3: An Land

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Eine Viertelstunde später waren wir schon da. Das Taxi fuhr durch das kleine Örtchen „Jenner", wo meine Oma väterlicherseits seit ungefähr 10 Jahren lebte. Es hielt vor einem der Häuser, einem großen, umzäunten Kasten. Ob der wohl schwimmen konnte? Wohl eher nicht, das Ding war viel zu schwer. Wiederwillen wurde ich neugierig. Wie es wohl war, so zu leben?
Schlimm, das kann nur ganz schlimm und grässlich werden!, behauptete eine kleine, fiese Stimme in mir. Gleichzeitig hatte sich jedoch auch meine Neugier gemeldet. Ich rang mit mir. Die Neugier gewann.
Wir stiegen aus, das Taxi fuhr ab. Nele drückte mir Tasche und Schuhe in die Hand. Ich atmete tief durch und ging zur Tür. Dann hob ich die Hand und drückte den Klingelknopf.

Man hörte knallende Schritte, dann öffnete sich die Tür.
„Jule. Nick!", rief die große, etwas ältere Frau, die die Tür geöffnet hatte. Das war also meine Oma. Ich sah sie an.
Sie war eine mittelgroße Frau mit braunen Haaren, in die sich bereits das erste Grau einschlich. Ihr meerblaues Shirt erinnerte mich an das warme Wasser in Miami. Die schwarze Jeans mit dem Ledergürtel sahen gar nicht nach Oma aus. Auch die grüngelben Augen meiner Großmutter waren wach und fröhlich, sie wirkte energiegeladen. Man merkte wirklich, dass sie die Mutter meines Vaters war, sie sahen sich sehr ähnlich.
„Hallo Mom.", sagte mein Vater, er klang erleichtert, froh und erschöpft zugleich.
„Schön, dich nach so langer Zeit wiederzusehen", meinte meine Mutter, während sich die Erwachsenen zur Begrüßung umarmten. Dann wandte sich Mrs Wavebird an mich.
„Du bist also Sky.", sie lächelte, „Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du gerade mal drei Jahre alt!"
Ich lächelte etwas nervös zurück.
„Und Nele! Und... oh, du musst Timmy sein!", wandte sie sich an meine Geschwister.
„Hi, Oma. Schön, dich endlich mal wiederzusehen.", antwortete Nele. Sie konnte sich wahrscheinlich als einzige noch richtig an unsere Großmutter erinnern.
„Dann kommt mal mit rein, ich hab Kuchen gebacken!", forderte die uns auf. Mit einem Griff lud sie sich meine – nicht gerade leichte – Reisetasche auf und marschierte voran ins Haus. Wir folgten ihr.
Staunend blickte ich mich im riesigen inneren um. Wir standen in einem langen, breiten Raum. Wow, hier war reichlich Platz! Ich malte mir schon alles in leuchtenden Farben aus. Dort drüben würde ich meine Tasche hinstellen, als Kleiderschrank. Und dort, in der Nische neben der Tür, würde ich meine Matratze legen! Das würde genial werden. Vielleicht war mein neues Leben doch gar nicht so schlimm.
„Was stehst du mit offenem Mund im Flur rum?", fragte mich plötzlich jemand, Mrs Wavebird.
Moment... Flur? Das war doch der kleinste Teil eines Hauses... oder? Nein, da hatte ich sicher was falsch verstanden! Wahrscheinlich...
Nele schubste mich durch eine Tür... und ich erstarrte. Das. War. Der Wahnsinn! Dieser Raum, der aussah wie eine Kombüse, war noch größer. Gehörte das etwa auch zum Haus? Diese Kombüse war größer als unsere. Viel, VIEL größer.
„So, willst du dir mal anschauen, wo du ab jetzt wohnst?", unterbrach mich meine Großmutter.
„Oh, äh ja, ich pack gleich aus, okay?", antwortete ich und ging zurück in den ersten Raum. Erstaunt hörte ich, wie hinter mir Gekicher ertönte und drehte mich wieder um.
„Was?", fragte ich meinen Vater, von dem das Gelächter gekommen war.
„Äh... das ist der Flur, Sky. Dein Zimmer ist oben."
Oh, wie peinlich. Natürlich war dieses große Traumzimmer nicht für mich. Wie hatte ich das nur denken können. Ich sah meine Großmutter zerknirscht an. Sie schaute belustigt zurück.
„Komm, ich zeig dir dein richtiges Zimmer.", schlug sie vor. Ich nickte.
Meine Oma ging also voran und wir folgte ihr in ein riesiges Zimmer voller Tüten und Paketen.
„Tut mir leid, ich habe es nicht geschafft, alles auszupacken."
Das war also mein Zimmer. Diesmal schaffte ich es, nicht auszuflippen. Aber dieses Zimmer war das größte, was ich jemals gesehen hatte. Man hätte unser halbes Schiff hier reinstecken können! Das war mein neues Heim? Krass.
„Du hättest doch nicht all diese Möbel extra kaufen müssen!", meinte meine Mutter mit einem Blick auf die Kartons.
„Aber nein, Jule, ich habe nur ein Bett vom Nachbarn bekommen und ein paar alte Regale aus dem Keller hochgehholt.", beruhigte Mrs Wavebird sie. Dann wandte sie sich wieder an uns alle: „Was haltet ihr von einer kleinen Erfrischung auf der Terrasse? Ich hätte Kuchen, Eis und ein paar Neuigkeiten."
„Gerne", antworteten Mom und Dad. Wir folgten Mrs Wavebird durch das riesige Haus, raus in einen noch riesigeren Garten.
„Setzt euch doch,", forderte sie uns auf, „während ich den Kuchen hole. Nele, Sky, wollt ihr Schoko oder Vanilleeis?"
„Keine Ahnung.", antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Zweimal beides, alles klar." Sie zwinkerte mir zu und verschwand in Richtung Haus.
„Und, Sky, wie findest du es bisher an Land?", fragte mich Nele gespannt.
„Äh, also, es ist ganz okay.", druckste ich herum, „Nicht schlimmer als gedacht..." Ich würde ihnen auf keinen Fall gestehen, wie gut es mir gefiel. Für kurze Zeit war mein Leben auf dem Meer vergessen gewesen, ich hatte dieses Haus betrachtet, als hätte ich schon immer an Land gelebt. Es war sehr schön, groß und hübsch dekoriert. Mein Zimmer hatte ein großes, eckiges Fenster mit Fensterbank. Man sah von dort aus vielleicht keine Fische, aber immerhin einen weitläufigen Wald, bei dem ich es kaum erwarten konnte, ihn zu erkunden.
Aber das würde ich ihnen nicht sagen, sonst dachten sie noch, ich würde eh lieber hierbleiben, statt zu segeln.
„Und was magst du lieber, Land oder Meer?", bohrte Nele weiter. Ich überlegte fieberhaft. Sollte ich ihr sagen, dass ich bisher beides gut fand? Das Land gefiel mir, ich hatte mich schon fast an den rührungslosen Boden und den vielen Platz gewöhnt. Aber dann dachten sie, sie hätte es richtig gemacht... Und wenn ich log und sagte, ich würde das Meer sehr viel besser finden und hier keinen Tag aushalten?
Zum Glück musste ich mich nicht entscheiden.
„So, einmal Eis für euch beide und Kuchen für euch und mich. Hier ist auch noch was zu trinken." Meine Großmutter war zurückgekommen und stellte ein Schälchen mit kalter, weißer und brauner Creme vor mir ab. Ich probierte. Gar nicht schlecht! Daran könnte ich mich gewöhnen.
„Danke...äh...Oma.", brachte ich zögerlich heraus.
„Gern. Habt ja anscheinend lang kein Eis mehr gehabt!" Sie sah irgendwie angepisst aus. Hatte ich was Falsches gesagt? Ich wollte mich gerade entschuldigen, doch meine Mutter kam mir zuvor.
„Und, was gibt's neues?", wollte sie wissen.
„Bist du jetzt in Rente?", fragte Nick.
„Haha, nein. Sehe ich aus wie jemand, der seinen Job einfach hinschmeißt?" Der Vorwurfsvolle Unterton in ihren Worten war nur schwer zu überhören. Mein Vater biss sich auf die Lippe. Er hatte seinen Job aufgegeben. Klar, dass das ihm gegolten hatte.
„Was gibt es denn?", fragte er eine Spur härter.
„Nun, das ist schwer zusammenzufassen. Nach acht Jahren, in denen so viel passiert ist, was ihr nicht mitgekriegt habt!", schoss meine Großmutter zurück.
„Wir haben dir gesagt, wo wir als nächstes anlegen. Du hättest nur zu uns kommen müssen."
„Mit welchem Geld?"
Nele und ich sahen uns erschrocken an. Die waren vielleicht sauer! Gut, dass Timmy das nicht hörte, er pennte im Wohnzimmer.
„Du hast doch gesagt, du wärst nicht in Rente!", schimpfte unterdessen Dad.
„Das heißt nicht, dass ich mein Gehalt dafür ausgebe, für ein paar Tage nach Mallorca zu fliegen!", rechtfertigte sich unsere Oma.
„Du bist wirklich so geizig, Karaji,", mischte sich meine Mutter ein, „dass du uns lieber nicht sehen willst?!"
„Wie kannst du es wagen so etwas zu sagen!" Mrs Wavebird war aufgesprungen und funkelte meine Eltern an.
„Wie kannst du erwarten, dass wir antanzen, sobald du nach uns schnipst?!"
„Acht Jahre ist es her, dass wir uns gesehen haben. ACHT. Für mich ist das sehr enttäuschend, aber euch scheint es egal zu sein!"
„Wir setzen Prioritäten! Das Segeln ist uns wichtig! Es ist unsere Bestimmung!", schrie unser Dad. Plötzlich war die Wut aus den Augen unserer Großmutter verschwunden, sie wirkte jetzt total fertig.
„Ihr...", fragte sie mit erstickter Stimme, „Ihr zieht das Segeln der Familie vor? Mir? Es ist euch wichtiger als... ich?"
Ich schaute zu Nele. Heftig! Es war gleichzeitig peinlich, angsteinflößend und... scheußlich. Ich wünschte mir nur noch, dass es vorbei war. Nele schien das genauso zu sehen.
HÖRT ENDLICH AUF!, schrie sie die Erwachsenen in Gedanken an. Das wirkte schließlich. Mit steinernem Gesicht setzte sich unsere Großmutter wieder, fixierte jedoch noch immer unsere Eltern. Dann seufzte sie.
„Entschuldigt, Kinder."
Mein Vater war jedoch noch nicht fertig: „Das kannst du uns nicht vorwerfen! Wie egoistisch du bist! Freu dich doch einfach mal, dass dein Sohn ein schönes Leben führt!"
Ganz langsam hob sie den Kopf und blickte ihn an. Sah ihm direkt in die Augen... und er brach ein. Zerknirscht drehte er sich weg.
„Also...ja...nein...du bist natürlich wichtiger, aber...", hilflos sah er unsere Mutter an. Doch auch sie schwieg.
„Äh, also...was...arbeitest du denn?", versuchte Nele, ein neues Thema anzufangen.
„Ich bin bei der Polizei in einer Spezialeinheit. Nichts mit Betrunkenen, die Grafitti an die Wand sprühen, sondern die echten Sachen. Entführer, Einbrecher, Spione und so.", erzählte unsere Oma. Ich sah sie beeindruckt an. Das klang nach einem spannenden Job. Spannender als segeln? Nein, segeln war das Schönste auf der Welt und mein Traumjob. Nichts war spannender, NICHTS!
„Klingt cool... aber auch gefährlich. Wann hast du denn dann Dienst?", gab Nele sich mühe, das Gespräch am Laufen zu halten.
„Früh morgens bis kurz vor 10. Kommst du hier ein paar Stunden allein klar, Sky?", fragte mich meine Oma, die bei mir gerade eine Menge Pluspunkte sammelte.
„Ich komm klar.", versicherte ich ihr. Sie nickte knapp.
Wir erzählten ihr noch von Indien, wo wir zuletzt gewesen waren. Sie gab eine lustige Story zum Besten, wie sie neulich ein Wildschwein versehentlich in ihrem Garten eingesperrt hatte und wir erzählten von den besten Teilen unserer Schifffahrt, zum Beispiel vom Delfinschwimmen auf Mallorca, dem Brot in Deutschland und den vielen kleinen Dörfern in Afrika. Kurz: es war am Ende doch noch ein sehr lustiger Abend.

Nach dem Kuchenessen und Plaudern gingen wir allmählich rein, um unser Lager im Wohnzimmer aufzuschlagen. Meine Familie würde eine Nacht lang bleiben, dann wollten sie wieder los.
Als es draußen schon längst dunkel war, kroch ich auf meine Matratze und unter die Decke. Wir hatten noch ein bisschen mit unserer Oma gequatscht, es hatte sich herausgestellt, dass auch ihre Eltern damals schon mit ihr um die Welt gesegelt waren, sie sich aber nie dazu begeistern hatte können. Schon mit 15 war sie von Bord gegangen, um allein an Land zu leben. Dort war sie zur Schule und aufs College gegangen, um später genügend Geld für ein Haus und Kinder zu haben.
Ich lag auf meiner Matte und starrte in die Dunkelheit. Konnte ich hier leben? An Land? Oder würde meine Sehnsucht zu groß werden? Wie sehr würde ich mich an dieses Leben gewöhnen? Was, wenn ich in zwei Jahren zurückkam und mich mit meiner eigenen Familie auseinandergelebt hatte? Oder noch schlimmer: Wenn ich dann gar nicht mehr zurück wollte?
Der Schlaf besuchte mich spät in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen war ich schon früh auf. Nicht pünktlich zum Sonnenaufgang, aber anscheinend trotzdem als erster. Ich schlurfte in die Küche, um mir ein Sandwich zu machen. Müde öffnete ich einen der Schränke und... erschrak fast zu Tode, als plötzlich meine Oma hinter mir stand.
„Oh...äh...hi...guten Morgen...", stammelte ich.
„Guten Morgen, Sky. Tut mir leid, ich wollte mir nur was zu trinken holen."
„Kein Problem", versicherte ich ihr.
„Gut. Wenn du schon mal wach bist, was hältst du von ein paar Werkarbeiten in deinem zukünftigen Zimmer?", fragte sie und lächelte mich verschmitzt an. Wahrscheinlich hatte sie nicht mit meinem sofortigen „Au ja, gute Idee." gerechnet, aber es schien ihr auch nichts auszumachen. Wir zogen uns um und schleppten dann, fünf Minuten später, zusammen den schweren Werkzeugkasten die Treppe hoch.
Ich keuchte, als wir endlich oben waren, aber meiner Oma schien das Gewicht überhaupt nicht aufgefallen zu sein.
„Nehmen wir uns als erstes das Bett vor?", fragte ich, „Damit ich heute Nacht schon darin schlafen kann?"
„Klar. Dann mal los."
Ich schnappte mir einen Akkuschrauber und ein paar Schrauben, meine Oma steckte schonmal die ersten Latten zusammen. Sah ziemlich wackelig aus. Voller Tatendrang stürzte ich mich mitsamt Akkuschrauber auf die lockeren Bretter.
„Halt mal hier kurz fest."
„Nein, das muss so...so."
„Pass auf hier, sonst splittert das Holz."
„Achtung, Vorsicht..."
„Okay, sieht gut aus..."
Etwa eine Stunde später stand ein großes, hölzernes Gebilde mitten im Raum. Sah schon gut aus. Wie eine große Koje eben.
Unsere Oma wischte sich über die Stirn.
„Geschafft. Jetzt nur noch Lattenrost und Matratze, aber die können wir auch heute Abend noch reinlegen. Erstmal muss ich mich jetzt ums Frühstück kümmern."

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt