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Schlecht gelaunt trampelte ich in das Wohnzimmer und machte dabei vermutlich so elegante Geräusche wie eine wütende Nilpferdhorde. Endlich hatte ich Kyle abgewimmelt, und mittlerweile war es Abend, die Dämmerung war bereits fortgeschritten.„Wo ist Kyle?", fragte Rachel, sobald ich in ihrer Sichtweite war.

„Weg."
„Warum?"
„Weil er weg ist."
„Also bitte." Sie rümpfte die Nase. „Marcus hätte nie jemanden abgewiesen."
Mit gerunzelter Stirn sah ich meine Stiefmutter an, ebenso wie Nate. „Wie kommst du jetzt auf Marcus?"
„Sagte ich Marcus?" Rachel errötete. „Ich meinte Julien. Julien... McAbernathy."
Ich wechselte einen Blick mit Nathaniel. Wer zur Hölle war Julien McAbernathy und warum sprach sie so plötzlich über ihn?
Da traf mich die Erkenntnis. Rachel stand auf Marcus. Eifersucht keimte in mir auf. Nein, nicht mit mir. Er gehört mir.
Und er ist verheiratet.
Verdammt.
Genervt von Nate, Rachel und meinen eigenen Gedanken schnappte ich mir mein Handy und meine Schlüssel und verließ das Haus. Dad arbeitete, Chloé hatte sich mit einer ihrer anderen Pradakinderfreunden verabredet und Vanessa hatte Urlaub genommen, um mit ihrem Mann Vincent und ihren Kindern Julian und Laura ins Disneyland zu gehen. Erst gestern hatte sie mir ein niedliches Selfie mit ihrer Familie geschickt, auf dem alle wie Disneyfiguren geschminkt und gekleidet waren.
Die Luft war kühl, schließlich war es erst April. Und noch dazu dunkel. Dennoch hatte ich ein klares Ziel vor Augen, das mich ein bisschen Zeit kosten würde: Marcus' Haus. Leah war nicht da, warum es also nicht ausnutzen? Erstaunlicherweise kam ich mit dem Gedanken, dass Marcus seine Frau mit mir betrog viel besser zu Recht als mit dem Gedanken, dass unsere Beziehung illegal war. Aber hey, soweit ich mich erinnern konnte war er verdammt gut im Bett, was wollte man mehr?
Auf halben Weg sah ich einen Mann in den Fünfzigern, der mir unauffällig folgte. Nun ja, er stieß zwei Mülltonnen um, weil er mich beobachtete. Besser gesagt meine Kehrseite.
Er war gruselig.
Schnellen Schrittes bog ich um die nächste Ecke, während sich mein Verfolger eine Beschwerde von einem Passanten anhören musste, dass er den Müll gefälligst wieder einräumen sollte.
Willkommen in Seattle. Der Stadt, in der alle freundlich sind.
Marcus wohnte zwar außerhalb der ganzen Hochhaussiedlungen und modernen Wolkenkratzern, aber dennoch in der Stadt, und auf dem Weg kam ich an so manchen zwielichtigen Personen vorbei.
Ich hasste Seattle bei Nacht. Trinker an der einen Ecke, dort ein Drogendealer, der einem Junkie höchst unauffällig seinen Stoff verkaufte (was bedeutete, dass sich nicht einmal eine Blondine so schlecht anstellen würde), da ein Auto, das etwas zu dicht am Bordstein entlangfuhr. Umso erleichterter war ich, als ich an Marcus' Haus ankam, in dem noch Licht brannte. Das Flackern im Wohnzimmerfenster sagte mir, dass er fernsah.
Ich klingelte einmal kurz, wenig später wurde mir von Marcus geöffnet. Er trug Jeans und einen Pullover, und in der Hand hielt er eine Dose Guinness. Der Feierabendlook stand ihm wirklich ausgezeichnet, er sah aus wie ein Gott. Ein Gott, der Feierabend hatte.
„Oh, hi." Er ließ mich ins Warme, schloss die Tür und küsste mich kurz zur Begrüßung. Sein Mund schmeckte nach dem Bier, was mich aber nicht weiter störte.
„Ist dir nicht kalt?"
„Bisschen", antwortete ich und versuchte, das Zittern meiner Arme zu verbergen. Die Wärme in Marcus' Haus hatte mich noch nicht überall erreicht. Geistesgegenwärtig schob er mich ins Wohnzimmer, wo wie erwartet der Fernseher lief. Grey's Anatomy.
„Echt jetzt?" Ich kicherte leise, aber höchst amüsiert.
„Ja, hallo? Da gibt es so viel Klatsch! Derek zum Beispiel, ne? Jetzt ist der Arsch tot, endlich. Ich mochte ihn nicht. Elf Staffeln musste ich mit ihm aushalten!" Marcus klang empört, während ich herzhaft lachte und gleichzeitig den Kopf schüttelte.
„Ich mag Derek!" Sein Unterkiefer klappte nach unten, er sah mich an, als hätte ich ihm soeben das letzte Stück Schokolade vor den Augen weggegessen.„Du Monster!", brachte er schließlich heraus und stellte den Ton des Fernsehers aus, da Werbung kam.
„Du, du... du... Wie kannst du nur?!"
Schmunzelnd, aber schweigend musterte ich sein Wohnzimmer. Es war modern eingerichtet, so wie alles an diesem Haus. Modern, aber häuslich, bequem. An der Wand hing ein Bild, das zwei kleine Mädchen in weißen Kleidern zeigte, die Lampingons aufhängten. Die Unschuld in Person. Oder eben in zweien.
Scheinbar noch immer verletzt über meinen Verrat leerte Marcus die Bierdose und stand auf. Keinen Augenblick später streckte er mir die geöffnete Hand entgegen. Ich hob eine Augenbraue, ergriff sie aber.
„Wir gehen spazieren."
Er sagte nicht, wohin. Er sagte nicht, wie lange.
Okay, gut, gehen wir eben spazieren.
Bevor ich durch die Tür treten konnte zog er mich wieder zurück, und wieder hob ich eine Augenbraue.
„Ich lasse dich so nicht vor die Tür. Du erfrierst mir, und ich mag meine Mädchen warm", erklärte er grinsend und reichte mir einen Cardigan, der Leah gehören musste. Seite an Seite – ohne uns zu berühren – traten wir aus der Haustür in die frische Frühlingsluft. Mittlerweile war es stockdunkel. Ich hoffte insgeheim, dass wir nicht auf weitere gruselige Männer trafen, doch dann sah ich den durchtrainierten Mann an meiner Seite an und beschloss, dass mögliche Vergewaltiger keinen Schritt auf mich zu machen würden, solange Mr. Beschützerinstinkt bei mir war.
Ein kleiner Vorteil.
„Ich weiß übrigens immer noch nicht, wann du Geburtstag hast. Schließlich habe ich deinem Vater gegenüber schon genug Interesse an dir gezeigt. Also, Kleines, wann wirst du achtzehn?", fragte Marcus aus dem Nichts heraus, als wir an einer Kreuzung links abbogen und auf einen kleinen Park zusteuerten.
Nicht irgendein Park. Der Park, in dem Marcus mich gefragt hatte, ob ich mit ihm gehen wolle.
„In fast ganz genau zwei Monaten. Und du? Wann hast du Geburtstag?"
Er lachte kurz auf.
„Dauert noch. Erst wieder im Januar."
„Bist du Wassermann?" Meine Frage brachte mir einen irritierten Blick seinerseits ein, doch das war es mir wert.
„Ja, warum?"
„Was hörst du für Musik?"
Jetzt konnte ich in seinem Gesicht förmlich lesen. Was zur Hölle willst du mit diesen Fragen?, schienen seine Augen zu sagen. Tja, ich hatte meine Gründe.
„Skillet. Linkin Park. Motörhead. Metallica. Das klassische eben. Aber auch Lindsay Stirling, Bach, Mozart oder Katy Perry. Warum warst du vorher so aufgelöst?" Offenbar hatte er die Frage nach meinen Fragen aufgegeben, ebenso wie die Lust auf das Beantworten weiterer. Deshalb die Frage. Und irgendetwas in seinem Blick verriet mir, dass er mir keine weitere Frage beantworten würde, wenn ich ihm die seine nicht beantwortete. Dabei wollte ich noch so viel wissen...
Also erzählte ich es ihm. Dass ich Kyle geliebt hatte, von seiner überstürzten Trennung, dem Verrat an mir. Es tat gut, sich mal bei jemandem auszuweinen, auch wenn ich Marcus vielleicht mehr erzählte, als es wissen wollte. Damit musste er jetzt leben, schließlich hatte er gefragt.
Er reagierte wie Nate, was mich ein kleines bisschen nervte. Aber nur ein kleines bisschen. Bei Nate war das anders. Er war mein großer Bruder, sein Beschützerinstinkt war praktisch angeboren. Aber Marcus sah mich nicht als Schwester, sondern als seine Freundin, und seine Wut war... romantisch. Ein totaler Widerspruch. Aber ich empfand es als romantisch. Als Beweis, dass er mich so sehr mochte, dass er aussah, als könnte er Kyle in Stücke reißen, wenn er nur wollte.
Ja, ich stand darauf. Ehrlich gesagt fuhr ich total darauf ab. Ich war keineswegs auf eine Prügelei zwischen den beiden aus, aber würde eine stattfinden, dann würde ich nicht einschreiten. Marcus würde so oder so gewinnen. Vielleicht würde ich die beiden ja unauffällig ausziehen und sie im Schlamm catchen lassen? Das wäre mal ein Anblick.Ich wechselte das Thema zurück zu Musik. Langsam schlenderten wir durch den Park, während er mir schilderte, was genau an Skillet so toll war. Schließlich hatte ich noch nie auch nur ein Lied gehört. Ich war gerade dabei, ihm das möglichst schonend beizubringen, als ich eine Stimme vernahm. Nein, nicht irgendeine Stimme.
„Jessica?"
„Was machst du hier, Kyle?", fragte ich alarmiert, als ich seine Silhouette in dem schlechten Licht erkannte. Zwei Laternen hintereinander hatten offenbar beschlossen, auszugehen, daher konnte ich weder sein Gesicht erkennen, noch das von Marcus.
„Eigentlich wollte ich nur etwas rumlaufen. Aber wo du schon mal hier bist... Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Nochmal. Das habe ich bis jetzt oft gemacht, und es ist immer noch nicht gen..."
Marcus' Faust ließ meinen Ex verstummen.

-

Tja. Passiert. 

Chap von Lea. 

Mel xxx

Break The RulesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt