|1. Kapitel|

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Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird Dir an nichts fehlen.
-Marcus Tullius Cicero

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Weinen oder heulen? Schwere Entscheidung. Hier muss mir wohl oder übel Schokoladeneis zur Hilfe eilen.

Gott, womit habe ich das nur verdient? Was habe ich in den Jahren, in welchen ich nun schon auf der Erde umher wandere, Schlimmes getan, dass ich so bestraft werde?

Was habe ich verbrochen?!

»Atmest du überhaupt noch?« Von meinem großen Bruder Logan werde ich nicht gerade sanft mit seinem Ellenbogen angerempelt, was mich aus meinen Gedanken zurück in die grausame Realität treibt. Gegen meinen Willen.

Als Beweis, dass ich nicht gerade versuche, mich durch Atem anhalten selbst umzubringen, stoße ich einen Seufzer aus, der eigentlich all meinen Frust, Schrecken und meine Wut rauslassen soll. Doch außer, dass ich mich wie auch immer verschlucke und einen Hustenanfall erleide, bin ich trotzdem noch emotional aufgeladen und weiß nicht, ob ich meine Eltern anschreien oder sie mit ewigem Schweigen und Ignoranz bestrafen soll.

Denn soeben beförderten sie Logan und mich in unser kuscheliges Wohnzimmer und verkündeten uns mit angespannter Miene, dass wir Deutschland verlassen würden. In drei Tagen. Wir werden nach Amerika ziehen, verdammt!

Logan nahm es ziemlich gelassen auf. Er steht auf den amerikanischen Lifestyle, hat kein Problem mit der Sprache und hat auch sonst nicht viel, was er hier in Deutschland zurücklassen müsste. Mit Ausnahme seines einzigen Freundes Ethan.

Ich muss sagen - Logan hätte das Zeug zu einem richtigen Badboy, so wie es sie in den meisten Büchern gibt.

Doch die Tatsache, - und das macht mich unheimlich glücklich - dass Logan die meisten Menschen nicht an sich heranlässt und auch sonst nicht zu den Beliebteren unserer Schule gehört hat, lässt ihn wie einen durchschnittlichen 19-Jährigen wirken, der schon genauestens geplant hat, was er nach der Schule macht. Ganz im Gegensatz zu mir.

Ich verbringe unheimlich viel Zeit damit, die schönsten Zitate zu sammeln. Diese schreibe ich in ein kleines, weißes Heftchen. Zwar weiß ich nicht genau, weshalb ich das tue, aber es hilft unglaublich gut gegen Langeweile. Und wenn ich traurig bin, lese ich sie mir durch und meist kann ich dann die Dinge völlig anders betrachten als zuvor.

Oder ich treffe mich einfach mit meinen beiden besten Freundinnen Lucy und Valery. Dann schauen wir ein paar Stunden unsere Lieblingsserien, während wir Chips und Eis in uns hineinstopfen und alle anderen Probleme sind vergessen.

Apropos Eis...

»Eigentlich hatten wir ja geplant, erst in ein paar Wochen nach Amerika, genauer gesagt nach Orlando in Florida zu ziehen. Also zu Beginn der Sommerferien. Aber der neue Vorgesetzte eures Vaters hat angerufen und nun können wir es euch nicht mehr länger verschweigen«, erklärt Mum, aus der die Infos nur so heraussprudeln. Sie ist eben nervös und wartet nur darauf, dass Logan und ich vor Fassungslosigkeit mit Sachen und Beleidigungen um uns werfen.

Ja, wir können ziemlich emotionsgeladen sein. Und nachtragend sind wir auch. Haben wir beides von Dad geerbt. Sehr zum Leidwesen von Mum.

»In drei Tagen werden wir in den Flieger steigen. Um den ganzen Papierkram haben wir uns schon gekümmert. Tante Lydia wird uns mit dem Auto zum Flughafen bringen. Packt also bitte eure Sachen und... verabschiedet euch noch von euren Freunden.« Mum schluckt, denn auch ihr dämmert es, was sie uns damit antun.

Wegen ihnen müssen Logan und ich unser Leben komplett verändern. Alles, was wir bisher kennen, müssen wir einfach so von einem Tag auf den anderen zurücklassen. Und heißt es nicht, dass Umzüge nicht empfehlenswert für Kinder sind? Oder habe ich Kinder mit Schwangere vertauscht?

Wie auch immer. Jedenfalls tendiere ich gerade eher dazu, mich in ein heulendes Wrack zu verwandeln, anstatt meine Eltern mit kalter Miene und Schweigen zu betrafen. Und ich zähle auf Logan's Unterstützung.

Ich werfe ihm einen flüchtigen Blick zu, um herauszufinden, ob er eher traurig oder wütend ist. Doch schnell schießt mein gesamter Kopf in seine Richtung und ich sehe ihn verstört an.

Auf seinem Gesicht hat sich ein freudiges Lächeln gebildet und er beginnt, wie ein kleines Kind auf- und abzuwippen. Fehlt ja nur noch, dass er wie eines dieser Mädchen auf einem Shawn Mendes Konzert zu kreischen anfängt.

»Orlando? Das ist klasse! Ich wollte schon immer mal nach Amerika! Aber dass wir gleich nach Amerika umziehen, ist noch besser! Ich freu mich ja so! Freust du dich auch, Lauren?«  Wie auch bei Mum sprudeln die Wörter einfach so aus seinem Mund wie Wasser aus dem Wasserhahn, wenn man ihn komplett aufdreht.

Gott, ich spüre bereits, wie mein Leben nach unten sackt. Wie ein dickes Kind auf einer Wippe, wie es so schön heißt. So vieles würde sich verändern. Es würde bedeuten, dass wir Freunde, Familie und Erinnerungen hier zurücklassen müssten. Und noch Einiges mehr. Das Ende einer Ära ist nahe, das spüre ich tief in meinen Knochen.

»Ich kotze gleich.«

»Aber nicht auf mi-«

»Das ist bloß die Aufregung, da bin ich mir sicher«, unterbricht Mum meinen Bruder, der ein wenig mehr Abstand zwischen uns bringt, indem er bis zum anderen Ende des weißen Sofas rutscht.

Ich warte immer noch darauf, dass einer der beiden jeden Moment »It's a Prank!« ruft. Ich hoffe es sogar. Das Ganze ist doch wirklich ein schlechter Scherz!

Es ist wie der Beginn dieser brechreizerregenden Klischee-Bücher.

Ein 17-jähriges Mädchen zieht um, meistens nach Amerika. Fällt am Anfang in ihrer neuen Schule kaum auf, findet sofort eine neue beste Freundin und die beiden tun so, als würden sie sich bereits vor ihrer Geburt gekannt haben. Der Badboy, der mit Nachnamen Black heißt und jede Stunde ein Mädchen an sich kleben hat, als bestünde sein Körper aus Sekundenkleber, wird auf das Mädchen aufmerksam und aus dem männlichen Flittchen wird der treue und perfekte Freund. Nicht zu vergessen die Schul-Bitch, die ebenfalls auf den Badboy steht und alles dafür tut, um das Traumpaar schlechthin auseinander zu bringen. Am Ende folgt ein heftiger Streit, viele Tränen werden vergossen, Eis wird in Massen gegessen und nach ein paar Stunden verzeiht das Mädchen dem Typen wieder und das wars.

Ach ja! Ein paar Jahre später ist er der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und sie hat fünf mal in Folge den Titel Miss World gewonnen. Zusätzlich haben sie geheiratet und Sechslinge bekommen. Ende.

»Ich muss mich hinlegen«, murmle ich nur kaum verständlich und erhebe mich vom Sofa. Beim Hinausgehen spüre ich noch die Blicke, die mir meine Familie zuwirft, doch das ignoriere ich gekonnt und setze meinen Weg in die Küche fort, wo ich mein geliebtes Schoko-Eis aus dem Kühlschrank fische und mich zusammen mit einem Löffel in mein Zimmer begebe.

Warum habe ich das Gefühl, dass dieses 17-jährige Mädchen den Namen Lauren trägt?

LaurenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt