Kapitel 61

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Belle

Man drückte mich auf die Knie, band meine Hände hinter dem Rücken und zwang mich, den Kopf gesenkt zu halten.

Meinen Vater hatten sie auf der anderen Seite der Bühne zu Boden gerungen. Auf ihm stand ein Farbloser, der ihn mit einem Fuß fest zu Boden drückte. Zwischen uns waren die restlichen Anführer aus allen Farben, unter ihnen auch Jason. Und dann war da auch ich. Doch jemand fehlte. Es war Alice, sie war nicht dabei. Ihr Großvater und ihre Schwester hatten es ihr bestimmt auch angeboten. Und im Gegensatz zu mir, hatte sie das Angebot angenommen.

Ich konnte das Rufen meines Vaters nach mir hören. Seinen Kopf konnte er nicht heben und mich konnte er, seit ich auf den Knien stand, nicht mehr sehen.

Es schmerzte mich im Herzen, ihm nicht sagen zu können, dass es mir doch gut ging. Ich wusste nicht, was sie mit uns machen würden und das jagte mir ungeheuerliche Angst ein.

"Alle sind hier!", brüllte jemand ganz laut hinter mir. Ich schloss die Augen, atmete durch und öffnete sie wieder. Schluckte und sah mich um.

Der Saal war überfüllt mit bewaffneten Farblosen. Jack war nirgends zu sehen.

Dann fragte ich mich, ob das hier wohl das Ende sei. Das Ende der sechs großen Anführer des Landes. Das Ende der Regierung und das Ende dieses Landes.

Der schwarze Anführer erschien plötzlich in meinem Blickfeld. Gelassen trottete er vor der Bühne an mir vorbei und blieb in der Mitte stehen. Zufrieden betrachtete er uns wie Zootiere. Dann drehte er sich zu seinem Volk und begann zu sprechen.

"Heute ist der Tag unserer Rache!", rief er ganz laut. "Seit Jahren waren es diese Menschen", er zeigte auf uns. "die uns folterten. Und das auf jede mögliche Art und Weise. Sie nahmen uns das Recht auf Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und unser Recht auf Leben!"

Was er sagte, war nicht falsch. Es entsprach gewiss der Wahrheit, aber er ließ all die schrecklichen Dinge aus, die sie getan hatten. Er stellte sich als Engel auf Erden dar, obwohl er genauso wie wir, schuld daran war, dass es soweit kam.

"Heute werden sie büßen. Wir sind an der Reihe, ihnen Schmerzen zuzufügen. Denn nun haben wir die Oberhand! Wir werden dieses Land, die Menschen regieren und niemand anderes."

Jubel. Bill trat langsam die Stufen, in der Mitte der Bühne, hoch. Er hatte eine Pistole in der Hand, die er provozierend am Zeigefinger hin und her schwang.

"Wo soll ich beginnen?", fragte er die Farblosen, die sofort alle auf meinen Vater zeigten.

Panik brach in mir aus. Ich reckte mich auf. "Nein!" Sofort wurde ich an den Haaren gepackt und nach vorne gebeugt.

Bills Kopf schoss jedoch überrascht zu mir. "Keine Angst Kleines, deine Zeit wird auch kommen.", grinste er mich dreckig an.

Demonstrierend langsam lief er auf meinen Dad zu. Langsam hob er seinen Arm mit der Waffe an und richtete sie auf seinen Kopf. Mein Herz fing an zu rasen. Nein. Das konnte doch nicht wahr sein, oder?!

"Aber ich werde dir eine Chance geben, Kleines.", sagte er auf einmal und wand sich von meinem Vater ab. "Ich habe gerade gute Laune und Lust auf ein Spiel. Bist du bereit, dein Leben für ihn zu riskieren?"

Mein hektischer Atem wurde immer flacher. Was wollte er jetzt von mir?

"Hörst du schlecht?" Leises Lachen machte sich bei den Zuschauern breit.

"Was willst du?", fragte ich mit einer überraschend fester Stimme.

"Dein Leben für Seines."

"Nein, lasst sie in Ruhe!", brüllte Dad unter Schmerzen, als der Typ seinen Fuß in die Rippen bohrte. "Macht mit mir was ihr wollt, aber lasst sie in Ruhe!"

Bill lachte. Die ganze Halle lachte.

"Jetzt wird es richtig Spaß machen.", hörte ich einen Farblosen zu einem Anderen sagen.

Ich schluckte. Mein Magen wurde schwer und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Langsam dämmerte es bei mir, worauf das hinaus laufen sollte.

"Aber ich gebe dir noch Zeit, Kleines, genieß noch deine letzten Momente.", lachte er belustigt, als er meine Reaktion registrierte. "Ich beginne bei ... ihm."

Ohne Vorwarnung schoss er dem violettem Anführer in den Kopf. Sein schlaffer Körper fiel leblos nach vorne. Sein Gesicht war in meine Richtung gerichtet. Seine Augen noch geöffnet. Blut floss aus seinem Kopf.

Ich wimmerte leise und sah schnell weg. Das hätte auch ich sein können.

Jetzt waren es nur noch sechs. Zwei Rote, blau, gelb, grün und orange.

Die große Saaltür wurde geöffnet und jemand trat ein.

Automatisch öffnete ich blinzelnd die Augen und begegnete sofort Jack's kühlen Blick. Er stand genau vor mir. Mit den Händen hinter dem Rücken.

"Jack.", sagte sein Großvater erleichtert. Wahrscheinlich war er froh zu wissen, dass sein Enkel noch lebte. "Du kommst genau rechtzeitig. Bist du bereit für deine Zeremonie?" Ich konnte sein schelmisches Grinsen regelrecht hören.

Jack's Augenbrauen schossen in die Mitte. Für ihn war die Information wohl auch neu.

"Bei uns ist es einfacher als bei den Reichen. Komm erst mal hoch auf die Bühne.", redete er weiter.

Nickend wand Jack den Blick von seinem Großvater ab und sah mir nun in die Augen. Ich konnte nichts darin lesen. Er ging langsam die Treppen hoch. Jeder starrte ihn an. Es wurde still in der Halle.

Als er bei seinem Großvater stand, wurde angefangen zu nuscheln. Er spannte jeden einzelnen Muskel an und warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. Lange konnte ich ihn nicht ansehen, da der Farblose an meiner Seite mich wieder an den Haare packte und meinen Kopf nach vorne senkte. Ich wartete, dass er von mir abließ, aber stattdessen zog er nochmal kräftig an meinem Haaransatz, dass es sich anfühlte, er würde meine Haare abreißen. Ich zischte schmerzerfüllt auf.

Er zog fester.

Ich biss mir auf die Lippen und blinzelte die aufkommenden Tränen weg.

"Komm zur Sache, Bill.", hörte ich Jack's leise Stimme hinter mir.

Und dann ließ der Fremde endlich ab von mir und schenkte seine Aufmerksamkeit Bill, der anfing zu reden. Laut.

"Mein Nachfolger und euer zukünftiger Herrscher, Jack Anderson!", rief er laut, weswegen ich die Ohren spitzte. Anderson. Das war also Jack's Nachname. "Heute ist der Tag, an dem wir unser Versprechen an euch einhalten werden. Aber ab diesem Tag ist Jack euer offizieller Anführer."

Die Menge brach in Jubel aus. Lautes Pfeifen, Klatschen, Rufe, alles dabei. Sie liebten Jack, daran gab es keinen Zweifel.

"Um aber als offizieller Anführer anerkannt zu werden, muss er einen anderen Anführer umbringen." Diese Aussage traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich keuchte auf und drehte mich zu Jack, der noch gerade aus starrte. "Vor vielen vielen Jahren brachte man seine Eltern um. Deswegen denke ich, ist es passend, wenn du einen roten oder blauen Anführer auswählst."

Ich schloss die Augen und drehte mich wieder nach vorne um. Das durfte nicht wahr sein. Innerlich betete ich, dass er es nicht machen würde, aber diese Gebete wurden nicht erhört. Jack zog seine Waffe raus und schloss kurz nachdenklich die Augen.

Dann öffnete er seine Augen und nickte. Dann ging er mit langsamen Schritten auf mich zu. Mit jedem Schritt, den er mir näher kam wurden meine Augen größer.

Er hatte mich ausgewählt.




Ich warne euch schon mal: Es wird nur noch ein Kapitel folgen und dann irgendwann anders noch der Epilog, dann ist es aus.

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