ZEHN

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WOOYOUNG

Was hatte es nur mit ihr auf sich? Sie schien zu gewöhnlich zu sein, als dass sie uns gefährlich werden könnte. Der Auftrag aber lautete ganz deutlich, sie unter keinen Umständen loszubinden und stetig im Auge zu behalten. Ihre Gefahr sei nicht einschätzbar. Wieso also waren unsere Auftraggeber der Meinung, sie hätte das Zeug dazu einer ganzen Piratencrew den Gar auszumachen und damit das gesamte Unterfangen zu gefährden? 

Nachdem es ihr aber so schlecht ging, beschlossen wir einheitlich, dass dieses Mädchen keiner Fliege was zu Leide tun könnte, außer vielleicht einige von uns mit Suppe zu bespucken oder flapsige Sprüche zu drücken. Und so ließen wir sie ohne Fesseln auf dem Schiff herumspazieren. Ob das allerdings eine gute Idee war, wagte ich zu bezweifeln. 

Es gab einige kritische Stimmen aus unseren Reihen, ob es denn wirklich notwendig sein musste, sie hier auch noch wie einen Gast zu behandeln. So auch meine, aber Yeosang und Seonghwa hatten sich für sie eingesetzt und so hatte Hongjoong dann endgültig nachgegeben. Als könne er Seonghwa je einen Wunsch abschlagen. 

Doch keiner hier an Bord konnte sie so richtig einschätzen und das brachte auch einige Risiken mit sich. Nicht einmal Jongho, der ihre Aura versucht hatte zu lesen und nur etwas von Schmetterlingen in ihrem Bauch faselte, konnte mehr zu ihren Absichten sagen. Was, wenn sie uns mitten in der Nacht überfiel und das Schiff kaperte? Bei dem Gedanken rutschte mir ein Mundwinkel nach oben. Das war dann doch etwas absurd. Wir waren schließlich nicht umsonst Piraten, die selten einen Angriff abwehren mussten, da es keiner mit uns aufnehmen wollte. Das war auch die klügere Entscheidung.

Die frühe Morgensonne stand noch nicht hoch am Himmel, brannte aber bereits auf meiner Haut. Ich rutschte auf der Kiste, auf der ich an Deck saß, ein paar Zentimeter nach rechts, um Schutz vor ihr in dem angenehmen Schatten des Mastes zu suchen. Gestern Abend hatte Seonghwa seine Wettschulden endlich eingelöst und meinen Küchendienst und so auch die Vorbereitungen für den nächsten Tag übernommen. 

Somit hatte ich das Frühstück für die Crew schnell vorbereitet und konnte den Morgen ganz ohne Arbeit an Deck verbringen und meine Seele baumeln lassen. Ich bemerkte Bewegungen über meinem Kopf und hob ihn, um Yeosang dabei zuzusehen wie er leichtfüßig die beachtlich hoch reichenden Netze von seinem Ausblick herunterkletterte. Er beendete wohl seine Nachtwache und grüßte mich mit einem müden Lächeln. „Kannst du Hongjoong weitergeben, dass ich eine kurze Pause mache? Die Sicht ist klar, es sollte hier so weit draußen keine Probleme geben." 

Ich nickte meinem engen und langjährigen Freund zu und wünschte ihm einen erholsamen Schlaf. Er hatte die ganze Nacht Ausschau nach Feinden, Unwettern oder Hindernissen gehalten. Er musste todmüde sein. 

Kurze Zeit später kam San an Deck und ließ sich wortlos neben mir auf der Kiste nieder. Mein bester Freund polierte seine Revolver, die bereits makellos glänzten. Er war verschlossener in den letzten Tagen. Genauer gesagt, seitdem er Aurora ausfindig gemacht hatte, wir Kurs auf Seraphil genommen und sie entführt hatten. 

Und obwohl wir jede freie Minute miteinander verbrachten, vermisste ich ihn und seine aufgeschlossene Art. Irgendetwas stimmte nicht. Ich dachte als sein bester Freund würde er sich mir vielleicht anvertrauen und erklären, was ihn so nachdenklich stimmte, doch selbst der Freiraum, den ich ihm die letzten Tage gab, führte zu keiner Offenbarung seinerseits. 

„Gut geschlafen?", versuchte ich eine vorsichtige Kontaktaufnahme in seine Richtung. Er brummte nur zustimmend, sein Blick weiterhin auf die Revolver geheftet, die in seinem Schoß lagen und die er immer noch eifrig polierte. 

„Jetzt hör schon auf die ollen Dinger zu schrubben, die hast du doch schon ewig nicht mehr benutzen müssen!" Versuchte ich es mit etwas mehr Nachdruck in der Stimme und stoppte seine Hände vom Säubern seiner Waffen, indem ich meine auf sie legte. Erst jetzt schaute er von seinen Revolvern auf und musterte mich eindringlich mit einem Blick aus Nachdenklichkeit und Finsternis. Wäre das vor mir gerade nicht mein bester Freund, würde ich jetzt das Weite suchen.

„San," ich streichelte ihm behutsam über seine Hand, "nun sprich doch endlich mit Jemandem. Zum Beispiel mit mir?" Ich grinste ihn schief an und versuchte ihn damit aus seiner Reserve zu locken. 

„Worüber?" Seine Stimme war vom Schlaf noch rau und belegt und ich spürte ein wohliges Kribbeln in mir. Diese Stimme erinnerte mich an die Tage, an denen wir uns nachts ein Bett teilten, um vor Einsamkeit an Bord nicht zu Grunde zu gehen. Ich schüttelte den Gedanken innerlich beiseite. Jetzt ging es um etwas Wichtigeres. 

„Wir wissen beide, dass du etwas auf dem Herzen trägst, mir brauchst du sicherlich nichts vormachen. Wenn du noch mehr Zeit brauchst, gebe ich sie dir, aber ich möchte dir klar machen, dass ich immer für dich da bin, egal, welche Qualen dich plagen." 

Der Druck seines Daumens, der sich mittlerweile auf meine Hand gelegt hatte, verstärkte sich, als er über die Reling hinaus auf den Horizont blickte. Als er seinen Kopf wieder zu mir drehte, nahm er einen tiefen Atemzug und setzte zum Reden an, stoppte aber abrupt wieder, als sich mein Körper reflexartig anspannte, da ich eine Person in meinem Augenwinkel ausmachen konnte, die ich jetzt mehr denn je zuvor am liebsten zum Mond geschossen hätte. 

Aurora kam zögerlich an Deck und schien irgendetwas oder irgendjemanden zu suchen. Sie blickte auf das weite Meer und die aufsteigende Sonne und atmete dabei sichtbar ein. Die weiße Bluse und der dazu passende Rock von Seonghwa umspielten durch den Wind ihren zierlichen Körper und als ihre braunen Locken ihr die Sicht nahmen und sie Mühe hatte, sie wieder aus dem Gesicht zu fischen, hätte ich fast vergessen, dass ich sie hier nicht haben wollte. 

Sie schaute sich suchend auf dem Deck um und als sie uns schlussendlich erblickte, verfinsterte sich auch ihr Blick und bevor jemand ein Wort sagen konnte, drehte sie sich um und verschwand so schnell unter Deck wie sie gekommen war. Mit uns hatte sie schonmal nicht reden wollen. Soll mir bloß recht sein, dachte ich und schnaufte innerlich. 

Hoffentlich hatte ich ihr gestern meinen Standpunkt deutlich genug gemacht. Ich hatte sie im Auge, da ich sie nicht einschätzen konnte und sie damit eine Gefahr für alle von uns darstellte. Vor allem, seit San sich bereits kurz vor ihrem Auftauchen so verschlossen hatte, war sie mir ein persönlicher Dorn im Auge. 

Ich schaute wieder zu ihm, in der Hoffnung er würde seine Worte, die er eben noch an mich richten wollte wiederfinden. Doch er schaute nur noch finsterer auf den Punkt, an dem Aurora zuletzt zu sehen war. 

„Vielleicht später, Wooyo," sagte er im Aufstehen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Er drehte gekonnt beide Revolver in je einer Hand und ließ sie geschickt in die dafür vorgesehenen Holster an seiner linken und rechten Hüfte verschwinden. Seit wann trug er die eigentlich wieder? Wusste er mehr als wir? Dann machte er sich auf den Weg unter Deck, den Aurora eben noch gegangen war und verschwand damit aus meinem Sichtfeld. Nun war ich mit meiner Unwissenheit und den vielen offenen Fragen wieder alleine.


- Hallöchen :) Und? Wie findest du das Kapitel aus Wooyoungs Sicht? Was hälst du generell von einem Wechsel der Erzählperspektiven? Ich finde es gibt nochmal ganz andere Möglichkeiten den Charakter kennenzulernen und die Dinge aus einer anderen Sicht zu betrachten. Bis ganz bald :) -

Aurora - You are my light (Ateez x reader)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt