34. Kapitel

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Kurz bevor wir am Campus ankamen, fragte mich Reece dann doch, wie ich mich fühlte.

Nichts Schlimmes. Eine ganz normale Frage, gerade wenn man bedenkt, dass mein Cousin am Vortag gestorben war.

Doch meine Antwort darauf war schlimm.

Ich fühlte mich normal, fast gut, denn es war alles so wie immer.

Ich saß in dem Auto zusammen mit Reece. Wir fuhren zum Unigebäude und ich fragte mich jedes Mal aufs Neue was dieser Tag und diese Bindung zu Reece mit sich brachte.

»Ganz ok, denke ich«, murmelte ich als Antwort und fragte ihn aus Reflex das gleiche. Ab und zu vergaß auch ich, dass er vor ein paar Wochen entführt worden war und jetzt mit dem Erlebnis versuchte, zurecht zu kommen.

Ich wusste, dass ich mit Talia reden musste, doch ich schob es auf. Ich konnte der Trauer in ihren Augen nicht gegenüber treten. Genau deshalb lief ich durch die Flure wie ein Gespenst oder ein Monster, das nicht gesehen werden wollte.

Ich brauchte das Gespräch mit meiner besten Freundin, doch ich wusste nicht, wie ich es ihr überhaupt sagen sollte, ohne dass ich in Tränen ausbrach. Und die Angst vorm Schwachsein traf mich noch härter.

Ich dachte gar nicht daran, mein Smartphone zu prüfen, denn ich hatte das böse Gefühl, dass ich dann noch eine schlechte Nachricht erhielt.

Es war verrückt, so zu glauben, doch in meiner Blase erschien alles möglich.

Meine Kurse flogen nur so dahin, ohne dass ich überhaupt irgendetwas sinnvolles daraus mitnahm.

Mich zu wiederholen, dass der Unterricht jetzt sowieso schon unsinnig war, war ebenfalls schwachsinnig.

In der vorletzten Pause brachten mich meine Gedanken dann doch noch an meinen Spind, aber gar nicht mal gewollt.

Ich dachte an das Bild, welches ich von Reece in der Hand hielt und ihm in diesem Moment eine zweite Chance gab.

Und bis jetzt war es das beste was ich hätte tun können.

Ich gab einem Menschen die Chance, sich zu bessern und diese Person übertraf alle Erwartungen.

»Emma«, flüsterte Talia erleichtert und kam mir näher.

Für mich trat sie erst in mein Blickfeld, als sie anfing zu reden.

»Habe ich etwas Falsches gemacht? Du antwortest nicht auf meine Nachrichten oder meine Anrufe. Sag mir was los ist«, entgegnete sie meinem leeren Blick und sah dabei fast verzweifelt aus.

Ich wusste, dass sie sich Gedanken machen würde, warum ich ihr aus dem Weg ging.

Doch ich hatte nicht überlegt und ihr damit möglicherweise ein schlechtes Gewissen gemacht.

Zudem wunderte es mich, dass Reece sie nicht aufgeklärt hatte, denn auch er tauchte in jeder Pause an meinem Spind auf. So wie jetzt.

Er stand hinter meiner besten Freundin und sah mich aus diesen bemitleidenswerten Augen an.

Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich wusste, dass wenn ich mich nicht zusammenriss, ich gnadenlos anfing zu weinen.

Deshalb blieb mir nichts anderes übrig und ich blinzelte schnell; blickte in Richtung der Decke.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie nochmals und ich konnte sie nicht länger hinhalten.

»Es ist was passiert«, murmelte ich und meine Stimme wurde am Ende zittriger. Ich atmete mehrmals scharf aus und wusste, dass die Worte, die ich als Nächstes aussprach, mir mein Herz brechen würde.

»Caden ist tot. Er ist tot«. Meine Worte waren hart und merkwürdigerweise leer.

»Oh Gott«, hauchte Talia und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Kein Wunder, denn auch sie kannte diesen fröhlichen, aufgeschlossen Jungen, der jedem das Herz gestohlen hatte. Ich stand stocksteif da, versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu halten und den Blick nicht auf Reece zu richten. »Er ist tot«.

Es war bescheuert, dass ich keine Schwäche, keine einzige Träne zeigen wollte. Doch ich schaffte es. Schaffte, mich so kalt wie möglich zu zeigen.

Talia war fix und fertig und es war nicht fair von mir, ihr so eine Nachricht sozu überbringen. Sie kam mir einen Schritt näher und zog mich schließlich in eine liebevolle Umarmung. Eine Umarmung, die mir so gut tat.

Ich wollte sie genauso in den Arm nehmen, doch konnte meine Krücke nicht einfach fallen lassen, weshalb ich mit einem Arm genau den gleichen Druck auszuüben versuchte.

»Es tut mir so leid, Emma«, murmelte sie mir immer wieder in mein Ohr, doch ich antwortete ihr nicht. Auf so etwas eine Antwort zu finden, war unmöglich.

Ich sog ihren Duft in mich auf, denn ich hatte ihn so sehr vermisst. Hatte diese Momente vermisst, auch wenn dieser gerade ein scheiß Anlass war.

Ich sah auf und entgegnete nicht den gehofften grünen Augen. Er war weg. Schon wieder. Ich wäre froh gewesen, wenn ich ihn gesehen hätte, denn das hätte mir eine gewisse Ruhe gegeben.

Doch er wollte mir wahrscheinlich nur einen kleinen Augenblick mit meiner Freundin geben. Reece und ich hangen ja sowieso gefühlt nur noch aufeinander.

Ich warte nachher am Auto.

Reece war schon immer aufmerksam gewesen und ich war froh, als ich seine Nachricht auf meinem Handy aufblitzen sah. Ich wollte noch gar nicht nach Hause, denn Mama hatte mich heute Mittag wissen lassen, dass sie und Papa nur den halben Tag arbeiten mussten.

Mir war bewusst, dass ich heute einigen Hürden gegenüber treten musste, doch ich wusste auch, dass ich sie überstehen würde. Die Frage war nur wie.

Ich wollte mir keine Gedanken darüber machen, sondern freute mich nur über Reece Präsenz. Neben meinen besten Freunden war er mir am liebsten.

Auch wenn wir schwiegen, hatte ich den Eindruck, dass unsere Blicke allzu laut waren. Wir verstanden uns eben aus nicht definierbaren Gründen.

Ich hatte ihn gehasst. Wollte, dass er die High School wechselte, die Stadt verließ oder einfach nur verschwand. Ich hatte ihn dafür gehasst, dass er mich zum Gespött der Stufe gemacht hatte und dass er auf all meine Fehler herumritt.

Und jetzt saß ich im Unterricht und wünschte mir, dass er neben mir saß.

Er hatte dazu gelernt; an Verstand dazu gewonnen und versuchte seine Fehler wieder gut zu machen.

Ich fing an mich zu fragen, warum ich mir gerade ihn wünschte.

Ich hatte vielleicht fünf, sechs Sekunden nicht an Caden gedacht und ihn gleich vernachlässigt.

Ich schämte mich für meine Gedanken. In egal welcher Hinsicht.

Mein Anker war vor nicht einmal 24 Stunden eingeschlafen und ich wünschte mir etwas, was nicht mit ihm zu tun hatte.

Aber auch diese Gedanken waren dämlich, denn es war human.

Ein Verdrängungsmechanismus, der mich vor dem Schmerz schützen sollte.

Meine Gedanken gehörten zum Glück nur mir, denn ich wollte nicht, dass jemals jemand erfuhr, wie niedergeschlagen, ängstlich; wie schwach ich war. Es war dumm.

»Emma?« Ich erschrak vollkommen und landete wieder knallhart in der Wirklichkeit. Mein Blick huschte zu Reece herüber. Er stand dort, im Türrahmen zu meinem Unterrichtsraum. Mein Gehirn fing an, zu verstehen, dass die Stunde bereits beendet war und sich niemand mehr in diesem Raum befand.

Meine Augen glitten wieder zu Reece. Er versuchte entspannt und locker zu stehen und mich mit seinen Augen zu fragen, wie es mir ginge. Und ich erkannte, dass er sich sorgte, dass er Angst gehabt hatte.

In meinem Kopf schwirrten so viele Buchstaben, doch es kam kein einziger über meine Lippen. Stattdessen versuchte ich alles in meinem Kopf zu verbannen, konzentrierte mich darauf, meine Sachen, die ich kein einziges Mal angerührt hatte, einzupacken und aufzustehen. Das hier war alles verrückt.

Ich versuchte, all das zu verdrängen, aber gleichzeitig stellte ich mir selber Fallen.

Kopf gegen Herz. Die Frage war, wer gewann?

guardian angel IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt