25: Sorge um Nele

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Ich rappelte mich hoch und klopfte mir das Moos von der Hose. Yuna tat das gleiche.
„Was geht dich das an?", fragte ich Avery. Sie wurde krebsrot im Gesicht und sah aus, als würde jeden Moment Dampf aus ihren Ohren kommen. Yuna machte einen Schritt rückwärts, doch ich ergriff ihre Hand – was seltsam kribbelte – und zog sich wieder neben mich. Dann baute ich mich vor Avery auf. Sie war ein zierliches, kleines, blasses Mädchen. Ich war ein großer, kräftiger Turner. Als ich den Rücken streckte, überragte ich die Anführerin der Windwalker.
„Beantworte mir meine Frage. Ich gehöre nicht mehr zu deiner Clique. Du hast keinerlei Kontrolle über mich.", erinnerte ich sie. Avery wurde noch röter, was sehr ungesund aussah.
„Doch, du gehörst dazu. Und deshalb habe ich ein recht darauf zu erfahren, WAS HIER VOR SICH GEHT!!!" Sie verlor komplett die Kontrolle. Stampfte mit dem Fuß auf und schrie mich an. Es erinnerte mich an irgendetwas... Ja! An Timmy, wenn er nach dem Zähneputzen noch Schokolade haben wollte! Das sagte ich unserer Anführerin lieber nicht, damit sie nicht vor Wut platzte.
„Ich gehöre nicht mehr dazu.", wiederholte ich und atmete tief durch, „Hiermit trete ich aus der Clique aus!" Averys Wut war wie weggeblasen. Sie starrte mich nur mit offenem Mund an. In ihren Augen schimmerte etwas... doch viel zu schnell setzte sie ihre harte Maske wieder auf und sah mich böse an.
„Wie du willst. Ich hätte dich nach dem hier eh rausgeworfen. Und du, Yuna, wirst noch eine ernste Strafe von mir..."
„Nein, Avery. Wenn du jetzt mit Strafen anfängst, bin ich auch raus. Das ist nicht der richtige Weg, sich Macht zu verschaffen. Ich bin sicher, die meisten würden mir da zustimmen. Was wäre, wenn ich eine eigene Clique gründe? Würden deine Anhänger dann noch bei dir bleiben?" Sie funkelte Avery drohend an. Das war wirklich mutig von Yuna, ihrer Anführerin so etwas ins Gesicht zu sagen. Avery wurde wieder krebsrot, doch sie drehte sich nur um, verwandelte sich und schoss davon. Scheinbar nahm sie diese Drohung ernst.
„Also echt, was bildet die sich eigentlich ein!", beschwerte sich Yuna und ihr Blick wanderte zu ihren Fingern. Plötzlich merkte ich, dass ich noch immer ihre Hand hielt.
„Oh, äh... ja" Hastig ließ ich los und blickte überall hin, nur nicht zu ihr. Sie heftete den Blick auf den Boden und murmelte irgendwas von ihren unfertigen Hausaufgaben. Dann huschte sie davon. Ich sah ihr nach. Das lange, blonde Haar funkelte in der Sonne und mit ihrer Modelfigur bewegte sie sich so elegant und mühelos durchs Gestrüpp, dass ich nicht anders konnte, als sie zu bewundern. Auch, als sie schon lange verschwunden war, starrte ich noch ins Leere. Meine Gedanken bestanden nur noch aus einer Reihe von Echos.
Yuna. Yuna. Yuna. Yuna.

Wahrscheinlich grinste ich wie der größte Vollidiot aller Zeiten, als ich meine Hütte betrat und mich aufs Bett fallen ließ.
„Sag bloß, du hast das mit Avery wieder eigerenkt?", fragte Shiva. Meine gute Laune verpuffte.
„Eher im Gegenteil.", erklärte ich, „Ich war im Wald und zufällig kam Yuna vorbei. Dann war plötzlich Avery da und hat uns ausgeschimpft, was wir hier machen würden. Sie hat total die Kontrolle verloren und wollte uns bestrafen. Da habe ich ihr gesagt, dass ich aus der Clique austrete. Und Yuna hat ihr gedroht, eine eigene zu gründen, wenn sie sich so aufführt. Avery wäre fast geplatzt! Aber dann ist sie weggeflogen." Den romantischen Teil ließ ich lieber weg. Shiva stöhnte.
„Hätte ich mir ja denken können."
„Was soll das denn heißen?!"
„Nichts, nichts.", versicherte mein Mitbewohner hastig und wandte sich wieder seinem Buch zu. Ich beschloss, es fürs erste darauf beruhen zu lassen. Es würden sich noch genügen Gelegenheiten ergeben, meinen besten Freund auszuhorchen. Ich griff nach meinem Handy, um nachzusehen, wie spät es war. Überrascht merkte ich, dass ich eine Nachricht bekommen hatte. Sie kam von einem unbekannten Anschluss, also nicht von Nele oder meiner Oma. Vorsichtig entsperrte ich das Handy und wollte auf die Nachricht drücken. Doch im letzten Moment überlegte ich es mir anders. Was, wenn es ein Virus war? Am besten, ich ließ die Finger davon! Also legte ich mein Handy wieder weg. Es war schon spät, bald würde es Abendessen geben.
„Gehen wir dann langsam zum Essen?", fragte ich Shiva. Der senkte verlegen den Blick.
„Wir sollten nicht gleichzeitig dort aufkreuzen, Sky. Du bist jetzt nicht mal mehr Teil der Clique. Ich sollte nicht mit dir gesehen werden. Avery ist eh schon misstrauisch, weil ich noch immer mit dir in einem Zimmer wohne.", erklärte er und sah mich entschuldigend an. Mein Lächeln gefror. Ich machte auf dem Absatz kehrt und verschwand ohne ein weiteres Wort. Was war nur mit ihm los? Warum ließ er sich von Avery kontrollieren?

Auch, als die Sonne schon längst untergegangen war, konnte ich über nichts anderes nachdenken. Ich lag im Bett und wälzte mich hin und her, während ich in die Stille lauschte. Ich konnte nicht schlafen, lag eine gefühlte Ewigkeit lang wach. Dann beschloss ich, dass es keinen Sinn hatte. Ich schlug die Bettdecke zurück und stieg im Schlafanzug aus dem Bett. Auf leisen Sohlen schlich ich durch unser Zimmer, öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte nach draußen auf den Gang. Als ich die Haustür öffnete, fuhr mir ein eisiger Wind entgegen. Ich fröstelte, trat aber trotzdem nach draußen ins fahle Mondlicht. Kaum stand ich vor der Hütte, verwandelte ich mich. Als großer, brauner Adler stieg ich in den nächtlich schwarzen Himmel auf. Beinahe lautlos zog ich meine Kreise einige hundert Meter über der Schule, flog über den Wald hinweg bis zu den Klippen und weiter aufs Meer hinaus. Dort ging ich tiefer, bis ich nur noch die Krallen hätte ausstrecken müssen, um das Wasser zu berühren. Ich flog weiter, immer weiter hinaus und fragte mich, ob es jemandem auffallen sollte, falls ich nicht zurückkam. Ich könnte einfach hier draußen bleiben, vielleicht als Tier leben, und irgendwann meine Familie wiedertreffen. Aber dann dachte ich an Shiva. An Avery. Und an Yuna. An Faeye, Crowley, Vera und Luan. An alle meine ehemaligen Freunde. Konnte ich sie wirklich einfach im Stich lassen? Und was würde Nele denken, wenn sie erfuhr, dass ich verschwunden war? Seufzend flog ich nach oben, verknüpfte einen halben Salto mit einer Schraube und glitt zurück in Richtung Redcliff High.
Als ich wieder über den Wald flog, sah ich plötzlich einen dünnen Schatten, der nicht weit vor mir in Richtung Schule schoss. Beinahe lautlos verharrte der fremde Vogel in der Luft und ich stieg rasch höher auf, damit mich der auf der Stelle fliegende Falke nicht sah. War das einer der Spione?
»Hallo? Komm schon raus, du feiger Verfolger!«, ertönte plötzlich Yunas Stimme in meinem Kopf. Verlegen ließ ich mich wieder sinken und zog einen engen Kreis um das Falken-Mädchen.
»Ich bin's. Kein Stress.«, antwortete ich.
»Ach, Sky. Kannst du auch nicht schlafen?«, wollte sie wissen. Ich schickte ihr ein Bild meiner nickenden Menschengestalt.
»Fliegst du ein Stück mit mir?«, die Worte verließen meinen Kopf, ehe ich darüber nachdenken konnte, dass ich gerade jemanden zu einem gemeinsamen Flug einlud. Das war wie ein Date! Ich hätte mir genauso gut ein Schild um den Hals hängen können, auf dem Ich bin in Yuna verknallt stand. Auch wenn ich das nicht war. Also, nicht richtig.
»Klar, gern.«, flüsterte Yuna in meinem Kopf. Und wie von selbst kam sie neben mich und wir flogen gemeinsam einen großen Kreis über dem Wald. Es fühlte sich wunderbar an, als sie noch etwas näherkam und sich unsere Flügelspitzen sanft berührten. Ich hielt den Atem an und vergaß das Desaster mit Leni völlig. Jetzt und hier fühlte es sich richtig an. Mit einer spielerischen Rolle kam ich auf ihre andere Seite. Yuna kicherte in meinem Kopf und vollführte eine so enge Schleife, dass ich Mühe hatte, ihr zu flogen. Dann ließ ich mich nach unten fallen und vollführte einen perfekten Vorwärtssalto. Yuna kam hinterher und kopierte jede meiner Bewegungen. Gemeinsam schraubten wir uns wieder in den Himmel hinauf, um uns dann in einem herrlich schnellen Sturzflug wieder hinabzustürzen. Es war so wunderbar einfach mit Yuna. Weder mir noch ihr war es peinlich oder unangenehm, es war einfach nur wunderschön. Ich dachte keine einzige Sekunde mehr daran, abzuhauen. Alles, was ich mir in diesem Moment wünschte, war, dass dieser Flug nie enden würde.

Auch, als ich lange nach Mitternacht wieder in meine Hütte zurückging, fühlte ich mich noch, als würde ich auf Wolken schweben. Wen interessierten schon eine fiese Clique, Boote oder eine durchgeknallte Schwester? Ich sollte mir überhaupt keine Gedanken über solche Sachen machen! Das Leben war wunderbar, und wenn Avery das nicht so sah, war es eben ihr Pech!
Ich hätte am liebsten die ganze Welt umarmt! Es war alles soperfekt, ich hatte es geschafft, mich des Lebens Glücks zu öffnen und meine Wünsche waren erfüllt worden. Ich wäre am liebsten irgendwo ins Wasser gesprungen, am besten an einem kleinen See, und hätte wild drauf los gespritzt. Es war eine herrliche Nacht! Zum Teil wollte ich ausrasten und kreischend herumhüpfen, zum Teil hätte ich mich am liebsten irgendwo eingekuschelt und das Gefühl genossen. Ich trug ein Schutzschild, das mich vor allen Sorgen abschirmte. Es war möglich, dass meine geliebte Schwester recht besaß: Ich musste erkennen, dass die Gefahr nur eine Erfindung jener ist, die Angst und Schrecken in der Welt verbreiten wollten! Ich sollte mich fallen lassen, in dem ständigen...
Plötzlich wurde mir klar, was ich da gerade dachte. Ich hatte Nele Recht gegeben! Ich schüttelte mir die Gedanken aus dem Kopf. Das war ja wohl völlig verrückt! Ich war nicht krank. Oder doch? Was, wenn ich mich bei Nele angesteckt hatte, als wir noch gesegelt waren, und die Krankheit brach nur sehr langsam aus?! Angst stieg in mir auf, doch ich unterdrückte sie.
Mir geht es gut. Es war nur kurz und ich habe es direkt bemerkt. Nele merkt es nicht, also alles halb so wild., redete ich mir ein. Es half tatsächlich ein bisschen, obwohl ich mir jetzt wieder mehr Sorgen um Nele machte. Ich wusste, dass es die dämlichste Idee aller Zeiten war. Aber ich tat es trotzdem.
„SKY!", schrie Nele, als sie ans Telefon ging, und sah aus, als wäre sie aus dem Bett gefallen. War sie vielleicht auch, es war schließlich mitten in der Nacht und Handys klingeltenziemlich laut.
„WAS IST?!", rief sie panisch und schaltete ihr Deckenlicht ein.
„Alles gut, keine Sorge, nichts passiert.", versicherte ich ihr hastig. Nele sah mich verwirrt an. Dann jedoch verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.
„Ich fürchtete schon, dir sei etwas zugestoßen!" Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
„Was ist los, warum redest du so komisch?!", fragte ich sie verzweifelt.
„Ach, mein himmlischer Bruder! Eines Tages wirst auch du zu dem Ort finden, an dem ich bin. Du wirst verstehen, was du zu verstehen versuchst, sagen, was du sagen willst und fähig sein zu Dingen, die du fähig zu sein versuchst"
„Es heißt zu denen du fähig zu sein versuchst", verbesserte ich automatisch. Nele giggelte.
„Ach, ist das von Bedeutung?" Alles klar, die Sache war ernst. Meine Schwester liebt Grammatik. Wenn sie sagte, dass sie ihr plötzlich egal war, hatte sie die Zimmertemperatur mindestens auf 50° hochgedreht und eine mittelschwere Gehirnerschütterung erlitten.
„Nele!", versuchte ich es eindringlich, „Kannst du mir einen Gefallen tun?"
„Was immer du wünschst! Ich bin offen für deine Befehle!" Sie drehte sich im Kreis, als wäre sie auf einem Mitternachtsball und hätte das schönste Kleid aller Zeiten an.
„Kannst du mir mal das Thermometer deiner Wohnung zeigen?", bat ich sie. Nele schien verwundert, säuselte aber nur:
„Was immer du willst, lieber Bruder!" Und drehte ihre Kamera um. Ich sah ihr Zimmer, während sie sich auf die Tür zubewegte. Die Temperaturanzeige zeigte 17°, also eher zu kalt als zu heiß.
„Dann werde ich jetzt mit meiner derzeitigen Beschäftigung des Tagträumens fortfahren", kündigte Nele an. Ich nickte, aber in Gedanken war ich schon ganz woanders. Ich bekam kaum mit, wie Nele auflegte und ließ mich wie ferngesteuert auf mein Bett sinken, zog mir die Decke bis zu den Schultern hoch und rollte mich eng zusammen.
Doch ich konnte noch immer nicht schlafen. Das Treffen mit Yuna schien am Ende alles nur noch schlimmer gemacht zu haben. Ich spürte, wie sich ein Knoten der Angst in meiner Brust bildete, er wuchs schnell, drohte, mich zu ersticken. Mir wurde schwindelig und ich kniff die Augen so fest zu wie ich konnte. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf mit grauenvollen Alpträumen, in denen ich von riesigen Monstereulen gejagt wurde, während ich versuchte, meine Schwester zu retten, die dachte, sie könne mithilfe ihres Glücks fliegen und von einem Hochhaus springen wollte. Ich rannte die Treppen hoch, immer mehr und mehr, doch ich kam fast nicht voran. Das Haus wuchs immer höher, doch dann war ich plötzlich oben. Dort stand Nele, in ein Handtuch gewickelt, ihre langen braunen Haare wehten im Wind. Doch ihr Grinsen sah aus wie von einem Zombie.
„Sky. Ich werde mich jetzt zur wahren Seite des Lebens begeben" Ihre Stimme klang hohl und mechanisch.
„Nein, Nele! DAS FUNKTIONIERT NICHT!", schrie ich ihr zu, doch sie schien mich nicht zu hören.
„Bye, Sky. Du wirst mir fehlen, wenn ich in meinem Glück bin und du noch hier stehst!", säuselte sie mir zu. Dann machte sie einen weiteren Schritt rückwärts, gleich würde sie von der Kante stürzen.
„TU ES NICHT! DU KANNST NICHT FLIEGEN!", kreischte ich und versuchte, sie mit einem Sprung zu erreichen. Doch ich kam nicht vom Fleck.
„Du wirst schon sehen" Nele lächelte geheimnisvoll, breitete die Arme aus... und kippte nach hinten.
„NEIN!" Ich machte einen Satz nach vorne und erwachte schweißgebadet in meinem Zimmer. Shiva blinzelte.
„Was ist passiert?", murmelte er schläfrig. Ich hockte schwer atmend auf meinem Bett, meine Hände zitterten.
„Nichts. Ich... hab geträumt.", erklärte ich mit wackliger Stimme. Shiva setzte sich auf.
„Gut. Nur ein Traum, also alles in Ordnung.", stellte Shiva gähnend fest und es klang, als wolle er mich damit beruhigen.
Ich zwang mich, mich wieder hinzulegen und die Augen zuzumachen. Doch schlafen konnte ich nicht mehr, das Bild von Nele, die über die Kante trat, tauchte immer wieder vor meinem inneren Auge auf.

Ich war erleichtert, als der Wecker mich erlöste. Müde kroch ich aus dem Bett und zog mich an, dann ging ich zum Frühstück. Zum Glück waren Avery und die Windwalker noch nicht da, als ich in der Mensa ankam, also konnte ich in Ruhe essen. Danach verzog ich mich wieder in meine Hütte und nahm mein Handy heraus, um meiner Oma eine Nachricht zu schreiben, in der ich sie bat, mich für die Schule zu entschuldigen und nach Los Angeles zu fahren.
Als ich jedoch auf die App tippte, sprang mir die ungelesene Nachricht förmlich entgegen.
Nein, da drücke ich nicht drauf!, sagte ich in Gedanken zu mir selbst, Das ist ein Virus!
Aber selbst, wenn es einer war, was wollte der auf meinem Handy schon an Daten stehlen? Fotos? Hatte ich keine. Meine Kontonummer? Ich hatte ja nicht mal ein Konto. Irgendwelche persönlichen Daten? Die waren nicht auf meinem Handy gespeichert.
Meine Neugier siegte. Ich klickte auf die Nachricht, sie öffnete sich und ich las mir die erste Zeile durch. Nein, Das konnte nicht sein. Das Handy rutschte mir aus der Hand und landete auf der Matratze. Ich spürte, wie ein Schluchzen in mir aufstieg. Vor meinen Augen verschwamm das Zimmer zu bunten Flecken.
Die Nachricht kam von meinen Eltern.

Windwalkers - Der Ruf des MeeresWo Geschichten leben. Entdecke jetzt