46. Kapitel

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Ich stand in dieser Tür und sah ihm einfach nur entgegen. Reece ließ seinen Blick über meinen Körper wandern und ging dabei unbewusst einen Schritt zurück, ehe er sich räusperte: »Wow«.

Ich spürte die Hitze in meinen Wangen, die ich schon so lange nicht mehr gespürt hatte. Es war länger her, dass ich mich jemanden so verbunden fühlte.

»Du siehst auch gut aus«, erwiderte ich schließlich und versuchte, vergeblich meine normale Gesichtsfarbe wieder zu erlangen. Erst nachdem ich ihm sagte, wie gut er aussah, konnte ich meine Augen von seinen nehmen und ihn mustern.

»Dein Hemd«, ich stockte und verglich die Farbe mit der meines Kleides. Ich konnte kaum glauben, dass wir die gleiche Farbe trugen.

»Ja«, murmelte er schon fast nervös und fuhr sich mit seiner Hand durch den Nacken, »deine Mum hat mir geholfen. Wir hatten es ja in der Mall ein wenig -naja- außer Acht gelassen«.

Reece trug dieses grüne Hemd, das fast die gleiche Nuance wie seine Augen hatte, so als wäre es extra für ihn angefertigt worden. Und es passte so unfassbar gut zu meinem Kleid. Aber er wäre nicht er, wenn er nicht ein wenig gegen den Strom schwimmen würde: die obersten Knöpfe seines Hemdes waren offen gelassen; ließen Raum für Fantasien und auch eine Krawatte oder vergleichbares fehlte. Der schwarze Anzug war definitiv tailliert geschnitten. Man konnte sich daher denken, wie gut er gebaut war. Ich hatte ihn schon öfter oberkörperfrei gesehen, wenn wir in einem Bett geschlafen hatten. Aber in einem Anzug sah er einfach gut aus. Seine Haare schienen durch Gel etwas gebändigt worden zu sein, denn sie blieben an Ort und Stelle, was bei seiner Haarpracht selten der Fall war.

Wir sagten beide nichts, genossen die Blase, in der wir uns befanden, in welcher jeder den anderen bewundern konnte. Doch ich wusste, dass meine Familie wartete und dass wenn wir nicht in weniger als in einer Minute bei der versammelten Mannschaft auftauchten, einer von ihnen nach vorne kam und uns bei etwas erwischen würde, das wir uns selber nicht einmal erklären konnten. Und aus diesem Grund räusperte ich mich, ehe ich ihn hereinbat.

»Meine Familie ist noch da. Aber das stört dich nicht, oder?«, fragte ich ihn verhalten und ging bereits in die Richtung, aus der ich zuvor gekommen war.

»Warum sollte mich das stören?«, entgegnete er ehrlich und leicht durcheinander.

»Keine Ahnung«, log ich direkt, denn ich wusste, dass Reece Familie so zerbrochen war und dachte, dass es für ihn vielleicht merkwürdig war, das genaue Gegenteil vor Augen geführt zu bekommen.

»Reece«, begrüßte meine Mutter meinen Nebenmann laut und überschwänglich, sodass es auch jeder mitbekam. Ich schüttelte leicht den Kopf, als sie auf ihn zuging und ich bemerkte, dass sie ihn in den Arm nehmen wollte. Sie schien meine stumme Bemerkung gesehen zu haben, denn sie hielt in ihrer Bewegung inne und machte ihm stattdessen für sein Aussehen Komplimente. Papa begrüßte ihn nur mit einem kurzen Hallo, was ich doch sehr amüsant fand. Normalerweise waren Mama und Papa nicht so unterschiedlich, doch in diesem Moment konnten ihre Reaktionen auf Reece nicht unterschiedlicher sein. Wobei ich Papa kaum verstand, denn beim letzten Mal hatte er Reece sogar freundlich ein Bier angeboten. Warum er jetzt so distanziert war, wusste ich nicht. Aber ich konnte mir nicht wirklich lange Gedanken darüber machen, denn ich kam nicht drum herum, Reece meiner Familie vorzustellen. Als einen Freund, versteht sich.

Sie zeigten sich wirklich von ihrer besten Seite, was ich dankbar willkommen hieß, denn so musste ich den Abend nicht mit komischen Gedanken verbringen.

»Wie lange habt ihr zwei noch? Ich würde noch so gerne Bilder machen. Dafür hatte ich ja heute Morgen kaum Zeit«, schob Mama sich wieder in den Vordergrund der Gespräche, weshalb man uns jetzt abwechselnd ansah. Mamas Blick lag flehend auf mir, weshalb ich die Achseln zuckte und auf meine Uhr schaute.

»Dafür haben wir doch noch Zeit, oder?«, kam mir Reece zuvor, doch um ehrlich zu sein, wollte ich genau das gleiche sagen. Ich nickte lächelnd, immer noch leicht benebelt, denn er sah in dem Anzug so anziehend und dominant aus, dass mir seine Meinung über mich noch viel wichtiger war. Ich wollte so sehr, dass er mich attraktiv fand, dass ich mit meiner vorschnellen Art heute eher vorsichtig umging.

»Die Pizza ist da«, hörte man Papa schließlich rufen, weshalb sich alle anderen wieder ins Haus begaben und nur Mama, Reece und ich für die Fotos draußen blieben. So fühlte ich mich wenigstens nicht beobachtet und konnte auf den Bildern ein ehrliches und freies Lächeln zustande bringen. Reece und ich standen zwar die ganze Zeit nur gegenüber und starrten in die Handykamera, doch in meinem Hinterkopf dachte ich immer daran, dass Mama die Fotos machte.

»Ok. Fertig...«, murmelte sie und schaute sich bereits die Bilder an, die sie zuvor gemacht hatte.

»Wir müssen jetzt auch gleich los«, erklärte ich, nachdem ich ein weiteres Mal die Uhrzeit überprüft hatte.

»Soll ich euch hinfahren?«, fragte sie noch freundlich und sah uns nacheinander an. Mein Nebenmann schüttelte den Kopf, ehe er ihr erklärte, dass er fuhr.

»Ich kann auch fahren...darf ja sowieso nur wenig Alkohol trinken», merkte ich an und sah Reece das erste Mal, seit wir in unserem Garten waren, wieder in die Augen.

»Du kannst ja mit meinen Wagen wieder zurück fahren. Aber lass uns das spontan entscheiden«, erwiderte er und unterbrach unseren Blickkontakt nach wenigen Sekunden, um meiner Mutter wieder Aufmerksamkeit zu schenken.

»Dann brauche ich mir ja keine Sorgen machen«, zog sie nun auch meine Aufmerksamkeit auf sich. Als Antwort auf ihre Aussage verdrehte ich bemerkbar meine Augen, weshalb sie lachend mit den Schultern zuckte und ebenfalls im Haus verschwand.

»Ich hatte gedacht, dass meine Familie schon weg wäre, wenn wir los wollen, doch sie sind einfach«, begann ich das Gespräch mit ihm und suchte am Ende nach dem richtigen Wort, welches meine Familie am besten beschrieb.

»Sie sind deine Familie und unglaublich gutherzig. Es kommt selten vor, dass man mich so herzlich aufnimmt«, erwiderte er in meiner Pause und ich ließ es mir nicht nehmen, ihn mitleidig zu beäugen. Doch das schien er nicht zu wollen, weshalb er unseren Blickkontakt abbrach und bereits einen Schritt ins Hausinnere machte. Ich seufzte, ehe ich diese Gedanken - die Gedanken um Reece und seinem Leben - in eine Ecke meines Gehirns verbannte, in die ich mich heute nicht mehr verkroch. Das sollte ein schöner Abend werden, den wir beide genießen sollten.

Auch wenn ich im Nachhinein weiß, dass es für Reece und mich besser gewesen wäre, wenn wir zuhause geblieben wären.

Doch dieser Abend sollte uns immer im Gedächtnis bleiben, auch wenn nicht ganz so, wie wir es gewollt hatten.

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