Und ich hatte recht. Das wurde mir klar, als am nächsten Morgen die fünfte Stunde begann. Mr. Blackheart kam herein, wir stellten uns in einem Halbkreis vor ihm auf und die letzten Gespräche verstummten. Wir warteten darauf, dass uns unser Kampflehrer wie jede Stunde mit einem lauten „Guten Morgen zusammen!" begrüßte. Doch er tat es nicht. Stattdessen starrte er uns an, einen nach dem anderen. So, als würde er sich große Sorgen um uns machen. Dann jedoch schüttelte er den Kopf, als wolle er ein paar dämliche Gedanken vertreiben.
„Heute werden wir den Kampf gegen einen besonderen Feind üben.", kündigte er dann an. Ich war sofort in Alarmbereitschaft. Hieß das, dass er uns auf einen Angriff vorbereiten wollte?
„Deshalb werde ich heute keine Zweiergruppen zusammenstellen. Ihr lernt heute, euch auf Zusammenhalt und Teamwork zu verlassen und die Besonderheiten jedes einzelnen zu nutzen. Dafür brauchen wir jetzt die Windwalker-Clique. Ihr gegen die anderen. Das Ziel der Vögel ist es, diese Matte", er zog eine dünne Turnmatte in die Mitte der Arena, „zu besetzen. Dafür muss einer von euch darauf landen. Die anderen haben die Aufgabe, euch davon abzuhalten.", erklärte Mr. Blackheart. Mir wurde flau im Magen. Die Matte stand für die Schule, so viel war klar. Mr. Blackheart rechnete also mit einem Angriff aus der Luft – und damit, dass wir Windwalker uns gegen ihn stellen würden. Ich verdrängte diese Gedanken wieder. Scheinbar wusste der Schulleiter genauestens über die Situation Bescheid, also musste ich mich nicht darum kümmern.
Ich verwandelte mich und stieg in den Himmel auf. Avery schien das Ganze für eine simple Übung zu halten und war entschlossen, allen zu zeigen, wie gut wir als Team waren.
»Nicola, Vincent, Leni, ihr haltet euch links und zieht die Aufmerksamkeit auf euch.«, kommandierte sie. Die drei zogen augenblicklich nach links ab.
»Patrik und Luan starten den ersten Angriff, um zu testen, wie gut die Verteidigung ist. Yuna, du machst den zweiten, Shiva den dritten.« Dann tauchte sie ab und kreiste lautlos einmal um die Turnmatte herum. Patrik schoss nach unten. In diesem Moment hörte die leise Stimme von June in meinem Kopf:
»Patrik von rechts, Reihen schließen!« Mit einem gewaltigen Sprung katapultierte sich Lou als Luchsin in die Luft. Patrik quakte erschrocken, als ihre Pfote ihn von der Seite anstupste. Sie hätte ihn locker vom Himmel holen können. Doch das hier war nur ein Übungskampf, daher tat sie es nicht.
»Faeye, du versuchst dich durchzufädeln, Crowley, du kommst von oben!«, befahl Avery. Faeye schoss nach unten... und wurde fast von Summers Tigerschwanz erschlagen, der durch die Luft wirbelte, als die einen gemeinsamen Vorstoß von Nicola und Vincent abwehrte. Faeye hatte es sehr eilig, wieder nach oben zu kommen. Crowley hatte mehr Glück, er schaffte es sehr nah an die Matte heran. Nur noch ein paar Meter! Doch plötzlich schnappte eine Hand mit blitzschnellen Bewegungen zu. Ylva, die Alphawölfin des winzigen Schulrudels, hatte sich teilverwandelt und hielt Crowley geschickt um die Flügel fest, sodass er nicht mehr fliegen konnte. Ich war erleichtert, als ich das sah, denn hier waren wir die Bösen. Es war beruhigend zu wissen, dass die anderen sich im Notfall verteidigen konnten.
»FAEYE!«, rief Avery in unseren Köpfen, »Du musst von oben runter und drauf landen!« Doch Faeye schickte uns ein Bild ihrer kopfschüttelnden Menschengestalt.
»Die würden mich ZERQUETSCHEN.«, gab sie zu bedenken. Avery stieß einen Fluch aus, musste ihr allerdings recht geben.
»Yuna, hol Crowley da raus!«, befahl sie dann und flog einen Kreis um die Matte herum. Einige der Raubkatzen und Wölfe blickten knurrend zu ihr hoch oder schlugen mit ausgefahrenen Krallen in ihre Richtung. Yuna näherte sich von der anderen Seite Ylva, die gerade auch zu Avery hochstarrte. Sie zwickte die Alphawölfin ins Ohr, woraufhin die erschrocken aufschrie und sich ihr Griff scheinbar für eine Sekunde lockerte. Das reichte Crowley, um sich zu befreien und außer Reichweite zu flattern.
»Stellung halten, Leute!«, kommandierte Junes raue, entschlossene Stimme. Ylva knurrte sie an, machte ihre Teilverwandlung aber schließlich rückgängig. Scheinbar wäre sie auch gern die Anführerin der Landtiere.
»Nicola, Yuna, ihr kommt jetzt von links. Vincent, du von rechts, Leni gibt dir Deckung. Luan, du lenkst von ihnen ab!« Avery schien entschlossen, diesen Übungskampf zu gewinnen. Die Landtiere allerdings auch, denn als Nicola und Vincent tiefer gingen, wurden sie sofort von Phil und Sophie ins Visier genommen. Gleichzeitig wehrten Summer und Ylva Vincent ab, während June sich auf Luan stürzte, der scheinbar etwas zu nah gekommen war. Mit einem gewaltigen Satz katapultierte sie sich in die Luft. Der blaue Ara schlug erschrocken mit den Flügeln, doch er hatte keine Chance mehr. June zerrte ihn auf den Boden und er konnte froh sein, dass er sich dank der Sägespäne nicht verletzte.
»Luana ist raus!«, teilte uns Mr. Blackheart mit.
»Mr. Blackheart, könnten sie sich bitte auf Luan umgewöhnen?«, fragte der Ara-Junge.
»Oh, natürlich. Tut mir leid, Luan. Weiter geht's!«, rief er uns zu. Avery lies als nächstes Shiva vorstoßen, doch auch er schaffte es nicht auf die Matte. Dann kommandierte sie plötzlich:
»Yuna, Vincent, Faeye, kommt zu mir. Wir müssen uns besprechen.« Verwundert gehorchten die drei und flogen eine Weile neben ihr.
»Na schön.«, sagte Faeye schließlich, »Aber nur, weil es keine andere Erklärung gibt.« Avery schoss ihr einen warnenden Blick zu... und wandte sich an mich.
»Sky. Du informierst die Landtiere darüber, was wir planen! Du bist disqualifiziert!«, schrie sie mich an.
»Wie? Ich informiere... Wie kannst du das denken!«, beschwerte ich mich.
»Du bist ein Verräter. Du wolltest schon nicht, dass ich dein Zimmer betrete. Dann verbreitest du so widerliche Gerüchte über mich, und jetzt verrätst du die Clique! Niemand, wirklich NIEMAND hat uns so sehr missbraucht wie du!«, kreischte sie und gab den anderen einen Wink. Daraufhin stürzten sich die Windwalker auf mich. Ich schnappte nach Luft und versuchte, auszuweichen, doch Nicola packte mich mit ihren scharfen Krallen am Flügel. Ich schüttelte sie wieder ab und versuchte die brennenden Kratzspuren zu ignorieren. Als nächstes kam Vincent, der mich von der Seite rammte und nach meinem Nacken pickte. Gleichzeitig stieß jemand von oben auf mich herab... Shiva. Mein Herz fühlte sich an, als würde es jemand zerreißen. Mein bester Freund hatte mich verraten. Er rammte mich, ich fand nicht die Kraft, mich zu wehren. Ich fühlte mich allein, trostlos und verlassen. Ich hatte keine Freunde, niemanden, der mir glaubte, keine Eltern und keinen Verbündeten mehr. Ich fiel. Lies einfach die Flügel angelegt und hoffte, dass ich das hier irgendwie vergessen konnte. Meine Kraft war aufgebraucht, ich konnte nicht mehr. Wollte nicht mehr. Ich schloss die Augen und spürte, wie ich trotz der Späne hart auf dem Boden aufkam. Der Schmerz fuhr durch meinen Rücken, doch ich achtete nicht darauf. Ich hörte Stimmen, die nach mir riefen, sah verschwommen, wie sich Leute um mich scharten, doch das war mir egal. In mir war nur noch Leere, schwarz, tief und trostlos. Ich ließ mich einfach hineinfallen in die Trauer und wünschte mir, sie würde mich weit fortbringen, irgendwohin, wo Avery mich nicht fand.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann hörte ich, wie jemand nach mir rief. Erst nur leise, dann immer deutlicher, bis ich realisierte, dass ich ohnmächtig gewesen war. Kaum hatte ich das erkannt, riss es mich zurück in die Wirklichkeit. Plötzlich konnte ich meinen Körper wieder spüren, auch den Schmerz in meinem Rücken und den Armen bemerkte ich erst jetzt. Irgendwie hatte ich mich in einen Menschen zurückverwandelt.
„Sky. Wie fühlst du dich?", fragte die Stimme von vorhin. Ich blinzelte und erkannte ein Gesicht über mir. Die lockigen hellblonden Haare hatte sich die Frau zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihre blassblauen Augen betrachteten mich durch eine dicke, braun umrandete Brille. Das war doch Mrs. Shygirl! Dann... war ich auf der Krankenstation?
„Wie fühlst du dich?", wiederholte sie ihre Frage. Ich horchte in mich hinein.
„Ähm... plattgedrückt.", antwortete ich, erschrocken über meine kratzige Stimme. Mrs. Shygirl grinste.
„Gut, du fühlst immerhin wieder etwas." Sie seufzte. „Mr. Blackheart hat gesagt, alle hätten sich auf die gestürzt. Avery, Vincent, Crowley, Shiva... Was ist passiert?", wollte sie wissen. Ich dachte kurz nach, doch dann waren die Erinnerungen zurück und ich setzte mich kerzengerade auf.
„Avery hat...", begann ich, unterbrach mich jedoch sofort. Die Windwalker würden mich sicher nicht besser behandeln, wenn ich ihre Anführerin verpetzte.
„Avery hatte einen Ablenkungsplan, zur Verwirrung... aber ich war zu doof, mich in der Luft zu halten, und bin abgestürzt.", behauptete ich und hoffte, dass ich einigermaßen glaubwürdig klang.
„Ach so." Mrs. Shygirls Blick fiel auf meinen Arm, an dem immer noch Nicolas Krallenspuren zu sehen waren. Sie glaubte mir kein Wort. Ich sah zu Boden und hoffte, dass sie mich einfach damit in Ruhe lassen würde. Glücklicherweise wandte sie sich tatsächlich ab und ging zur Tür der Krankenstation. Sie öffnete und Mr. Blackheart betrat den Raum.
„Sky, wie geht es dir?", wollte er wissen.
„Ganz okay.", antwortete ich.
„Gut. Dann... Was ist da passiert? Warum haben sie dich angegriffen? Wessen Idee war das?" Er bombardierte mich mit Fragen und schien genau zu wissen, dass ich die Antworten kannte.
„Es war als Ablenkungsmanöver gedacht, aber ich war zu doof, mich in der Luft zu halten, und bin abgestürzt", murmelte ich und bedeckte die Kratzer auf meinem Arm mit der Hand, bevor er sie sah.
„Wer hatte denn diese dämliche Idee?", rief er aus. Ich antwortete nicht. Natürlich hatte Avery befohlen, mich anzugreifen, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Mr. Blackheart schien zu merken, dass ich nicht darüber sprechen wollte, und wandte sich an Mrs. Shygirl.
„Kann er wieder normal am Unterricht teilnehmen?"
„Klar. Nachdem er für heute beendet wurde... Es ist nicht so, dass Sky gesundheitliche Probleme hätte" Bei diesen Worten sah sie mich besorgt an. Mr. Blackheart nickte knapp und verließ den Raum.
„Du solltest jetzt langsam in deine Hütte gehen, Sky.", meinte Mrs. Shygirl zu mir. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, schüttelte ich den Kopf. Ihr Blick gefror.
„Wieso nicht?" Ich wand mich unter ihrem Blick.
Sie ist nur eine Maus, erinnerte ich mich selbst, lächerlich, sich von ihr einschüchtern zu lassen! Doch es half nichts. Ich fühlte mich ganz klein unter ihren strengen, bohrenden Augen.
„Es... ich möchte nicht darüber sprechen", erklärte ich leise. Sie seufzte und sah aus dem Fenster, als müsse sie überlegen. Dann jedoch nickte sie.
„Trotzdem solltest du gehen. Luna begleitet dich, falls du nochmal umkippst." Kaum hatte sie das gesagt, glitt das Nebelparder-Mädchen durch die Tür. Ich wusste natürlich, dass Mrs. Shygirl sie mir nur mitschickte, um mich bei weiteren Angriffen zu verteidigen. Doch ich war froh darüber, denn ich lebte nicht allein in meiner Hütte. Und da der Unterricht beendet worden war, konnte ich sicher sein, Shiva in unserem Zimmer anzutreffen.
Er saß auf dem Bett und blickte nicht auf, als ich eintrat. Als jedoch Luna ins Zimmer kam, sprang er auf und vertrat ihr den Weg.
„KEINE LANDTIERE IN DIESEM ZIMMER! WIE KANNST DU ES WAGEN, HIER REINZUKOMMEN?", schrie er sie an. Luna fauchte und fuhr die Krallen aus.
»Ich bin dafür zuständig, Mrs. Shygirl zu informieren, falls Sky nochmal ohnmächtig wird.«, erklärte sie.
„Dafür bin ICH jetzt da", meinte Shiva.
„Du würdest mir doch niemals helfen!", rief ich von hinten. Er wirbelte zu mir herum und starrte mich an.
„Doch, natürlich! Wir sind beste Freunde!", erinnerte er mich. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich vor Lachen auf dem Boden kringeln oder ihm einen psychologischen Test empfehlen sollte.
„BESTE FREUNDE?!", wiederholte ich, „Du hast mich vom Himmel gerammt! Du hast mich in Ohnmacht geschickt! Du bist Averys Befehlen gefolgt! DU HAST MICH HINTERGANGEN!!!" Für einen Augenblick starrte Shiva mich an, dann stieß er Luna hinaus und knallte die Tür hinter ihr zu. Langsam ließ sich mein Mitbewohner auf sein Bett sinken und sah mich traurig an.
„Sky, das tut mir echt leid, was vorhin passiert ist! Aber du verstehst das nicht. Ich muss mich selbst schützen."
„Indem du mich dafür opferst? Toller Freund!", rief ich sarkastisch.
„Nein, ich... will einfach keine Schwierigkeiten. Ich höre auf Avery, weil ich keine Wahl habe. Was soll ich schon gegen sie tun?" Ich war wütend. Auf Shiva, auf Avery, aber vor allem auf mich selbst. Weil ich verstehen konnte, was er sagte. Ich wollte es nicht verstehen, wollte es nicht wahrhaben, doch tief in mir wusste ich, dass ich ihm schon verziehen hatte.
„Shiva, das hier ist... schwierig. Aber wir – oder eher ich – muss mich auf die richtige Seite stellen. Avery ist gemein, sie denkt nur an sich und unterdrückt uns! So will ich mein Schulleben nicht leben!", erklärte ich ihm.
„Dann viel Glück dir. Ich hoffe, du schaffst es gegen sie. Aber ich kann sowas nicht.", flüsterte Shiva und wandte sich ab.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wurde mir plötzlich klar, dass schon der 4. Dezember war. Es würde mein erstes Weihnachten an Land werden, deshalb wusste ich nicht so genau, was die anderen mit den vielen bunten Säckchen und den Kerzen anstellten. Bei uns auf dem Schiff hatte es nur eine Advents-Tradition gegeben:
Wir fischten, jeden Morgen. Am ersten Dezember jeder einen Fisch, am zweiten jeder zwei, am dritten jeder drei und so weiter, bis wir am 24. Dezember schließlich jeder 24 Fische fangen musste. Das klang vielleicht ein bisschen brutal gegenüber den Fischen, aber wenn man bedachte, dass ein Delfin normalerweise ein paar Kilo Fisch pro Tag fraß, war das nichts.
Aber hier an Land konnte ich nicht fischen. Ich telefonierte zwar jeden Tag mit Nele, aber das war nicht dasselbe.
In Menschenkunde erfuhren wir jedoch, dass sich die Menschen dafür andere Traditionen ausgedacht hatten, und Faeye gab sich große Mühe, sie denen, die als Tier aufgewachsen waren, zu erklären. Als ich noch auf dem Boot gelebt hatte, waren meine Geschenke am Weihnachtsmorgen immer an Deck gelegen, doch das Kolibri-Mädchen erklärte, wie das mit dem Tannenbaum funktionierte.
Ich freute mich schon auf Weihnachten, vor allem als Faeye mitten im Unterricht rausrutschte, dass sie beim Lauschen vor dem Büro etwas von einer Schulweihnachtsfeier gehört hatte. Ich hatte große Lust auf eine Party, vor allem, weil ich bei den Windwalkern nicht mehr mitfeiern durfte.
Das war es, was ich tun wollte: Einfach Spaß haben und mir keine Sorgen über irgendwelche Spione machen müssen. Schließlich war ich erst dreizehn. Ich sollte mich noch nicht mit solchen Themen herumschlagen müssen! Das war was für die Erwachsenen.
Dachte ich...
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Windwalkers - Der Ruf des Meeres
FanfictionDer dreizehnjährige Adler-Junge Sky hat acht Jahre lang mit seiner Familie auf dem Meer gelebt. Sie sind um die ganze Welt gesegelt und haben verschiedenste Dinge gesehen. Dann soll Sky jedoch auf eine Schule an Land gehen, was ihm zuerst gar nicht...