hatte wirklich überreagiert. Irgendwann steckte ich das Buch weg und hockte mich auf mein Bett. Tränen tropften auf meine Decke. Ich legte mich hin, zog den Kopf ein, schloss die Arme um meine Beine und weinte. So lange, bis ich mich vollkommen leer fühlte.
Endlich war ich nicht mehr traurig. Jetzt war es mir fast egal. Sollte Nele doch machen, was sie wollte! Sie konnte mir hier doch eh nicht helfen. Dafür war sie zu weit weg, egal, wie oft wir telefonierten. Ich genoss die Stille. Doch plötzlich ertönte ein Klingeln. Langsam richtete ich mich auf und starrte auf mein Handy. Es vibrierte, tutete und klingelte wie verrückt. Auf dem Display stand es: Nele. Sie rief mich an! Sollte ich rangehen? Ja, ich wollte es unbedingt! Energisch drückte ich auf den grünen Knopf und wirklich, da war sie. Nele. Meine wunderbare große Schwester Nele.
Ich hörte ihre schöne, klare, wunderbar vertraute Stimme, die zu mir sagte: „Sky. Du glaubst nicht, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen."
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...