Chapter 47

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Noch immer hielt ich seine Hand, noch immer betrachtete ich sein Gesicht. Musterte seine Augen, die von seinen Lidern für immer verschlossen wurden. Ich würde nie wieder in das blau seiner Augen schauen, mich nie wieder darin verlieren können. Sein Gesicht war so leer, so blass. Nichts mehr war in dem Mann, den ich so sehr liebte. Seine Seele war fort, genauso wie sein Herzschlag und sein Blut, das war stehen geblieben.

Ich wollte nicht weg von hier. Ich wollte nicht von seiner Seite weichen. Ich bereute es so sehr, dass ich ihn so hatte leiden lassen. Dass er so gelitten hatte, weil ich seinen Sohn weggegeben hatte, aus Angst, Clint zu verlieren. Dabei wäre ich bei ihm wohl genauso gut, wenn nicht sogar besser aufgehoben gewesen.

Mir wurde immer klarer, dass mein Leben ohne Pietro keinen Sinn mehr hatte. Vielleicht war alles bald zu Ende. Für mich. Ich hoffte es so sehr, auch wenn es egoistisch meiner Tochter gegenüber war. Doch ich wusste, dass Pietro dort auf mich warten würde, wo er nun war. Dort, wo er nie zurück kommen wird, in diese Welt. Und nichts konnte daran geändert werden.

Nach etlichen Stunden des puren Grauens und vieler Tränen hatte ich es geschafft, für fünf Minuten seinen Namen nicht schmerzverzweifelt zu schreien, obwohl mich die Schmerzen von innen heraus zerissen. Es fühlte sich an, als würde mein Herz zerborsten sein, jedoch sich immer wieder auf ein neues zusammen setzen. Ich konnte diese Schmerzen gar nicht in Worte fassen.

Statt seinen Namen zu schreien flüsterte ich ihn. So leise, wie es mir möglich war, mit den Tränen in den Augen und der viel zu belegten Stimme. Doch ich gab mein bestes, denn Engel liebten Geflüster und Pietro war definitv ein Engel geworden. Verzweifelt legte ich meine Hand auf seine Brust, in der Hoffnung, sie würde sich wieder heben und senken, das Blut in seinen Venen würde wieder von seinem Herzen gepumpt werden und sein kalter Körper würde wieder warm werden. So warm wie früher, als wir uns so nah gewesen waren, wenn ich nicht schlafen konnte, und mir seine Brust als Kissen diente, oder wir völlig nackt zusammen unter der Decke lagen, nachdem wir unser verbotenes Spiel gespielt hatten. Doch er blieb kalt, so unendlich kalt. So erfroren, in Eis gelegt. Er würde sich nie wieder bewegen, sich zu mir legen oder für mich da sein können, denn das Leben hatte ihn verlassen.

Ich schwor mir, nicht von seiner Seite zu weichen, in der Hoffnung, er würde wieder aufwachen, doch Wanda hatte den anderen Bescheid gesagt, nachdem sie meine Schmerzen und Qualen stundenlang mit an hören und fühlen hatte müssen und gleichzeitig noch ihre eigenen, wohl noch stärkeren Gefühle hatte erleben müssen. Und so kam Steve in das Zimmer, nachdem sie die Tür aufgebrochen haben, die ich vor Piets Tod noch so sorgfältig verriegelt hatten. Verzweifelt streichelte ich durch die blonden Haare des toten Russen und wehrte mich schreiend gegen den Captain, gegen den ich keine Chance hatte, egal, wie viel ich zappelte und um mich schlug. Er hob mich vom Bett trotz meiner lautstarken Proteste und meinen verzweifelten Schreien. Schreie, die nur seinen Namen enthielten. Ich schrie seinen Namen noch als er mich in ein anderes Krankenzimmer steckte und davor Bucky postierte, um mich davon abzuhalten, noch einmal in Pietros Zimmer zu gehen.

Ich versuchte es mehrmals. Ich rannte blind drauf los, schlug um mich, schrie meinen nicht enden wollenden Schmerz direkt in Buckys Gesicht. Doch irgendwann gab ich auf. Ich kauerte mich nur noch in die Ecke des Zimmers und wimmerte. Wimmerte ständig seinen Namen. Er wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich sehnte mich so sehr nach seiner Nähe. Nach seiner Stimme an meinem Ohr. Nach seinem russischen Akzent, der unnachahmbar war. Nach seinem Geruch. Die Zeit verging und die Nacht wandelte sich zum Tag, doch ich blieb, wie ich war. Keinen Zentimeter bewegte ich mich und verweigerte jegliche Nahrungsmittelaufnahme, jeden Kontakt zu Menschen. Und wenn ich welchen hatte, machte ich ihnen Vorwürfe. Vorwürfe, dass Pietro tot war. Vorwürfe, dass sie ihn nicht gerettet haben. Die einzige, die zu mir durfte, war Wanda. Und das auch nur weil sie wusste, wie ich mich fühlte. Und sie weinte auch. Wir weinten zusammen, waren in dieser schweren Zeit füreinander da. Nur dass diese schwere Zeit nicht enden wollte.

Von Clint hörte ich nichts, doch ich denke, er wusste inzwischen, was passiert war. Und er wusste vermutlich auch, warum ich so litt, doch das war mir egal. Ich hatte Pietro über alles geliebt und ich tat es jetzt noch. Niemand würde ihn ersetzen können, niemand würde das Loch in meinem Herzen füllen können. Es war, als wollte mein Leben, dass ich diese Welt zum Ende hin nicht mehr im guten erinnern würde. Und wie so oft stellte ich mir die Frage, ob wir schon am Ende des Endes waren oder ob das erst der Anfang dieses grausamen Endes war.

Es verging ein weiterer Tag, an dem Wanda und ich zusammen in diesem Zimmer saßen. Ich hatte mich erneut gegen die Aufnahme von Nahrungsmitteln und Wasser geweigert, ich spürte, wie es meinem Körper immer schlechter ging, doch genau das wollte ich. Ich wollte, dass es mir schlechter ging, damit ich schneller starb, wieder bei Pietro war. Eigentlich war dieser Gedanke sehr egoistisch gegenüber der anderen, denn mir war es egal, ob ich starb oder nicht. Das Team konnte jede mögliche Kraft gebrauchen, doch mir war das egal. Ich wollte nicht mehr leben. Wanda hingegen schaffte es bald, sich aufzuraffen und Wasser zu trinken, doch ihr Appetit kam nicht wieder und es geschah mehr als einmal, dass ich ihr zuhörte, wie sie ihr zwangsweise gegessenes wieder erbrach. Mit geröteten Augen kam sie aus dem Bad des Krankenzimmers und musterte mich. Und ich war mir sicher, ich sah aus wie das letzte Häufchen Elend, denn genauso fühlte ich mich.

"Du hast ihn wirklich geliebt, oder?"

Ich nickte und kämpfte mit dem Kloß im Hals. Weinen konnte ich nicht mehr, dafür hatte ich zu wenig Wasser im Körper. Alles was noch aus mir rauskamen waren die verzweifelten Schreie, wenn mein Herz sich wieder nach seiner Nähe sehnte.

"Aber du liebst Clint auch."

"Nicht so, wie ich ihn geliebt habe." krächzte ich. Meine Stimmbänder waren rau und angeschlagen, und da ich mich weigerte zu trinken, wurden sie auch nicht mehr mit Flüssigkeit versorgt. "Bei Clint bin ich frei, er nimmt mich so, wie ich bin. Aber bei ihm..." ich konnte seinen Namen gar nicht aussprechen, so sehr schmerzte es, "war ich nicht nur frei, sondern ich konnte fliegen. Er nahm mich nicht nur wie ich war, er liebte meine Tochter, liebte mich trotz dessen, dass ich seinen Sohn aus Angst um meine Ehe weggegeben hatte. Er hat ihn nie kennengelernt, und ich Nachhinein bereue ich es so sehr."

Beschämt senkte ich meinen Blick und ließ Wanda mit den von mir das erste Mal ausgesprochenen Fakten allein. Ich war mir sicher, sie wusste das alles schon. Doch mir war es wichtig gewesen, es laut gesagt zu haben.  

Ordinary Girl [Hawkeye ff] Buch 4Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt