Chapter 1 - Work & Travel I

85 14 9
                                    


„Keep calm and drink this ..." - der Typ neben mir auf dem Sofa redete auf mich ein, aber ich verstand nicht, was er sagte.

Ich sah mich immer noch auf dem dreckigen Boden und über dem Mann knien, der mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden gegangen war und nun keinen Mucks mehr von sich gab. Mir wurde siedend heiß, denn so eine Situation hatte ich gerade erst erlebt. Electric fencing! Die Tücken des Stroms, die auf einen lauern, wenn man zu dritt einen defekten Elektrozaun wieder in Ordnung bringen soll.

Dabei hatte man uns doch eingeschärft, was wir machen sollten, für den Fall, dass es mal einen von uns erwischen sollte. Nun lag unser Kollege am Boden und rührte sich nicht. Wie paralysiert hatten wir auf ihn hinuntergestarrt und wertvolle Sekunden verstreichen lassen. Meinem Kollegen war zwar dann doch noch eingefallen, was in einem solchen Fall zu tun war, aber dieser Stromschlag war dann doch zu heftig gewesen, und der Junge, den es erwischt hatte, war nicht wieder zu sich gekommen.

Er hatte das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Manche Erlebnisse wird man nie los. Im Gegensatz zu den damit verbundenen Jobs. Gestorben war Robbie nicht, wie ich später erfuhr, aber dass sie statt Jack und mir trotz der irreparablen Schäden lieber dem Zaunhersteller die Schuld gaben, tröstete mich auch nicht. Und nun hier, in dieser Bar... Dabei hatte der Mann nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem jungen Kollegen von damals. Allerdings war „damals" ein dehnbarer Begriff.


Mark, so hieß der Typ neben mir auf dem Sofa, hielt mir einen Becher mit Kaffee unter die Nase – normalerweise mein Lebenselixier, aber ich fühlte mich wie tot. So tot wie der Mann, dem ich trotz aller Wiederbelebungsversuche doch nicht hatte helfen können; dass ich diesen Alptraum ein zweites Mal erleben würde, damit hatte ich nicht gerechnet, und vermutlich auch außer mir niemand sonst.

„...bevor du auch noch umkippst..."

So langsam begann das Getränk, seine Wirkung zu entfalten. Das war wirklich sehr aufmerksam von ihm, und vermutlich sollte ich ihm für seine Fürsorglichkeit danken; dennoch konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, und mich fröstelte, trotz der Decke, die er um meine Schulter gelegt hatte. Weiß der Geier, aus welchem Kellerloch er das Ding hervorgeholt hatte, denn es roch muffig und kratzte obendrein wie Hulle ... Decke? Was zum... !

Mein Tunnelblick ging in Richtung Tresen, der einige Meter entfernt war und an dem ständig Leute vorbeiliefen. Der Haken unter der Theke: leer. Abgeräumt. Das gleiche Bild unter dem Barhocker, wo ich meine Schuhe abgestreift hatte, weil mir die Füße nach der vielen Lauferei und wegen der Wärme in dem Laden hier entsetzlich gequalmt hatten... nichts. Gähnende Leere. Bei der letztendlich missglückten Rettungsaktion hatte ich sie nicht vermisst.

Wer auch immer sie geklaut hatte, um die Schuhe ging es mir noch nicht mal – aber in der Jacke war mein letztes Geld gewesen. Wenigstens hatte ich den Schlüssel zu meinem Hostel noch, weil ich so clever gewesen war, ihn in den Taschen meiner Jeans zu verstauen, da wo ich auch ein paar vereinzelte Scheine und Münzen aufbewahrte. Die würden vielleicht gerade noch reichen, meine Drinks hier zu bezahlen, und das Zimmer. Aber morgen früh wäre dann Schluss mit lustig.

Ich hätte längst weg sein sollen, doch das ging nicht mehr, denn wohin ich auch blickte, überall war Securitypersonal. Ob sie hofften, den Feigling, der den Tumult ausgenutzt hatte, um mich zu bestehlen, doch noch zu kriegen? Die Polizei war längst fort; man hatte meine Personalien aufgenommen, und das war's dann auch schon. Den Diebstahl hatte ich erst hinterher bemerkt.

Inzwischen hatte auch Mark mitbekommen, dass etwas mit mir nicht stimmte.

Ich mache nur ungern aus meinem Herzen eine Mördergrube, außerdem war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte, also konnte ich ihm auch genauso gut erzählen, was passiert war. Aber was gab es da schon groß zu berichten? Fasse dich kurz,war das Motto meiner Eltern gewesen, die es wiederum von meiner Oma hatten, und in meinem Fall bedeutete das: Mich schamlos zu beklauen, war der Dank dafür, dass ich mich da unten auf dem Boden abgemüht hatte, und dann auch noch völlig umsonst.

Was Mark genau wie alle anderen bestimmt schon längst mitbekommen hatte. Wie alle anderen? Tatsächlich gab es jemanden, der während der ganzen Aktion nicht dabei gewesen war. Nein, nicht der Dieb, der bestimmt längst über alle Berge war, sondern jemand, den Mark genauer zu kennen schien.

„Hey, Mitchell", rief er ihm zu, als der die Treppe herunterkam, „komm doch kurz rüber und mach dich mal nützlich."

'So slide over here and give me a moment', das hätte man auch netter sagen können; aber der rustikale Tonfall schien dem anderen nichts auszumachen. Völlig entspannt kam er auf uns zu; der ihn umgebenden Wolke nach zu urteilen, hatte er gerade eine längere Zigarettenpause hinter sich.

Na prima, wenn ich Mark richtig verstanden hatte, sollte sich sein Best Buddy um mich kümmern, weil er dringend telefonieren musste. Was Mitchell dabei sollte, war mir schleierhaft – eigentlich war ich inzwischen so weit, dass ich auch genauso gut meine Drinks selbst bezahlen und ohne großes Aufsehen verschwinden konnte. Einen günstigeren Moment als diesen würde ich nicht mehr erwischen: Mark hatte ihn zur Seite genommen, um ihn über die Situation ins Bild zu setzen. Mist – zu spät, jetzt starrten mich beide an.

Mark drückte Mitchell ein Glas in die Hand, zeigte in meine Richtung und schickte seinen Freund zurück zu mir. Prompt ließ der sich auf den freigewordenen Platz neben mir auf dem Sofa fallen und reichte das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit an mich weiter.

Mißtrauisch schnüffelte ich daran. Ginger Ale war das nicht.  Yo, klar – macht mich nur betrunken; füllt mich ruhig bis zum Filmriss ab, vielleicht vergesse ich dann schneller...

Broken StringsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt