12: Partytime

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Überwältigt starrte ich auf mein Handy.
„Nele?", fragte ich, „Bist das wirklich du?" Hatte sie mich tatsächlich auf meinem Handy angerufen?!
„Klar, wer sonst. Aber...", sie zögerte, „...warst das wirklich du mit diesen fiesen Nachrichten?", fragte sie dann. Sie klang vorsichtig und distanziert. Oh nein! Was hatte ich nur getan! Jetzt ruinierte ich zum zweiten Mal das Wiedersehen mit meiner Schwester! Beschämt senkte ich den Kopf, ich würde nichts gestehen. Blöd war nur, dass das hier ein Video-Anruf war. Nele konnte mich sehen. Und sie hatte schon immer genau gewusst, was in mir vorging.
„Autsch. Warum, Sky?", wollte sie wissen.
„Ich...war so sauer als du nicht rangegangen bist. Da...", ich brach ab, ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte. Aber Nele verstand mich auch so.
„Ach Sky, nur weil ich kurz mal auf Toilette war, heißt das doch nicht, das ich dich nicht sehen will!" Sie seufzte.
„Tut mir leid...", murmelte ich ehrlich zerknirscht.
„Gut, dann weiter mit den wichtigen Sachen. Bei der großen Welle, ich hab dir so viel zu erzählen! Aber du mir auch, nehme ich an?" Sie sah mich durch das Handy auffordernd an. Erleichtert lächelte ich ihr zu. Sie hatte mich nicht vergessen! Und jetzt freute sie sich genauso sehr wie ich über dieses Wiedersehen.
„Also... ja. Auf jeden Fall. Mittlerweile habe ich seit ein paar Tagen Unterricht an der Redcliff High. Es ist eigentlich nicht so schlecht hier. In meiner Klasse sind viele Vogel-Wandler, sie haben eine Clique gegründet und nennen sich die ,Windwalker'..." Stück für Stück erzählte ich meiner Schwester alles, was ich bisher an Land erlebt hatte. Den Flug mit Leni und die anschließende Standpauke von Avery ließ ich jedoch aus. Obwohl ich erst seit zwei Tagen Unterricht hatte, war schon so viel passiert!
Geduldig hörte mir Nele zu, bis ich fertig war.
„Wow. Klingt echt cool. Aber... was sagtest du über diese... Avery?", fragte sie schließlich.
„Sie ist recht hochnäsig und denkt, sie könnte über uns bestimmen. Aber ansonsten ist sie echt nett!", verteidigte ich meine Anführerin. Ich biss mir auf die Lippe. Eigentlich fand ich sie kein bisschen nett.
„Du knabberst an deiner Lippe!", rief Nele triumphierend, „Das machst du immer, wenn du lügst. Eigentlich magst du sie überhaupt nicht, richtig?" Mist, ich hatte schon wieder vergessen, dass das hier ein Videotelefonat war!
„Äh...kann sein.", gab ich zu.
„So, genug von mir. Was hast du so getrieben?" Wechselte ich hastig das Thema, bevor sie mich weiter löcherte. Außerdem brannte ich darauf zu erfahren, was meine Schwester die letzten Wochen über alles gemacht hatte.
„Also, das war so:..." Neugierig lauschte ich Neles Erzählungen über das College, ihre neuen Mitbewohner und wie sie sich an Land so zurechtfand. Anscheinend hatte sie in der Menschenwelt auch noch keine Verwandlungspannen gehabt. Das war großes Glück, denn ihr College war eines für normale Menschen. Würde sie sich aus Versehen zur falschen Zeit verwandeln, wäre das Geheimnis der gesamten Gestaltwandlerwelt gefährdet. Niemand durfte wissen, dass es Wandler gab!
Wir quatschten über dieses und jenes, über Windwalker, Schulen, Kalifornien insgesamt und sie zeigte mir per Video ihre kleine Wohnung, woraufhin ich ihr meine Hütte präsentierte. Nur über eine Sache verlor niemand ein Wort: Das Segeln.

Ein paar Stunden später verabschiedeten wir uns schließlich, da Nele sich Abendessen kochen wollte, während ich in die Mensa gehen würde. An unserem Tisch saßen schon alle Windwalker zusammen, ich war einer der letzten Schüler, die zum Essen kamen. Erst fürchtete ich, die anderen Vögel würden mich wegen heute Nachmittag anders behandeln als sonst. Aber alles schien normal, sie redeten aufgeregt miteinander, Crowley schüttete Cola in sich hinein, Leni erzählte die schlechtesten Witze der Geschichte und Viktor prahlte, wie er neulich jemanden verprügelt hatte. Ich entspannte mich und fing an, meine Spagetti auf der Gabel zu drehen. Während ich aß, hörte ich den anderen zu und mischte mich hin und wieder selbst in die Gespräche ein. Wir lachten, schwatzten und aßen.
Doch bald merkte ich, das etwas nicht stimmte: Avery war seltsam still, sah auf ihren Teller herab und sprach kein Wort. Unauffällig beobachtete ich sie aus dem Augenwinkel. Bald fiel mir auf, dass sie kaum etwas aß. Sie strahlte auch nicht die gleiche Autorität aus wie sonst, im Gegenteil: Heute sah sie aus, als wäre sie von Victor und Vincent gleichzeitig zusammengeschlagen worden. Was war mit ihr los? Sollte ich sie darauf ansprechen?
Ich entschloss mich dagegen. Sie würde sich nicht wirklich darüber freuen, wenn ich sie jetzt, vor all ihren Leuten, auf ihre schwachen Momente hinwies. Also aß ich schweigend weiter und hörte den anderen zu.
Erst eine halbe Stunde später, als die meisten Schüler sich plappernd vor der Geschirrrückgabe drängten, witterte ich meine Chance.
„Avery?", fragte ich halblaut, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich sah, wie sich das Schneeeulen-Mädchen verkrampfte, um würdevoll auszusehen. Sie bemühte sich um einen harten Blick und richtete sich unauffällig auf.
„Ja, Sky?", fragte sie mit fester Stimme.
„Äh...", diese Selbstsicherheit warf mich für einen kurzen Moment aus der Bahn. Aber ich fing mich schnell wieder und brachte heraus:
„Ist alles...okay? Du wirkst...erledigt." Kurz bereute ich, Avery so etwas ins Gesicht gesagt zu haben. Aber dann entspannte sich ihre Haltung. Sie lächelte mich an, auch wenn sie etwas überrascht wirkte.
„Ach weißt du, es ist eben viel Arbeit als Anführerin. Ich könnte manchmal etwas Hilfe gebrauchen...", sie sah mich an. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, wahrscheinlich lief ich gerade rot an. Mist, anscheinend war sie immer noch sauer auf mich! Wegen mir hatte sie ja erst letztens so viel Ärger gehabt. Obwohl... war das meine Schuld? Plötzlich wurde ich wieder wütend. Mir wurde klar, dass ich nichts falsch gemacht hatte. Warum dachte Avery so etwas?!
„Ach, wenn das so viel Arbeit ist, dann spionier halt nicht jedem nach!", schlug ich säuerlich vor. Averys Gesicht verfinsterte sich.
„Du darfst mich jetzt allein lassen.", meinte sie trocken und stand auf, um ihren Teller wegzustellen. Danach verschwand sie aus der Mensa und ließ mich einfach stehen.

„So, komm.", flüsterte mir Vincent zu. Draußen war es bereits dunkel,  Avery hatte uns losgeschickt, um Cola für die Party zu holen. Es war inzwischen Freitag und sie schien nicht mehr sauer auf mich zu sein. Wir waren in den Vorratskeller eingebrochen, hatte uns die Getränkedosen aufgeladen und waren mit dem Speiseaufzug – den ich bis vor zwanzig Minuten noch nicht mal gekannt hatte – wieder hochgefahren. In der großen Kampf-und-Überleben-Arena waren wir ausgestiegen. Zum Glück war Mr. Blackheart um diese Zeit schon mit den Unterrichtsvorbereitungen fertig, der riesige Raum lag dunkel und verlassen vor uns. Wir schlichen durch die große Flügeltür nach draußen.
Geschafft! Ich war erleichtert. Zugegeben, ich hatte ein bisschen Angst gehabt, erwischt zu werden...
Als wir die Cola auf der Lichtung ablieferten, waren bereits alle anderen da und die Musik lief. Wir stellten die Cola auf einem Biertisch ab, in dessen Nähe zufällig schon Crowley herumlungerte. Kaum lagen die Dosen nebeneinander auf dem Tisch, stürzte er sich auf sie. Mit einer Cola in jeder Hand schlenderte er zu einer Bank. Victor kam zu ihm, anscheinend um ihm irgendeine Heldengeschichte zu erzählen und sich bewundern zu lassen.
