10. Kapitel

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Natürlich war er eher am Treffpunkt, doch in seinem Grinsen konnte ich erkennen, dass er entweder schon hier war, als er mich angerufen hatte oder definitiv schneller gefahren war, als er überhaupt gedurft hätte.

»Du spielst unfair, Brown«, grinste ich und schlug ihm leicht auf seine Brust, woraufhin sein Lächeln auf den Lippen noch größer wurde.

»Ist das so?«, wollte er von mir wissen und hielt mir die schwere Tür auf, sodass ich in den großen und hellen Laden treten konnte.

»Ich habe es im Gefühl. Du kannst mich nicht täuschen, Reece«, entgegnete ich wissend und sah ihn prüfend über meine Schulter. Noch im Augenwinkel erkannte ich, dass er schmunzelnd den Kopf schüttelte.

Das lokale Farbenfachgeschäft war nicht allzu groß, doch sorgte aufgrund der vielen Farben dafür, dass man sich hier direkt wohl fühlte. Ich mochte das Gefühl, wenn ich meiner Kreativität freien Lauf lassen konnte und konnte nicht beschreiben, wie die Farben auf mich wirkten. Es war schon etwas her, dass ich den Laden betreten hatte, weshalb meine Augen staunend über die neuen Ausstellungen wanderten.

Reece und ich schienen wirklich Glück zu haben, denn man nahm uns sofort wahr und stellte unsere Wünsche zusammen. Es lag vielleicht auch daran, dass man Reece erkannt hatte. Spätestens nach der Entführung wussten alle, wer er war. Deshalb konnte ich verstehen, wie er sich im Laufe des Gesprächs immer mehr zurückzog. Er fühlte sich unwohl, auf etwas reduziert, was er nicht war.

»Unter welchen Namen soll die Bestellung laufen?«, riss mich der ältere Mann hinter der Kasse aus meinen Gedanken. Kurz glitt sein Blick zu Reece, weshalb sich mein Magen unangenehm zusammenzog.

»McGowan«, antwortete ich, denn ich konnte seine Absichten, den Namen Brown zu verwenden nicht einschätzen. Er verzog auch keine Miene, als ihm bewusst wurde, dass es nicht der Name war, den er sich erhofft hatte. Dennoch verabschiedete man uns höflich und wartete darauf, dass wir den Laden wieder verließen. Ich wollte nicht wissen, welche Gespräche sie führten, sobald wir das Geschäft verlassen hatten.

»Tut mir leid. Ich hätte wissen müssen, dass man mich erkennt und man auf den Namen Brown zurückgreifen will«, vernahm ich Reece tiefe Stimme, weshalb ich mich wieder zu ihm umdrehte. Ich trug immer noch die Tapetenrollen unter meinen Armen und wartete darauf, dass er seinen Kofferraum öffnete.

»Du kannst nicht dafür. Normalerweise dürfest du dich wegen anderen Menschen nicht unwohl fühlen«, gestand ich und wenn ich meine Arme frei gehabt hätte, dann hätte ich ihn wohl in den Arm genommen. Er tat mir leid. Es brach mein Herz, ihn plötzlich so gebrochen zu sehen.

»Ich habe am Freitag ein Gespräch bei der Stadtverwaltung und möchte ganz gerne, dass du mitkommst«, lenkte er ab, als er mir die Rollen abnahm und sie in seinem Wagen verstaute. Ich hob meinen Blick und überlegte kurz. Eigentlich wollte ich mit Felix trainieren, denn nächste Woche stand die Weltmeisterschaft an und wir durften uns, laut Felix, keinen freien Tag mehr erlauben.

»Wie spät denn? Ab Morgen habe ich wieder täglich Training«, antwortete ich. Im Nachhinein fiel mir auf, dass er nicht einmal eine Frage gestellt hatte.

»Morgens um zehn. Ich stell dich von der Schule frei, denn bei dem Namen Brown denkt jeder an meinen Vater. Wir können also ohne Bedenken hingehen«, lachte er leicht, doch ich spürte, dass sich dahinter mehr verbarg. Ich bemerkte es an meiner Gänsehaut bei seinem bitteren Lachen. Er stand im Schatten seines Vaters, der ihn gar nicht haben wollte und ihn fast hätte sterben lassen.

»Das klingt schon eher nach einem Plan«, stimmte ich ihm leicht lächelnd zu, was ihn zumindest nicht mehr so traurig schauen ließ. Das College war zu dieser Zeit sowieso überflüssig. Ohne dass ich es wirklich bemerkte, beobachtete ich seine vollen Lippen, die langsam ein Schmunzeln zustande brachten. Jedoch blieben meine Augen nicht nur an seinen Lippen hängen, denn sie folgten seinem Bartschatten hinauf zu seinen Augen. Blieben vorher aber an seinem kleinen Muttermahl unter seinem rechten Auge hängen.

»Du starrst, Emma«, riss Reece mich aus meinen Gedanken und als ich seine Worte verstand, spürte ich eine verräterische Hitze auf meinen Wangen.

Meine Versuche es abzustreiten, scheiterten kläglich, denn es brachte Reece noch mehr zum Lachen.

»Ich mag dein Lachen«, verließen die Worte plötzlich meinen Mund und ich konnte es nicht einmal verhindern. Es war wahr. Dieses Lachen sah man nicht oft und es trieb mir eine angenehme Wärme in meinen Körper, weil ich wusste, dass ich es jetzt öfter sehen durfte.

Reece zog nur grinsend seine Augenbraue hoch, weshalb ich versuchte mich abermals zu erklären: »Ich mein, wenn du ehrlich lachst. Das sieht man nicht so oft!«

Von jetzt auf gleich verschwand der Ausdruck der Freude in seinem Gesicht und hinterließ eine nachdenkliche Mine und etwas, das er zu verstecken versuchte.

»Wolltest du noch zum Haus?«, vernahm ich nach einigen Sekunden der Stille wieder seine Stimme, doch diesmal war sie distanzierter. Meine Worte hatten bei ihm etwas ausgelöst und ich konnte nicht sagen, was. Reece Gefühle konnten sich von jetzt auf gleich ändern und man musste aufpassen mit welchem Reece man gerade sprach. Leicht schüttelte ich meinen Kopf und schob hinterher, dass ich morgen Nachmittag keine Kurse mehr hatte und dann vorbei schauen wollte.

»Vielleicht beginne ich schon einmal mit dem Tapezieren«, erklärte ich zusätzlich.

»Dann bringe ich die Sachen noch hin und lege sie auf den Küchentresen. Man sieht sich!«, erwiderte Reece und verabschiedete sich plötzlich. Er verschwand so schnell, dass ich nicht einmal mehr etwas erwidern konnte.

Ein leises Seufzen verließ meinen Mund und während ich zu meinem Fahrrad ging, fragte ich mich, was jetzt wohl in ihm vorgehen musste. Er versuchte stark zu sein und seine Gefühle vor allen anderen zu verstecken. Doch das funktioniert nicht immer und er brauchte sicher nicht stark sein, nachdem was ihm passiert war. Das einzige Mal, dass er sich in meiner Gegenwart schwach gezeigt hatte, war vor unserer Haustür, kurz nachdem er wieder frei war. Ich schüttelte leicht meinen Kopf, um die Gedanken los zu werden, denn solange Reece nicht reden wollte, konnte ich ihm kaum helfen. Es waren nur kleine Dinge, auf die ich achten konnte. Viel wichtiger war, dass er sich jemanden anvertraute.


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