Kapitel 50

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Fühlte es sich so an, wenn man starb? Ein bedrückendes Gefühl von Einsamkeit und dem Wissen alle die man liebte zurücklassen zu müssen? Fühlte es sich so an? War das wirklich alles, was mich erwarten würde?
Wenn man ewig leben kann, glaubt man, dass es nichts gibt, dass man nicht schon gesehen hat. Nicht, dass einen wirklich bleibt. Dabei reicht manchmal ein kurzer Augenblick, eine unverhoffte Begegnung, eine ungewollte Berührung. Nichts ist dann so viel wert, wie dieser eine Moment oder diese eine Person. Nie hätte ich geglaubt, dass es fast ein Jahrtausend brauchte, so etwas zu fühlen. Ich bin so vielen Menschen und Lykanern begegnet, die geglaubt haben, denn Sinn des Lebens in der Ewigkeit gefunden zu haben. Dabei sind die einzig einem Bedürfnis von Gier gefolgt. Ich ebenfalls, bis ich begriff, dass der Sinn des Lebens, etwas völlig anderes ist. Eine Erkenntnis. Wir wollen immer das, was wir nicht haben und nie besitzen können und vergessen dabei das wirklich wichtige: Das, was wir schon haben.
Wir nehmen nämlich die Dinge, die wir haben und unser eigen nennen können zu selbstverständlich. Alles und jeden. Wir haben aufgehört die Menschen um uns herum, die uns ganz nah sind, wertzuschätzen, weil wir aus eigenem Egoismus erblindet sind. Das wirklich Wahre erkennen wir erst, wenn es zu spät ist oder sogar schon zu Ende. Und wir trauern all den verpassten Möglichkeiten hinterher, aber vor allem den Dingen, die wir für selbstverständlich gehalten haben, die es aber gar nicht sind.
Es hat mit Jahrhunderte gekostet, das zu begreifen. Das Streben nach unendlichem Leben, ewiger Jugend und Schönheit sind teuflische Verführungen des Verlustes, des Schmerzes und des Lebens. Ich habe große Menschen wie Lykaner fallen sehen. Ich habe miterlebt, wie morden zu einem abgrundtief hässlichen Vergnügen wurde. Nie genügte ihnen das, was war. Sie wollten immer nur das, was sein könnte. Eine Zukunft, die ungewiss war und noch immer ist. Ich habe Fehler gemacht. Viele. Ich habe anderen weh getan. Meine Macht ausgenutzt. Mich für etwas besseres gehalten. Bis ich Arkadien traf und erkannte, dass ich nicht über das Leben andere zu bestimmen oder zu urteilen hatte. Dass alles, was ich für Taten aus meinen Prinzipien hielt, nichts weiter war als Gier. Gier, die alles andere als schön war. Ich erkannte, dass das nicht das Leben war, das ich führen wollte bis in die Unendlichkeit. Erst der Verlust von geliebten Menschen brachte mich dazu zu erkennen, was der eigentliche Sinn an dem zerbrechlichen Konstrukt des Lebens war. Eine Erkenntnis, die alles materielle nichtig wirken ließ und die vergangenen Jahrhunderte zu Staub zerfallen ließ.
Ich alleine habe es in der Hand, wie man mich nach meinem Tod in Erinnerung behielt und was ich der Welt und allen folgenden Generationen hinterließ. Etwas, dass anderen den Weg weisen würde. Ihnen zeigt, dass Fehler zu machen, nicht schlimm ist. Etwas, dass ihnen erklärt, dass man niemanden gefallen muss, um sich selbst zu genügen und dass der größte Wert in den Dingen liegt, die man nicht für Geld kaufen kann. Irgendetwas das blieb.

Sollte der Tod sich deswegen nicht anders anfühlen? Leicht und erlösend? Wie als würde man nach einer unendlich weiten Reise endlich am Ziel ankommen? Sollte sich nicht so der Tod anfühlen? Warum fühlte ich mich dann so verdammt schwer?
Doch ich war nicht Tod. Mein Herz begann zu schlagen. Kräftig. Ich war leben. Ich hatte überlebt. Sauerstoff strömte in meine Lungen. Mein Brustkorb hob und senkte sich. Ich war am leben. Wärme breitete sich in mir aus. Tränen lösten sich und rannen in seichten Linien meine Wange hinunter.
Leben erfüllte meinen Körper.
Ich konnte es kaum glauben.
Langsam, voller Angst vor dem was ich sehen würde, öffnete ich meine Augen und mir stockte für den Bruchteil einer Sekunde der Atem. Ich erkannte die Decke aus Kadens Zimmer. Sie hatten mich gefunden. Zögerlich blickte ich nach rechts und sah Kaden. Er schlief völlig erschöpft auf einem Stuhl gleich neben dem Bett. Ansonsten war niemand da. Die Tür stand einen Spalt offen und warmes Licht schien vom Flur zu uns hinein. Doch mein Blick glitt automatisch wieder zu Kaden. Ich begann zu weinen und schlug mir eine Hand vor den Mund. Es waren Tränen purer Freude und Erleichterung.
"Kaden.", hauchte ich.
Ganz langsam drehte er den Kopf in meine Richtung und eröffnete total verschlafen die Augen. Wie sehr ich seine blassgrünen Augen doch liebte. Mir einem Mal riss er die Augen auf und ihm stockte der Atem.
"Kyra", kam es völlig perplex von ihm. "Du bist wach. Bei der Mondgöttin du bist wach!" Er stand auf und setzte sich auf die Bettkante um mich zu mustern. Tränen sammelten sich in seinen Augen und langsam hob er die Hände an mein Gesicht. Seine Stirn ruhte an meiner und stumm ließ er den Tränen freien Lauf. Ich drückte mich enger an ihn und schlang meine Arme um seinen Hals. Ich hatte kaum Kraft mich aufrecht zu halten aber Kaden stützte mich. Und plötzlich spürte ich seine warmen Lippen auf meinen. Es steckten so viele... unausgesprochene Gefühle in diesem einen Kuss. Wir lösten uns voneinander. Nach Luft ringend.
"Verlass mich bitte nie wieder, okay?", sagte er und strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. "Das würde ich nicht noch einmal verkraften. Dein Leben ist auch meines und mir mehr wert als alles andere auf dieser Erde."

"Ich verspreche es dir.", gab ich ihm zu verstehen. "Ich liebe dich! Kaden, hast du gehört? Ich. Liebe. Dich."
Er küsste mich als Antwort darauf und es fühlte sich an, als würde ein ganzes Feuerwerk in mir explodieren. Ich hatte nie angenommen, dass das was mir so unheimlich fehlte, Kaden gewesen ist. Ich wusste, bevor ich ihm begegnet war, wer ich war. Doch jetzt wäre ich ohne ihn nichts mehr und das nicht, weil ich mich durch ihn definiere, sondern weil er mir Kraft gibt. Ein leises Klopfen an der Tür ließ uns aufsehen. Mel trat als erste ein und rannte sofort zu mir um mich zu umarmen. Einer nach dem anderen schloss mich in die arme und bedankten sich.
"Wie hast du das eigentlich überlebt?", traute sich Mel irgendwann zu fragen. Ich sah Kaden in die Augen und dann zu den anderen.
"Ich weiß es kaum. Ich habe einfach gehofft, dass ich so viel Magie in mir hatte, um das irgendwie zu überleben. Ich hab einfach darauf gehofft. Ich hätte nie erwartet, dass ich ein... so mächtiger Adanyi gewesen bin."
"Wie meinst du das, dass du ein Adanyi gewesen bist?", hörte ich Kaden besorgt fragen.
"Ich hab einen Teil meiner Magie dazu verwendet, meinen menschlichen Körper von meinem... inneren Wesen, der Magie in mir zu trennen.", erklärte ich. "Ich hatte noch nie solche Schmerzen in meinem gesamten Leben und noch nie solche Angst." Ich sah auf uns sah wie die anderen bedrückt auf den Boden sahen. Ich wischte mir übers Gesicht und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter.
"Und ich habe darauf gehofft, dass du mich finden würdest, sollte ich das tatsächlich überleben.", richtete ich an Mel. Sie sah mich als würde ihr plötzlich alles klar sein.
"Du hast mir Arkadiens Blut gegeben, weil du wusstest ich könnte dich somit aufspüren, sobald ich mich endlich in einen Wolf verwandle, nicht wahr?"
"Ja, das war vielleicht etwas egoistisch, aber hätte ich es auch nicht überlebt, wäre ich wenigstens in dem wissen gestorben, dass du endlich das zweite Gesicht hast." Mel kamen die Tränen, aber sie nickte mit einem Lächeln im Gesicht und schmiegte sich an Zarek.
"Würdet ihr uns bitte alleine lassen?", fragte Kaden die anderen ruhig und sah mir tief in die Augen.
"Klar, wenn was ist, wir sind unten.", kam es von Lukas und sie alle verließen das Zimmer. Mit einem leisen klicken schloss die Tür und sofort begann Kaden zu weinen. Ich schloss ihn fest in die arme und spürte wie er seine starken, muskulösen Arme um meine Taille schlang.
"Du bist jetzt also ein Mensch?", fragte er mit zitterndernder Stimme.
"Ja, aber in erster Linie, bin ich deine Mate bis wir alt und grau sind und bis in den Tod hinein.", antwortete ich und küsste ihn.
"Kyra, ich liebe dich und ich gebe dir so viel Zeit wie du brauchst um wieder richtig fit und gesund zu werden, aber bitte versprich mir, dass du mit mir vollständig die Vernindung eingehst. Als meine Mate."
Ich nickte und lächelte.
"Und bitte, heirate mich!", kam es plötzlich von ihm.
"Was? Reicht dir die vollständige Markierung von mir und Verbindung zwischen uns nicht?", fragte ich leicht verwirrt.
"Nein, dass reicht mir nicht.", sagte er und kam mir näher. "Ich will dich nicht nur als meine Mate bezeichnen, sondern auch als meine Frau und später auch als Mutter unserer Kinder. Kyrabell, ich liebe dich mit jeder Faser meines Körpers und in Form eines Menschen und eines Wolfes. Und ich will auf beiden Ebenen allein dir gehören und da du jetzt auch ein Mensch bist, liegt mir das verdammt nochmal mehr am Herzen als zuvor. Bitte sag ja!"
"Ja, Kaden. Ich will nicht nur deine Mate sein, sondern auch deine Frau und die Mutter unserer Kinder. Denn das ist alles, was ich brauche, um glücklich zu sein."
Das, was ich als Adanyi erkannt hatte, ließ ich nun als Mensch war werden. Ewig zu leben, bedeutete nicht automatisch glücklich zu sein. Denn Zeit ist etwas, dass jeder von uns hat, nur die Dauer ist bei jedem von uns anders. Auch wenn ich jetzt, körperlich alt werden konnte und irgendwann starb, würde ich immer im Herzen ein Adanyi bleiben.

Wolfsblut - AdanyiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt