Am nächsten Morgen war es in der Schule nicht anders als gestern Nachmittag bei mir zu Hause. Alle brachten ihre Schein-Freude darüber, dass Reece Brown befreit war, zum Ausdruck. Meine Mutter hatte mit den Worten, dass sie sich gar nicht vorstellen könne, wie schrecklich es gewesen sein musste, sogar Tränen in den Augen. Mein Wohnort war dafür bekannt, die meisten Heuchler zu besitzen und ich hatte mich schon teils daran gewöhnt. Natürlich war es nicht alltäglich, dass jemand entführt wurde, doch es gab schon so einige Situationen, in denen ich einfach nur die Augen verdrehen musste.
Talia wich mir in den Tagen kaum von der Seite und schrieb mir zu jeder erdenklichen Zeit, denn sie hatte immer noch die Befürchtung, dass man nun mich entführen wollte. Aber so war sie eben, liebevoll ängstlich wie eh und je. Ich hatte tatsächlich auch einen Gedanken daran verschwendet, dass die ganze Situation doch merkwürdig war, jedoch verfestigte er sich nicht in meinem Kopf.
Ich muss wahrscheinlich nicht erwähnen, dass sich das Gerede um Reece Brown bereits zwei Tagen nach seiner Befreiung wieder beruhigte.
Reece selber kam erst einmal nicht zur Schule und ich glaube, dass war legitim, doch auch sonst sah ich den großgewachsenen Jungen eher selten. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich ihn mal sah, da wir nun einmal Nachbarn waren, doch seine Rollladen waren nach seiner Entführung stets unten, das Haus lag permanent im Dunklen und selbst seine Eltern waren wie vom Erdboden verschluckt. Eine Zeitlang geriet der Gedanke, dass sich die Browns vielleicht eine Auszeit nahmen und in den Urlaub gefahren waren, in meinen Kopf. Jedoch rief ich mir immer wieder ins Gedächtnis, dass diese Familie nicht normal war und so etwas nie tun würde.
Doch ich war der festen Überzeugung davon, dass ich mein Leben einfach weiter führen könnte. So hart es auch klingen mag, mich hatte man nicht entführt und ich musste das Ereignis nicht verarbeiten. Jedoch wusste ich im Inneren sofort, dass sich mein Leben ändern würde, als ich Reece Brown an einem Donnerstagnachmittag auf den Treppen zu unserer Haustür sitzen sah. Dieser sonst so selbstbewusste braunhaarige Junge saß dort mit eingefallen Schultern und einem leeren Blick Richtung Boden. Er schaute mir erst mit seinen dunkelgrünen Augen entgegen, als ich mein Fahrrad neben ihn abstellte. Und obwohl Reece Brown es zu verstecken versuchte, sah ich den Schmerz seiner Seele in den Tiefen seiner Augenfarbe. Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun, doch mein Herz zerbrach ein kleines bisschen, als ich ihn so dasitzen sah. Die Entführung hatte es scheinbar geschafft ihn so zu brechen, dass nicht einmal mehr ein Funken seiner Lebensfreude übergeblieben war. Aber war es ihm zu verübeln? Meine Mundwinkel zogen sich ein kleinen wenig mitleidig nach oben, ehe ich mich langsam neben ihn setzte. Sein Blick heftete sich immer noch an die Stelle, an der ich zuvor gestanden hatte. Wir beide sagten nichts. Denn ich wollte Reece zu nichts zwingen, zumal er auf den Treppen zu meiner Haustür saß und scheinbar etwas von mir wollte. Auch wenn mir dies erst einmal nicht bewusst werden wollte.
Wir hatten uns über die Jahre so gut ignoriert. Meine Ohren nahmen die Geräusche seines tiefen Atems wahr, was mich auf eine unbestimmte Art und Weise ruhiger werden ließ. Noch ruhiger als ich sowieso schon war.
