19: Theorie

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Ich hatte keine Zeit mehr, Nele noch einmal anzurufen. Zumindest hatte ich ihr das geschrieben. In Wirklichkeit hatte ich einfach Angst davor, sie nochmal so komisch zu erleben; das würde ich nicht aushalten. Mama und Papa wussten noch nichts davon, auch unserer Oma hatte ich es nicht erzählt. Ich wusste einfach nicht, wie ich es ihnen sagen sollte, und gestern hatte Nele mir geschrieben, dass alles in Ordnung war, was mich etwas beruhigte. Sie hatte mir auch ein paar Fotos geschickt, um zu zeigen, dass sie ganz normale Sachen machte. Und ich mir keine Gedanken machen sollte.

Außerdem hatte ich jetzt sowieso keine Zeit, über meine Schwester nachzudenken. Denn heute war Samstag. Und nicht irgendein Samstag: Es war DER Samstag. Der Samstag, an dem die Zwischenprüfung stattfinden sollte. Als der Wecker klingelte, fuhr ich aus dem Schlaf hoch, sprang aus dem Bett und riss den Kleiderschrank so schnell auf, dass mehrere T-Shirts herausflogen.
„Wow Wow Wow! Chill mal!", beschwerte sich Shiva, der sich gerade im Bett rekelte.
„Sorry!", rief ich hektisch, schnappte mir mein Lieblings-T-Shirt und eine graue Jeans und rannte durch den Flur ins Bad. Als ich gerade die Tür aufreißen wollte, stand plötzlich Crowley vor mir.
„Hey. Was machst du? Warum bist du so nervös?", fragte er und klang dabei erstaunlich normal. Ich wunderte mich. Anscheinend hatte er heute noch keine Cola getrunken, ansonsten wäre er sehr viel überdrehter gewesen. Generell war es seltsam, dass er von Cola so betrunken wurde. Aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit.
„Äh, heute sind doch Prüfungen?", gab ich verwunderte zurück. Crowley erstarrte.
„PRÜFUNGEN?!", wiederholte er, „HEUTE?!?!" Ich nickte zögerlich und er schlug sich die Hände vor den Mund.
„Das wusste ich nicht!", flüsterte er. Ich sah ihn halb erschrocken, halb ungläubig an.
„Du hast nichts davon gewusst und nicht gelernt?", wiederholte ich besorgt, nur um sicher zu sein. Crowley nickte langsam und wurde dabei immer blasser. Weiß wie eine Wand und mit großen Augen sah er zu mir.
„Meinst du, ich schaff das noch?", fragte er zweifelnd. Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
„Sorry, ich habe so viel gelernt, das schaffst du nie an einem Morgen. Vielleicht kannst du dich krankmelden? Ich komm gern ins Sekretariat mit und wir sagen einfach, du hättest die ganze Nacht Fieber gehabt oder so? Mrs. Shygirl da was vorzuspielen, wird zwar nicht leicht, aber..."
„Wenn's bei dir klappt, klappts auch bei ihr.", unterbrach mich Crowley mit einem frechen Grinsen. Ich brauchte einen Moment, doch dann begriff ich.
„Du miese Elster!", beschwerte ich mich. Unfassbar, dass er mir so eine Geschichte erzählt hatte! Crowley hob abwehrend die Hände.
„Ich wollte nur helfen! Du bist so nervös, das riecht selbst ein normaler Mensch auf zehn Kilometer Entfernung! Ich dachte, ich erinnere dich mal daran, wie oft ich dich in den letzten Wochen ohne Schulbücher gesehen habe. Höchstens... dreimal. Du hast sogar in der Mensa deine Zettel mit dabeigehabt - wenn du überhaupt zum Essen erschienen bist. Und Leni hat so viel Mathe mit dir gemacht, dass ich schon dachte, ihr würdet euch heimlich zum Knutschen im Baumhaus treffen. Also entspann dich." Crowley grinste frech und hob dann lässig die Hand.
„Ich geh Frühstücken. Bis gleich!"
„Oh äh ja also danke! War eine gute Idee mit dem Scherz, den solltest du unbedingt auch noch bei ein paar anderen machen!", rief ich ihm noch nach.
„Ja, auf jeden Fall!" Und weg war er. ich sah im nach. Er war ja doch ein recht guter Freund. Schade, dass er bald wieder so viel Cola trinken würde, bis er komplett durchdrehte. Ich hoffte für ihn, dass er damit bis nach der Prüfung wartete.

Wir saßen alle in der Aula. Es war unangenehm, keiner sagte etwas. Nur manche - darunter auch ich - gingen im Flüsterton nochmal ihre Aufzeichnungen durch. Dann wurde es still, als der Schulleiter das Podium betrat und anfing zu sprechen.
„Der heutige Samstag entscheidet für euch einiges. Heute finden die Zwischenprüfungen statt. Es gibt einen praktischen und einen theoretischen Tag. Welcher heute ist, findet ihr gleich heraus! Es wird jetzt folgendermaßen ablaufen: Wir Lehrer haben euch schon im Vorhinein in Gruppen eingeteilt. Die ersten aller fünf Gruppen werden gleich aufgerufen und in einen Raum eingeteilt. Dort müsst ihr dann hingehen, drinnen wartet ein Lehrer oder eine Lehrerin auf euch und erklärt euch eure Aufgabe. Seid nicht zu nervös, nutzt das, was ihr in den letzten Tagen gelernt habt, und passt in der Aufgabenstellung gut auf: Ein Wolfskörper mit Menschenkopf ist nicht das gleiche wie ein Menschenkörper mit Wolfskopf!", warnte er uns.
„In diesem Sinne: Viel Glück euch allen. Ganz besonders Faeye, Vera, Sky, Vincent und Phil, die als erste dran sind! Ihr geht jetzt hoch, Mrs. Forester zeigt euch dann, in welches Zimmer ihr müsst. Ab jetzt dürft ihr nicht mehr miteinander sprechen oder in Gedankensprache kommunizieren. Wer dabei erwischt wird, fällt durch. Viel Glück!", beendete Mr. Blackheart seine Ansprache. Na toll, jetzt war ich auch noch einer der ersten! Ich wand mich innerlich. In mir sträubte sich alles dagegen, jetzt mit Mrs. Forester mitzugehen, die uns nach oben führen und aufpassen würde, dass wir nicht mehr miteinander sprachen. Doch ich musste mitkommen. Shiva versuchte, mich aufmunternd anzulächeln, doch er schnitt nur eine grauenhafte Grimasse, so nervös war er. Leni drehte sich zu mir um und zeigte mir den hochgereckten Daumen. Faeye grinste mich an. Auch Avery schenkte mir einen kurzen Blick. Immerhin glaubten meine Freunde an mich. Ich straffte die Schultern, stand auf und ging den anderen hinterher. Vincent hatte einen starren Blick aufgesetzt, um seine Nervosität zu überspielen (Was nicht wirklich klappte), Phil hielt die Augen geschlossen und schien in Gedanken nochmal durchzugehen, was er gelernt hatte, und Vera starrte mit nüchterner Miene gerade aus. Selbst Faeye plapperte ausnahmsweise nicht, sondern sah mit ernstem Gesicht vom einem zum anderen. Ich versuchte, mich nur auf mich selbst zu fokussieren, was nicht leicht war.
»Ich kann das.«
»Ich habe wochenlang gelernt.«
»Weil ich nichts verstanden habe...«
„Faeye. Hier rein bitte.", hörte ich Mrs. Foresters Stimme im Hintergrund.
»Was wenn ich es noch immer nicht verstand?«
„Vera, hier rein"
»Wenn ich mir nur einbildete, gut genug zu sein?«
„Sky, bitte geh rein" Sie hielt mir die Tür von Klassenzimmer drei auf.
Was, wenn ich durchfiel?! NEIN., energisch schob ich diese Gedanken beiseite, Ich schaffe das. Ich habe genug gelernt. Ich kann es. Dann atmete ich tief durch und trat ins Klassenzimmer ein. Drinnen standen die Tische anders als sonst, sie waren einzeln mit jeh einem Meter Abstand aufgestellt worden. Es war schon so eine angespannte Atmosphäre, und die Prüfungsbögen auf jedem zweiten Tisch halfen nicht gerade.
„Hallo, Sky.", begrüßte mich Mr. Jolly und wies auf einen Stuhl.
„Setzt dich bitte hier hin. Deine erste Prüfung ist Englisch. Du hast vierzig Minuten Zeit, dann wirst du abgeholt und zur nächsten Prüfung gebracht. Viel Erfolg." Das ging jetzt aber schnell! Anscheinend waren auch die Lehrer heute angespannt, er hatte keinen einzigen seiner Witze gemacht. Sobald ich saß, verflog meine Nervosität, jetzt war ich konzentrierter denn jeh. Ich schlug die linierte Doppelseite des Prüfungsbogens auf und holte das Angabenblatt heraus. Mein Name stand schon drauf. Als ich mir die Aufgabe durchlas, wusste ich nicht ganz, ob das gut oder schlecht war. Ich sollte eine Argumentation für ein Tierschutzgebiet schreiben und darin überzeugend erklären, warum es nötig war, ein weiteres Schutzgebiet zu errichten. Ich war zwar nicht so wahnsinnig gut im Argumentieren, aber mein Schreibplan sah schon ganz gut aus. Ich schrieb den ersten Satz auf den Prüfungsbogen. Dann war ich kurz abgelenkt, als die Tür aufging und Bumble den Raum betrat.
„Hallo Bumble.", begrüßte Mr. Jolly sie leise und erklärte ihr, wo sie sich hinsetzen sollte und was die erste Prüfung war. Als es wieder still war, konnte ich mich glücklicherweise wieder besser konzentrieren. In den nächsten zehn Minuten schaffte ich beinahe die komplette Einleitung.
Als ich fast damit fertig war, ging erneut die Tür auf. Diesmal kam Alex hinein. Er wurde begrüßt und Mr. Jolly erklärte ihm, was er auch schon mir und Bumble erklärt hatte. Dann ging es weiter. Ich schrieb mein erstes Argument, formulierte es um, strich es wieder durch und schrieb ein neues auf. Doch auch das schien mir nicht gut genug zu sein und ich strich es ebenfalls wieder durch. Ich spürte, wie Panik in mir hochstieg. Mir fiel nichts mehr ein!
»Ganz ruhig bleiben.«, hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter in meinen Gedanken, »Du schaffst das. Sei nicht so nervös. Tief durchatmend versuchte ich, mich wiedr zu beruhigen und zu konzentrieren.« Ich schrieb ein neues Argument auf. Es war vielleicht nicht das Beste, was mir hätte einfallen können, aber ich war einigermaßen zufrieden. Kurz wurde ich unterbrochen, als wieder jemand hereinkam, dann allerdings schrieb ich mein zweites Argument. Ich brauchte insgesamt drei! Doch ehe ich mich versah, kam auch schon Summer herein und Mr. Jolly warnte mich leise:
„Du hast noch zehn Minuten" So schnell ich konnte schrieb ich ein drittes Argument auf. Mit dem Schluss hatte ich ein bisschen zu kämpfen, aber als Mr. Jolly mein Blatt einsammelte, war ich zumindest einigermaßen zufrieden.
Mrs. Twenty wartete vor der Tür auf mich. Faeye, Vera, Phil und Vincent kamen gleichzeitig mit mir aus den Klassenzimmern.
„Faeye bitte hier", Mrs. Twenty zog die Tür vom Klassenzimmer zwei auf und Faeye schlüpfte hindurch.
„Vera", unsere Hausmeisterin und Köchin öffnete die Tür vom Zimmer drei ein Stück. Vera schien nach der ersten Prüfung schon wesentlich lockerer zu sein, denn sie schlenderte ins Zimmer.
„Sky" Mrs. Twenty hielt die Tür von Klassenzimmer vier auf. Ich ging hinein.
„Guten Morgen Sky. Setz dich bitte ganz hinten hin, ich habe dir deinen Prüfungsbogen schon hingelegt.", begrüßte mich Mr. Darkcloud, der anscheinend die Aufsicht hatte.
„Deine nächste Prüfung ist Mathe. Du hast vierzig Minuten Zeit. Viel Glück und kein Stress!" Mathe also. Na super. Dann fiel ich wohl durch. Mit einem Seufzen ließ ich mich auf den mir zugewiesenen Stuhl fallen und drehte den Prüfungsbogen um. Ich erstarrte, aber nicht, weil es mir zu schwierig war. Im Gegenteil: Das konnte ich ja alles! Die plötzliche Energie, die mich durchfuhr, war wie ein Blitzschlag. Eifrig fing ich an, die Aufgaben zu lösen. Eine nach der anderen, nur ein paar Mal musste ich kurz nachdenken. Als Luan, der anscheinend der zweite in der vierten Gruppe war, abgeholt wurde, und Bumble reinkam, war ich schon mit der ersten Seite fertig. Zehn Minuten später, als Luna mit Alex tauschte, hatte ich die zweite und ein Stück von der dritten. Das ging echt schnell! Ich hatte noch zwanzig Minuten. Als Victor ging, war ich schon fast mit der vierten Seite fertig. In den letzten zehn Minuten, nachdem Summer sich auf Crowleys Platz niedergelassen hatte, wurde ich tatsächlich mit der letzten Aufgabe – der schwierigsten – fertig, und hatte sogar das Gefühl, dass ich richtig liegen könnte. Dann ging ich nochmal alles durch und suchte nach Flüchtigkeitsfehlern. Ich schaffte es nicht mehr ganz, alles zu kontrollieren, da meine Zeit ablief und Mr. Darkcloud mich wieder zu Mrs. Twenty schickte.
Die erwartete mich und die anderen wieder im Flur. Ich war sehr erleichtert, Mathe hinter mir zu haben. Jetzt konnte wirklich alles kommen, das Schlimmste war geschafft. Faeye sah ebenfalls glücklich aus, doch Vera wirkte geknickt und besorgt, als sie aus Englisch zurückkam. Leider durften wir immer noch nicht miteinander sprechen. Als nächstes schickte mich Mrs. Twenty ins Klassenzimmer fünf, wo ich meine Menschenkundeprüfung hatte.
Mrs. Forester hatte die Aufsicht und lächelte mir aufmunternd zu. Das war jedoch nicht nötig, denn als ich den Bogen öffnete, musste ich mir das Lachen verkneifen. Die erste Aufgabe lautete: „Erkläre, was man bei dieser Ampelfarbe tun muss" und darunter war ein Bild von einer roten Fußgängerampel. Ich schrieb, dass man stehen bleiben musste, da die Autos fahren durften. Wenn das so weiter ging, hatte ich eine geschenkte eins! In der zweiten Aufgabe allerdings stand: „So, das war eine kleine Aufwärmübung. Du kennst dich aber recht gut mit Menschen aus!" Dann sollte ich erklären, wie in Amerika der Präsident gewählt wurde. Super. Darüber hatten wir zwar erst gesprochen, doch ich hatte es nicht mehr komplett im Kopf. Ich war mir an einigen Stellen recht unsicher, aber schließlich hatte ich etwas auf dem Papier stehen, dass zumindest einigermaßen plausibel klang. Die restlichen Aufgaben waren zum Glück wieder etwas einfacher, sodass ich gerade noch rechtzeitig fertig wurde.
Als nächstes musste ich zur Physikprüfung ins Klassenzimmer eins, wo mich Mrs. Blackheart erwartete. Auch wegen Physik hatte ich mir Sorgen gemacht, doch ich merkte schnell, dass sie unbegründet gewesen waren. Ich wusste fast alle Formeln und Fachbegriffe, nach denen gefragt wurde, und auch in der Textaufgabe war ich mir relativ sicher, ganz gut gewesen zu sein. Ich überprüfte meine Lösungen dreimal, dann musste ich abgeben. Wenn mich nicht alles täuschte, war meine letzte Prüfung jetzt die Spanischprüfung im Zimmer zwei. Und so war es.
Spanisch war jedoch wieder recht schwierig, ich war mir bei einigen Wörtern nicht ganz sicher, was sie bedeuteten. Ich sollte zum Beispiel den Satz „Die Schule macht meistens Spaß, manchmal aber nicht" übersetzen. Ich wusste allerdings nicht mehr, was „manchmal" auf spanisch hieß. Also schrieb ich das Wort für „selten" oder „teilweise". Dann war die Zeit auch schon abgelaufen und ehe ich mich versah, stand ich wieder auf dem Flur.
Ich hatte es geschafft! Diesmal holte uns Mrs. Forester ab und brachte Faeye, Vera, Phil, Vincent und mich zurück in die Aula, wo Mr. Blackheart uns gratulierte, dass wir es geschafft hatten, und endlich wieder erlaubte, dass wir uns miteinander auszutauschten. Sofort wurde es lauter, obwohl wir nur zu fünft waren. Als allerdings zehn Minuten später die zweiten aus jeder Gruppe – darunter auch Avery und Bumble – zurückkamen, zogen wir Windwalker uns unauffällig zurück, um untereinander zu quatschen und uns über die viel zu schwierigen Aufgaben aufzuregen. Ich erfuhr, dass Vera in Englisch große Probleme gehabt hatte, passende Argumente zu finden, und sich jetzt große Sorgen machte, dass sie durchfallen könnte. Bumble tröstete sie und erzählte, dass sie Physik am schwersten gefunden hatte. Sogar Avery gab zu, sich in Menschenkunde schwer getan zu haben. Als wir über die Aufgaben diskutierten, erfuhren wir, dass diejenigen, die als Tier aufgewachsen waren, leichtere Prüfungsbögen bekommen hatten. Ich war erleichtert, dass zu hören. Jetzt machte ich mir nicht mehr ganz so viele Sorgen um Shiva, der beim Lernen vor allem in Menschenkunde große Probleme gehabt hatte. Hoffentlich wurde der praktische Teil morgen genauso leicht – oder wenigstens nicht sehr viel schwerer – als der theoretische heute!

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt