Als Avery in Begleitung von Mrs. Forester mit dem Krankenwagen davongefahren war, bestellte mich Mr. Blackheart in sein Büro. Das konnte ja heiter werden, er war noch nicht mal einen Tag lang wieder zurück und schon musste ich in sein Büro... na super. Wahrscheinlich wollte er mich fragen, ob ich Avery geschubst hatte oder so.
Ich klopfte an seiner Tür.
„Komm einfach rein, Sky", wurde ich gebeten. Also schob ich mich durch die Tür und setzte schonmal vorsorglich einen herausfordernden Blick auf. Mr. Blackheart wies auf einen der Stühle vor seinem Tisch und ich setzte mich. Stille folgte.
„Warum haben sie mich hergebeten?", fragte ich schließlich. Mr. Blackheart seufzte und lehnte sich über den Tisch zu mir.
„Sky... Ich möchte dich ein paar Sachen fragen.", erklärte er.
„Ich habe Avery nicht geschubst, falls sie das denken!", verteidigte ich mich, doch er schüttelte den Kopf.
„Nein, das denke ich nicht. Ich wollte eher fragen, wie viel du über Avery weißt." Ich sah ihn verwirrt an. Wollte er mich jetzt als Spion bei den Windwalkern einsetzen?
„Was ich meine, ist, ob du weißt, woher diese Panik-Welle kam. Als Schulleiter ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es euch Schülern gut geht, aber..." Er sah mich auffordernd an, seinen Satz zu vervollständigen.
„Ich glaube nicht, dass die Schule etwas damit zu tun hat,... es schien eher, als würde sie auf gar keinen Fall ins Krankenhaus wollen.", murmelte ich und hoffte, er würde sich damit zufriedengeben. Und tatsächlich, er seufzte nur ein weiteres Mal und richtete sich wieder auf.
„Na dann."
Und damit war ich entlassen. Ich schleppte mich in die Hütte und fiel ins Bett. Aber Müdigkeit hat leider nichts mit schlafen zu tun. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken herum wie bei einem Sturm auf See, ich schaffte es einfach nicht, mich zu entspannen.
Warum war Avery bei den Klippen gewesen? Mit wem hatte sie gesprochen? Warum war sie gestürzt? Wovor hatte sie solche Angst? Und vor allem: Warum hatte sie mich heute Nacht nicht fertiggemacht? Sie war überhaupt nicht feindselig gewesen!
In dieser Nacht bekam ich wenig Schlaf.
Als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, hätte ich ihn am liebsten an die Wand gepfeffert, mich umgedreht und weitergeschlafen. Doch ich quälte mich auf die Beine und schlurfte ins Bad, um mich fertig zu machen. In diesem Moment hasste ich Donnerstage sogar noch mehr als Montage. Zum Glück hatten wir heute wenigstens keinen Unterricht, das wäre schlimm gewesen.
Als ich mich fertiggemacht hatte, ging ich in die Mensa, um zu frühstücken. Die Windwalker diskutierten aufgeregt, Shiva, Faeye, Vera und Yuna waren jetzt wieder dabei und auch Vincent war da.
Shiva rätselte, ob Avery abgehauen sein könnte, Vincent behauptete, sie sei auf Geheimagenten-Mission und Crowley meinte, sie würde gleich unter dem Tisch hervorspringen und „Buh!" rufen.
Die verrücktesten Theorien kamen jedoch von Faeye.
„Vielleicht wurde sie entführt! Oder die Lehrer haben ihr Toilettenputzen aufgebrummt, fürs ganze Schuljahr. Nein, jetzt hab ich's: Sie liegt schwer verletzt in der Krankenstation!" Bei diesem Gedanken kicherte sie.
„Der, der sie dahingebracht hat, ist gleich tot." Vincent knackte scherzhaft mit den Fingerknöcheln. Ich atmete tief durch und ging zu ihrem Tisch.
„Was willst du, verschwinde!", wurde ich natürlich sofort angegiftet. Doch ich stellte mein Tablett auf ihrem Tisch ab, natürlich nicht in der Absicht, mich zu setzen.
„Zufällig weiß ich, wo Avery ist, und ich finde, ihr solltet es auch wissen.", erklärte ich ihnen. Jetzt hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit.
„Waren es Außerirdische? Oder eine Bande von Entführern? Oder etwa der Rat?", plapperte Faeye, bis Vera ihr den Ellenbogen in die Rippen rammte. Jetzt war es wirklich still. Alle warteten darauf, dass ich sprach.
„Es gab gestern einen Unfall an den Klippen.", erzählte ich, „Avery ist gestürzt und ist jetzt im Krankenhaus. Sie wird da wohl noch etwas länger bleiben müssen." Damit nahm ich mein Tablett, wandte mich um und ging unter den entsetzten Blicken der Windwalker davon zu einem freien Tisch. Hinter mir brach das Getuschel los und kaum hatte ich mich gesetzt, stand Faeye neben mir.
„Ich muss Neuigkeiten sammeln! Erzähl mir alles, was du weißt, das werde ich dann morgen in einem Artikel..." Doch ich unterbrach sie.
„Faeye, darüber wirst du nicht schrieben.", stellte ich klar, „Das ist jetzt echt nicht das Wichtigste." Das Kolibri-Mädchen sah betreten zu Boden.
„Okay. Aber... wie geht es ihr?", wollte sie schließlich wissen. Gerade kamen auch Shiva, Yuna und Vera dazu.
„Naja, den Umständen entsprechend.", wich ich aus.
„Also eher gut oder eher schlecht oder eher was dazwischen?", fragte Vera.
„Eher schlecht.", musste ich zugeben. Die Windwalker wechselten besorgte Blicke.
„Aber woher weißt du davon?", mischte sie nun auch Vincent ein, der ebenfalls dazugekommen war. Er knackte mit den Fingerknöcheln. War ja klar, dass er mich verdächtigte.
„Ich habe es gesehen.", erklärte ich knapp. Jetzt sah Yuna mich an. Sie sah ebenfalls besorgt aus und schien etwas fragen zu wollen, doch sie hatte es nicht verdient, gute Neuigkeiten zu bekommen. Als funkelte ich sie an und sie wandte sich ab. Vincent stand genau neben ihr, ich erwartete, dass er den Arm um sie legen würde... doch er tat es nicht. Jetzt mischte sich auch Nicola in das Gespräch ein, was so gar nicht ihre Art war.
„Wie kann es sein, dass Avery die Klippe runtergestürzt ist? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr das passieren würde. War außer dir noch jemand da?", fragte sie mit ihrer tonlosen Stimme. Vincent beäugte mich misstrauisch und sogar Faeye trat einen Schritt zurück.
„Hast du sie etwa geschubst?", wollte Vera drohend wissen.
„Nein, habe ich nicht. Und da ihr mich ja alle so sehr hasst, ist es sicherlich unter eurer Würde, mit mir zu sprechen und mich um Informationen anzuflehen.", meinte ich zuckersüß, wandte mich ab und begann zu essen.
„Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!", schallte die tiefe Stimme des Schulleiters durch die Aula, in der wir uns alle versammelt hatten.
„Ich werde jetzt allen, die das Ferienprogramm mitmachen, erklären, worum es gehen wird. Ich würde euch bitten, das dann auch an die drei weiterzugeben, die erst am Sonntag zurückkommen.", kündigte Mr. Blackheart an. Ich hatte mich schon länger gefragt, was wir wohl machen würden, und hoffte irgendwie auf ein Zeltlager am Meer.
„Also, ich habe einen vierttägigen Ausflug organisiert. Es geht zum Campen in die Berge!" Okay, ich hatte teilweise richtig geraten.
„Wir werden den halben Tag lang wandern, um abends die Zelte aufzuschlagen und zu übernachten. Mitkommen werden..." Er zog eine Liste hervor.
„Alex, Amy, Avery, Crowley, Faeye, June, Kiki, Lou, Luan, Luna, Milan, Nicola, Phil, Shiva, Sierra, Sky, Sophie, Summer, Vera, Victor, Vincent, Ylva und Yuna. Von den Lehrern sind Mrs. Forester, Mrs. Pine und ich dabei." Einige sahen ziemlich begeistert aus, doch ich war nicht so glücklich darüber. Ein Campingausflug ans Meer wäre doch viel schöner! Aber nein, stattdessen musste ich wandern gehen. Na super. Wenigstens keine Höhlenbesichtigungen, die hasste ich.
„Hey Sky.", hielt mich plötzlich jemand auf, als ich die Aula gerade verlassen wollte. Ich blickte mich um und entdeckte Luna hinter mir. Eigentlich wollte ich eine schnippische Antwort geben, doch dann fiel mir wieder ein, was Starlight gesagt hatte. Luna wusste irgendwas. Ich hatte gerade eh nichts zu tun, einen Versuch war es wert.
„Hast du Zeit zum Reden?", fragte ich sie deshalb und meinte zu sehen, wie ihre Mundwinkel ein Stückchen nach oben wanderten. Sie nickte knapp und huschte durch den Haupteingang nach draußen.
Ein paar Minuten später waren wir auf der Lichtung, auf der wir uns schon öfter getroffen hatten. Die, die wir gestern den Ratskindern gezeigt hatten. Die, auf der mich Yuna verlassen hatte. Irgendwie spielte dieser Platz im Wald eine recht große Rolle in meinem Leben.
„Und? Bist du endlich darüber hinweg, Avery zu verdächtigen?", fragte Luna leise. Innerlich war ich mir noch immer nicht ganz sicher, wahrscheinlich sollte ich sie nicht so einfach von der Liste streichen... aber ich wollte keinen neuen Streit mit Luna.
„Ja", log ich deshalb. Luna nickte.
„Hast du etwas neues herausgefunden?"
„Hast du ja gestern gehört, als ich es Starlight erzählt habe. Und ansonsten nur, dass Mr. Brand mich angegriffen hat und die Verletzung, die ich als Beweis nehmen wollte, einfach verschwunden ist.", musste ich erzählen und hasste es, wie mickrig das klang.
„Oh. Nicht gut. Da müssen wir uns was einfallen lassen.", beschloss Luna. Doch sie sah mich dabei nicht an.
„Also... hast du etwas rausgefunden?", bohrte ich nach. Sie bekam leicht rosige Wangen.
„Äh... ja. Und ich fürchte, ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen." Ich sah sie fragend an.
„Als du gestern diese Codenamen erwähnt hast, da habe ich einen wiedererkannt: Der Brand. Vor ein paar Wochen habe ich Leute beobachtet, die irgendwas an den Klippen gepflanzt haben,... irgendwelche Gärtner. Sie haben aber auch von einem Brand gesprochen." Entgeistert starrte ich sie an.
„Luna! Das hättest du mir sofort sagen sollen! Warum sollten hier Gärtner hinkommen?!", rief ich aus. Luna seufzte.
„Ja, das war vielleicht nicht so klug. Aber sie haben mit irgendwelchen Schaufeln etwas auf den Klippen gemacht, es sah aus, als würden sie... etwas einpflanzen." Plötzlich zischte ein Gedanke durch meinen Kopf. Ich erstarrte.
„Luna? Avery ist gestern die Klippen runtergefallen." Wir sahen uns erschrocken an.
„Wo waren die Gärtner?!" Luna rannte los, ich folgte ihr, so schnell mich meine Beine trugen.
Sie führte mich... an dieselbe Stelle, an der gestern auch Avery gestürzt war.
„Hier." Sie sah mich fragend an. Ich nickte nur.
„Los, schau dich um, ob du irgendwas findest, was sie dagelassen haben könnten.", befahl ich. Es war zu schrecklich. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein! Ich schob mich langsam und vorsichtig zum Klippenrand vor. Doch tatsächlich, ich hatte recht gehabt.
Natürlich, wie hatte ich nur so dämlich sein können? Auf einem nassen Felsen rutschte man nicht einfach so aus. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte ich die dünne, fast unsichtbare Schnur, die darüber lag. Avery hätte niemals das Gleichgewicht verloren. Sie hatte sich in der Schnur verfangen! Und jetzt fiel mir der Felsen wieder ein, der abgebrochen war. Ich entdeckte die Überreste und fuhr mit den Fingern darüber. Konnte man so etwas manipulieren? Bestimmt. Ich bemerkte, dass der Fels an einer Seite ziemlich rissig war. Und wirklich, sie zogen sich über die gesamte Seite des abgebrochenen Steins. Konnte das Zufall sein?
„Du siehst aus, als hättest du was?", meinte Luna und kam auf mich zu. Ich nickte stumm und zeigte auf die Schnur. Luna schlussfolgerte blitzschnell, was meine Vermutung war.
„Furchtbar.", murmelte sie, doch dann wurde ihr Blich wachsam.
„Warte mal!", befahl sie und teilverwandelte ihren Kopf. Sie öffnete das Maul und sog witternd die Luft ein, stellte die Ohren auf und lief dann zielstrebig auf den Waldrand zu.
»Hier!«, rief sie in meinem Kopf und zog mit ihren Menschenhänden etwas aus dem Laub. Sie verwandelte sich zurück und besah sich ratlos den Gegenstand, scheinbar konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Ich jedoch schon. Er hatte einen runden Holzgriff, aus dem vorne eine flach zulaufende Metallspitze herausragte.
„Alles okay?", fragte Luna, als ich scharf die Luft einsog. Ich schüttelte den Kopf.
„Weißt du, was du da in der Hand hältst?", fragte ich sie. Luna verneinte.
„Das Ding nennt man Meißel. Die legt man mit der Spitze an einen Stein, haut hinten mit einem Hammer drauf und spaltet so ganze Felsen.", erklärte ich ihr. Mehr musste ich nicht sagen, wir wussten beide, was das hieß. Jemand hatte hier eine Falle konstruiert, eine Stolperschnur gespannt und einen Felsen so präpariert, dass er abbrach, wenn man ihn anstupste.
Das, was ich gestern für einen Unfall gehalten hatte, hatte sich heute als Mordanschlag entpuppt.
Als ich in meine Hütte kam, merkte ich, dass ich einfach nur Ruhe wollte. Diese Entdeckung war fürchterlich, besorgniserregend und gefährlich. Ich wollte mich einfach auf mein Bett setzen, das Buch aus der Bücherei fertiglesen und entspannen.
Doch daraus wurde nichts, denn als ich die Zimmertür öffnete, sah ich, dass jemand darinstand. Kurz erschrak ich, doch dann wurde mir klar, dass es Shiva war.
„Hi Sky.", begrüßte er mich zu meiner Überraschung.
„Äh... hi?"
„Ich wollte nochmal nachfragen... wegen Avery. Also... meinst du, es geht ihr gut? Was ist genau passiert? Und... warum?!", wollte er verlegen wissen. Ich sah ihn verwirrt an.
„Ich dachte, du sprichst nicht mehr mit mir?!", fragte ich ihn.
„Ja, tut mir leid.", murmelte mein Zimmergenosse, „Aber... du bist der Einzige, der was darüber weiß, und... ich wollte mich eigentlich gar nicht mit dir verfeinden." Ich nickte.
„Gut. Ich mich ja auch nicht mit dir." Ich merkte, dass ich ihm schon verziehen hatte. Also seufzte ich und fing an zu erzählen. Shiva hörte mir aufmerksam zu und sah am Ende ziemlich entsetzt aus.
„Wow, das war ja wirklich knapp!", meinte er schließlich.
„Ja.", ich atmete tief durch, „Allerdings." Shiva warf mir einen schiefen Blick zu.
„Aber... geht's dir gut?", wollte er wissen.
„Mir schon." Wir schwiegen betreten. So sehr ich Averys Ansichten auch hasste und sie für eine fiese, gemeine Tussi hielt – niemand hatte so etwas verdient. Hoffentlich ging es ihr bald wieder besser! Was sie wohl dazu sagen würde, dass jemand gewollt hatte, dass sie stürzte? Dass jemand sie umzubringen versucht hatte?
Nachdem wir es ein bisschen sacken gelassen hatte, trafen Luna und ich uns noch einmal im Wald.
„Was sollen wir tun? Wir können ihm nichts beweisen!", meinte ich. Luna nickte.
„Wir könnten Mr. Blackheart den Meißel geben... Aber das würde sicherlich nichts bringen.", murmelte sie, „Was soll er denn schon tun?" Wir schwiegen.
„Aber wir müssen es auf jeden Fall Avery erzählen. Jemand hat versucht, sie umzubringen, dass muss sie wissen, damit sie sich schützen kann!", erklärte ich. Luna schnalzte unwillig mit der Zunge.
„Ach Sky, du bist so kurzsichtig. Denkst du auch, der Rat wäre allmächtig?" Sie kicherte. Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich das bis vor kurzem noch gedacht hatte.
„Aber warum kurzsichtig?", wollte ich dann wissen. Als Adler hatte ich gute Augen, doch ich glaubte nicht, dass sie das wörtlich meinte.
„Sky, sie haben das hier vor Wochen hingebaut. In der Absicht irgendwen umzubringen. Das ist kein Anschlag auf Avery, verdammt, es geht nicht immer nur um Avery!", regte Luna sich auf. Ich verdrehte die Augen.
„Habe ich auch nie gesagt, aber sie ist da runtergefallen!"
„Sky, das könnte ein Anschlag auf die ganze Schule gewesen sein. Aber es gibt nur wenige, die oft an den Klippen sind. Ylva, Sierra, Mrs. Pine, Avery und... ich. Ich weiß alles. Ich sehe alles. Auch einiges über sie.", Luna drehte sich langsam zu mir um und sah mich an. Dann sprach sie es aus:
„Das war ein Anschlag auf mich."
DU LIEST GERADE
Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...