»Danke!«, vernahm ich plötzlich seine gebrochene Stimme, weshalb ich meinen Blick von unseren Schuhen nahm, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Verwirrt musterte ich dieses, als ich realisierte, was er überhaupt gesagt hatte. Meine Frage brauchte ich nicht einmal stellen, denn er antwortete mir mit einem herzzerreißenden Seufzen. Seine Augen wanderten dabei immer wieder über sein Haus und die gegenüberliegende Straße. »Ich habe gehört, dass du geholfen bei meinem Fall geholfen hast«, hauchte er. Es bestätigte meine Vermutung, warum er sich bedankte. Einerseits war es schön geholfen zu haben, andererseits erfüllte ein beklemmendes Gefühl meinen Körper. Ich hatte nicht von Anfang an geholfen und ich muss gestehen, dass ich oft mit dem Gedanken spielte, warum ich nicht schon Samstag oder spätestens Sonntag etwas gesagt hatte. Hätte die Polizei meine Informationen eher vorliegen gehabt, dann wäre ihm wahrscheinlich einen großen Teil erspart geblieben. »Reece, das war doch – es war selbstverständlich. Ich hatte dich an dem Abend gesehen«, »Emma, das ist überhaupt nicht selbstverständlich. Andere, die näher in meinen Fall verwickelt waren, haben auch nicht geholfen!«. Mit diesem Satz, der nebenbei eine Gänsehaut bei mir hinterließ, hatte ich eine ungefähre Ahnung, wie es sein musste, mit demjenigen unter einem Dach zu leben, der einen im Endeffekt gar nicht haben wollte.
»Das tut mir leid, Reece«, gestand ich ihm meine ehrliche Anteilnahme, doch er schüttelte nur leicht mit seinem Kopf. Und dann trat die Stille wieder ein, die Reece im Moment scheinbar nicht wirklich verkraften konnte, denn nach kurzer Zeit redete er einfach weiter.
»Weißt du Emma, es war ein Schlag ins Gesicht zu hören, dass er das Lösegeld nicht zahlen wollte, aber es war ein Schlag in die Magengrube, zu bemerken, dass man von denjenigen betrogen wurde, denen man so viel Vertrauen gegenüber gebracht hat«, erzählte er mir mit offenen Gefühlen, sodass ich mir auf die Lippe beißen musste. Mit einem letzten herzzerreißenden Seufzer stand er plötzlich auf und schaute zu mir herunter: »Man sieht sich, Emma!«. Und damit lief er über die Straße, um wenige Sekunden später hinter der Haustür des gegenüberliegenden Hauses zu verschwinden. Ich starrte noch eine Weile auf die Stelle, an der zuvor noch sein Oberkörper zu sehen war, bis ich mich schließlich bewegte und mich selber ins Haus begab.
Mama und Papa waren beide noch arbeiten, sodass ich mich mit aller Ruhe nach oben in mein Zimmer begeben konnte. Träge ließ ich mich auf meinen schwarzen Schreibtischstuhl fallen und drehte mich einmal um die Hälfte meiner eigenen Achse, sodass ich aus meinem offenen Fenster schauen konnte. Mein Blick auf die heruntergelassenen Rollladen auf der gegenüberliegenden Seite, ließ mich einmal aufseufzen. Auch wenn man der Familie Brown aus Rachegelüsten schaden wollte, hatte Reece so etwas nun doch nicht verdient. Es musste eine schreckliche Erfahrung gewesen sein. Und so absurd dieser Gedanke in dem Moment war, er hatte sich sogar mit mir unterhalten, ohne mir irgendetwas an den Kopf zu werfen. Aber wer würde sich nach all den Vertrauensbrüchen nicht auch verändern und einsam fühlen? Denn das war es, was Reece gerade zu schaffen machte: Die Einsamkeit. Und obwohl es den Anschein machte, dass er genau das sein wollte, suchte er im Inneren nur nach Personen, denen er vertrauen und besonders die er lieben konnte.
Eine ganze Weile saß ich da nur auf meinem Schreibtischstuhl und starrte gen die gegenüberliegende Hauswand; bemerkte gar nicht, dass Mama wieder gekommen war, bis sie mich zum Abendessen rief und ich meinen Blick abwenden musste. Doch ehe ich herunter ging, ließ ich langsam und mit schwerem Herzen ebenfalls meine Rollladen herunter. Ich weiß nicht, warum mich Reece Geschichte plötzlich so mitnahm, doch das sollte sich auch nicht ändern.
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Man liest sich dann hoffentlich im nächsten Kapitel ❤️
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guardian angel I
RomanceReece Brown, Sohn des milliardenschweren Hotelkettenbesitzers Daniel Brown, hatte es in seinem Leben wohl oft nicht leicht. Es ist nicht immer ein Segen mit Popularität und Geld konfrontiert zu werden. Das muss auch Reece am eigenen Leib erleben. Es...