„Hey, Sky. Kann ich dich kurz sprechen?", fragte plötzlich Lenis Stimme von hinten. Ich drehte mich zu ihr und lächelte sie an. Dann nickte ich und ging ihr hinterher, bis wir etwas abseits der Lichtung im Gestrüpp verborgen waren. Ich sah Leni fragend an.
„Was ist?", wollte ich wissen. Sie lächelte.
„Ich wollte nur fragen, ob du nochmal mit mir fliegen willst. Heute Abend?" Sie grinste frech. Kurz war ich sicher, mich verhört zu haben. Hatten wir nicht gerade erst Ärger dafür bekommen? Auf keinen Fall wollte ich es mir mit unserer Anführerin verscherzen!
„Aber was ist mit Averys Standpauke? Ich will sie nicht noch mehr verärgern!" Die Worte verließen meinen Mund, ehe ich darüber nachdenken konnte, wie heuchlerisch sie klangen.
„Du... hörst auf Avery?!", rief Leni entsetzt aus.
Mir fiel nichts intelligenteres ein als „Ja."
Sie sah mich an. Endlose Sekunden verstrichen.
„Wenn es das ist, was dich glücklich macht!", sagte sie dann etwas zu laut und wandte sich ab.
„Nichts gegen dich, wirklich!", beeilte ich mich zu sagen, „Aber das bekommt Avery doch sicher mit. Ich...will einfach keinen Ärger hier an der Schule. Ich will Spaß!"
„Aber für Spaß MUSS man Ärger in Kauf nehmen!", regte sich Leni auf. Wieso konnte sie meine Meinung nicht akzeptieren?!
„Meine Entscheidung steht fest.", erklärte ich knapp.
Leni schwieg.
„Lass uns zurück.", schlug ich vor. Sie nickte. Wir zwängten uns durch die Zweige am Rande der Lichtung, die uns verborgen gehalten hatten, und traten auf den Platz. Ich linste zum Cola-Buffet herüber, wo mittlerweile auch Muffins und Kekse standen. Und Crowley. Er hatte wieder einmal zwei Dosen Cola in den Händen und schüttete sich gerade beide gleichzeitig in den Mund. Das Ergebnis war ein dunkler Bach, der über sein Gesicht und über das T-Shirt lief, welches schon braungefleckt war. Neben ihm lagen drei weitere, bereits leere Dosen. Ich begann, mir ernsthaft Sorgen um Crowleys Gesundheit zu machen. Sollte ich ihm sagen, dass so etwas nicht gut für ihn war?
„Sky? Hast du kurz Zeit?", hörte ich plötzlich Avery hinter mir fragen. Ich wirbelte herum.
„Äh...was? Achso. Äh ja, klar", stammelte ich. Was wollte sie von mir? Ich kam nicht dazu, sie zu fragen.
Ohne ein weiteres Wort lief das Schneeeulen-Mädchen los. Hastig folgte ich ihr. Sie ging mit langen, schnellen Schritten voraus und führte mich wieder ins Gebüsch. Wo wollte sie hin? Erst, als wir von der Lichtung aus nicht mehr zu sehen waren, blieb sie stehen.
„Alles klar, was ist?", wollte ich wissen. Avery wandte sich langsam um. Sie schien verlegen und sah mich nicht an.
„Ich... wollte einfach mal was mit dir allein besprechen.", erklärte sie. Was, sagte sie jedoch nicht. Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Ich wurde nervös. Wollte sie mich wieder wegen irgendetwas ausschimpfen?! Das konnte sie vergessen!
„Weißt du, ich hab keine Ahnung was das hier soll. Aber ich hör mir nicht nochmal so eine komische Rede wie am Dienstag an. Ich hab besseres zu tun.", stellte ich klar. Avery antwortete nicht, sie starrte mich nur an. Ich beachtete das nicht, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück Richtung Party-Musik. Avery ließ ich einfach stehen.
Endlich war ich zurück auf der Lichtung! Die Stimmung war ausgelassen, alle waren froh über das bevorstehende Wochenende. Als ich mir eine Cola holte, sah ich, wie sich Yuna durch die Menge auf mich zu drängte.
„Hey Sky! Coole Musik, oder?", rief sie mir über den Lärm hinweg zu. Ich war mir unsicher, was ich antworten sollte.
„Äh, ja, aber ich mag keine Rapmusik...", erklärte ich. Yuna nickte.
„Ja, der Rapper grade war nicht gut. Aber der Song grade ist einer meiner Lieblingssongs!" Sie wiegte sich im Takt der Musik.
„Hast du Lust auf eine Tanzrunde?", fragte sie mich schließlich. Mir wurde heiß. Wollte sie etwa mit mir tanzen? Das würde am Ende noch peinlicher werden als der Flug mit Leni!
„Äh, also...", ich holte tief Luft.
„Sky! Da bist du ja! Komm rüber!", unterbrach mich Faeye, die schon mit Shiva, Luan und Bumble zusammen tanzte. Ich war sehr erleichtert über die Ausrede. Doch als ich Yuna sagen wollte, dass ich lieber rüber ging, hörte ich wieder jemanden nach mir rufen.
„Sky! Hier, hinter dir! Komm doch mit zu den Hütten, da ist nicht so viel los!" Hinter mir stand Leni.
„Äh, also... ich wollte eigentlich zu Shiva rüber.", entschuldigte ich mich.
„Oh, ja, auch gute Idee.", rief Leni im selben Moment, als Yuna „Klar, ich komm auch" sagte.
Die beiden folgten mir zu Faeye und den anderen. Shiva begrüßte mich mit einem Rippenstoß und einem „Hey, Sky, cool dass du das bist!". Auch Faeye freute sich, mich zu sehen, und reichte mir einen Muffin.
„Die sind echt lecker, probier mal!", riet sie mir. Leni fing direkt wieder an, die schlechtesten Witze zu erzählen, die es im Universum gab. Yuna lachte heftig und lehnte sich gegen mich, um nicht umzukippen. Bumble hielt sich den Bauch vor Lachen. Als Leni mir etwas zu sagen versuchte, schüttete sie aus Versehen etwas Cola auf Yunas weißes Oberteil.
„Hey, was soll das? Pass doch auf!", zeterte die und trat ein paar Schritte zurück. Leni hakte sich bei mir unter und strahlte mich an.
„Was ist grau und kann nicht fliegen?", fragte sie und bekam einen Kicheranfall.
„Keine Ahnung", gab ich zu. Sie sah mich noch einen Moment lang an.
„Ein Parkplatz!", schrie Leni und schüttelte sich vor Lachen. Dabei spritzte auch etwas von ihrer Cola auf mein Shirt, was mir jedoch im Gegensatz zu Yuna ziemlich egal war. Trotzdem kam sie sofort mit einem Taschentuch angewuselt und wischte an meinem Shirt herum.
„Autsch!", machte Leni, als Yuna ihr dabei auf den Fuß trat und sich an ihr vorbeiquetschte. Zum Glück ging der Colafleck gut weg, ich würde das Shirt nur in die Waschmaschine stecken müssen. Das hieß, ich musste es Bumble geben, die diese Woche Waschdienst bei den Windwalkern hatte. Wir wiegten uns im Takt der Musik. Yuna hatte zwar ein gesprenkeltes Top, aber sie tanzte trotzdem neben mir weiter. Sie kam mir so nah, das sie mich versehentlich mit dem Ellenbogen streifte, als sie etwas trinken wollte. Leni sah mich seltsam an.  Als sie Yuna beim Tanzen anrempelte, reichte es der.
„Ich gehe! Kommst du mit, Sky?", fragte sie. Da ich wirklich schon müde war, wollte ich zusagen. Aber jemand kam mir zuvor.
„Sky kommt mit mir mit zur Hütte!", erklärte Leni und schickte Yuna einen bösen Blick.
„Aber er will lieber mit mir kommen!", behauptete Yuna. Offenbar hielten sie es nicht für nötig, mich zu fragen. Als wüssten sie, was ich dachte. Mir reichte es.
„Weder noch. Ich habe noch was zu erledigen. Das mache ich lieber alleine", erklärte ich hastig, bevor eines der Mädchen etwas wie „Ich komm mit!" sagen konnte.
„Bis später, Shiva. Tschau!", verabschiedete ich mich. Dann verließ ich die Lichtung. Ich schlug absichtlich nicht den Weg zur Schule ein, sondern ging in den Wald. In einem großen Bogen schlug ich mich durchs Gestrüpp bis zum Parkplatz vor dem Hauptgebäude durch. Dann schlich ich im Dunkel der Nacht über die Wiese zur Hütte Nummer 2. Die große Tür schwang leise auf und ich glitt durch eine weitere, kleinere in mein Zimmer.
Ein paar Minuten später lag ich im Bett. Das letzte, was ich dachte, war:

Eine von 156 Wochen geschafft. 7 Tage näher am Leben auf meinem eigenen Schiff.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt