Ein Alptraum

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"Los, erzähl schon. Wie ist es auf der Uni? Was hast du bis jetzt alles für Schandtaten begangen?"
Gemma wirkt aufgekratzt und Harry hofft, dass sie sich trotzdem auf den Verkehr konzentriert. 
"Ich mache keine Schandtaten."
Die Schwester des Lockenkopfes beginnt schallend zu lachen und biegt, etwas zu rasant, um eine Kurve.
"Ist klar, Hazza. Ich war auch auf der Uni. Ich weiß, was man da alles als Ersti macht."
Harry grummelt. Er und seine Schwester waren schon immer komplett unterschiedliche Charaktere. Gemma war immer auf Partys gegangen und nimmt das Leben so, wie es gerade kommt. Harry hingegen hat schon damals in der Schule lieber am Wochenende ein gutes Buch gelesen und war dann doch eher für sich. Natürlich hatte er Freunde, aber diese bezogen sich meistens auf eine Handvoll, während Gemma die ganze Welt zu kennen scheint. 
"Hast du denn wenigstens schon nette Leute kennengelernt?"
Da schleicht sich doch tatsächlich ein Lächeln auf die Lippen des Jüngeren und seine Schwester schmunzelt. 
"Erzähl."
"Ich habe Lottie kennengelernt. Sie studiert auch Psychologie, aber schon im dritten Semester. Und durch sie habe ich andere Leute kennengelernt. Sie sind wirklich nett."
"Lottie? Gut, man soll ja herumexperimentieren, aber mit einer Frau habe ich nun wirklich nicht gerechnet."
Sofort verzieht Harry sein Gesicht. 
"Doch nicht so. Urgh, Gems."
"Also noch keine neue Liebe?"
Wieder verzieht Harry sein Gesicht. 
"Zayn hat jemanden."
Gemma kreischt begeistert auf und klatscht in die Hände, wobei sie das Lenkrad für einen Moment loslässt und Harry panisch ein Stoßgebet in den Himmel sendet. Nächstes Mal wird er vom Bahnhof doch lieber den Bus nehmen. Er hängt an seinem Leben. 
"Erinnerst du dich noch an Wyatt?"
Die Schwester des Lockenkopfes grummelt und verdreht ihre Augen. Natürlich erinnert sie sich an diesen Wicht. 
"Sag mir jetzt bitte nicht, dass Zayn mit diesem Idioten zusammen ist."
Sofort schüttelt Harry seinen Kopf. Das hätte er verhindert. 
"Nein, aber kannst du dich an Wyatts Ex-Freund erinnern? Liam?"
Die braunhaarige Frau überlegt einen Moment und nickt dann. 
"War das nicht dieser knuffige Typ, der aussah wie ein Teddybär?"
Harry lacht leise.
"Ja, nur, dass er jetzt nicht mehr so aussieht. Also den Teddyblick hat er noch immer, aber anscheinend geht er viel trainieren."
"Und Zayn hat ihn sich unter den Nagel gerissen? Das freut mich."
Gemma hält vor einer roten Ampel.
"Hatte er nicht früher diesen furchtbaren Freund? Lewis? Ihr habt euch doch gehasst, oder?"
"Louis", brummt Harry und verdreht seine Augen. "Und wir hassen und noch immer."
Die Ältere versteht. "Also sind die beiden noch immer befreundet?"
"Sie wohnen sogar in einer WG."
"Also wiederholt sich das ganze? Dein bester Freund datet Liam und der schleppt seinen besten Freund mit, den du nicht leiden kannst?"
"Ein Alptraum."
Gemma setzt den Wagen wieder in Gang und kommt in dem kleinen Örtchen an, in welchem Harrys Mutter wohnt. 
Wie hat Harry es hier vermisst.
"Und dieser Louis hat sich kein bisschen geändert?"
"Müssen wir über ihn reden?"
Eigentlich ist er doch hergekommen, damit Louis Arschloch Tomlinson nicht in seinen Gedanken herumkreist. Er will jetzt nicht über ihn sprechen. 

Der Empfang zu Hause ist genauso stürmisch, wie am Bahnhof. Harrys Mutter tut beinahe so, als wenn sie ihren Sohn seit Jahren nicht gesehen hat. Dabei sind es doch erst wenige Monate. Drei, um genau zu sein. 
"Und ich dachte, das Haus wird erst an Weihnachten wieder voll."
Harry lächelt und setzt sich in die Küche an den Küchentisch. Sie sind die typische Küchenfamilie. Alles spielt sich in diesem Raum ab. Theoretisch brauche sie kein Wohnzimmer. 
"Wie lange bleibst du?", möchte Harry von seiner Schwester wissen und nimmt dankend einen Tee entgegen, welchen sie ihm reicht. 
"Auch nur bis Sonntag. Ich muss am Montag wieder arbeiten."
Harrys Mutter seufzt und stellt einen Teller mit Keksen in die Mitte des Tisches. 
"Dann sollten wir das Wochenende voll und ganz genießen."

Und das tun sie. 
Noch am Freitag schmeißen sie im Garten den Grill an. Dass es dafür eigentlich schon zu kalt ist, hat die Familie Styles noch nie gestört. Und als Nachbar Robin bemerkt, dass nebenan der Grill angefeuert wird, lädt er sich kurzerhand selbst mit ein und die vier genießen den Abend in vollen Zügen. 
Am Samstag klappern sie nach einem ausgiebigen Frühstück sämtliche Verwandten in der Umgebung ab. Sie alle tun so, als wenn Harry und Gemma seit mindestens drei Jahren auf einem anderen Kontinent wohnen und wollen sie am liebsten gar nicht mehr gehen lassen. 
Und als dann der Sonntag kommt, merkt Harry, dass er eigentlich gar nicht zurück an die Uni möchte. Okay, er vermisst Zayn, aber zu Hause ist es am schönsten. 
Sobald er mit dem Studium fertig ist, wird er zurückkommen. Vielleicht nicht in sein Kinderzimmer, aber in diese Stadt. Psychologen braucht es schließlich überall. 
Der Abschied am Bahnhof mit Gemma fällt ihm schwer. Und auch Gemma scheint ihren kleinen Bruder nicht wieder loslassen zu wollen. 
Anne, Harrys Mutter, hat das hingegen etwas taffer weggesteckt. Aber sie sehen sich ja auch schon in drei Wochen zu Weihnachten wieder. 
"Liebe Grüße an Zayn, ja? Ich will ihn Weihnachten sehen. Sollte er nicht vorbeischauen, komme ich ihn holen."
Schmunzelnd schultert Harry seinen Rucksack und nickt. 
"Er vermisst dich sicherlich auch schon."
Schließlich ist Gemma auch so etwas wie Zayns Schwester. 
Als der Zug einfährt, umarmt sich das Geschwisterpaar ein letztes Mal und dann wird es Zeit, dass Harry in den Zug steigt. 
"Lern nicht so viel", hört er Gemma noch rufen, bevor sich die Türen hinter ihm schließen und er mit einem Lächeln auf den Lippen durch den Wagon geht. 

Der Zug ist brechend voll. Kein Wunder. Alle, die am Wochenende pendeln, sind gerade auf dem Weg zurück. Gut, dass Harry eine Sitzplatzreservierung gemacht hat. Er kann unmöglich die ganze Zeit stehen. 
Es herrscht Gedränge in jedem einzelnen Wagon und die Stimmung ist gereizt. 
Er schiebt sich durch die mies gelaunten Menschenmengen und als er dann endlich im passenden Wagon ankommt, atmet er erleichtert auf. 
Zielsicher geht er auf die Reihe mit seinem Platz zu. Nur noch wenige Meter trennen ihn von seinem Sitz, doch als er dort ankommt, kann er nicht fassen, wen er da sieht. 
"Das ist ein Scherz", beklagt die Person, die auf dem Platz neben Harrys Reservierung sitzt. 
"Ich habe reserviert", brummt dieser und zeigt sein Handy. Louis verdreht die Augen. 
"Ich auch, du Idiot."
Toll. 
Einfach nur toll. 
Doch lieber stehen?
"Wollen Sie Wurzeln schlagen?"
Erschrocken blickt Harry über seine Schulter und sieht in wütende Gesichter. Er blockiert den ganzen Gang und da er nicht unangenehm auffallen möchte, schiebt er sich eilig auf den freien Platz neben Louis, der das ganze mit einem genervten Stöhnen kommentiert. 
Das wird die schlimmste Zugfahrt seines Lebens. 



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