Kapitel 38

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"Aragorn!", schrie ich und rannte zu dem Rand der Klippe. Gerade noch rechtzeitig bremste ich ab und warf ich auf den felsigen Boden. In schwindelnder Höhe blickte ich in den Abgrund. In der Schlucht darin auftat floss ein rauschender Bach in einem Bett aus Kies und an der unter mir liegenden Steilwand gab es mehrere Felsabsätze mit spitzem Gestein. Aragorn konnte das nicht überlebt haben. Der Schock über diese Erkenntnis machte sich in mir in Form einer erstickenden Leere bemerkbar; gleichzeitig fühlte es sich an, als würde meine Brust vor Wut und Ungläubigkeit platzen. Ich konnte nicht glauben, das er tatsächlich über die Kante gefallen war. Dass er in die Tiefe gestürzt war. Dass dieser scheinbar unbesiegbarer Krieger, Isildurs Erbe, auf diese Art und Weise sein Ende gefunden haben sollte. Es konnte einfach nicht sein. 

"Aragorn!", rief ich nochmal in den Abgrund, mit vor Verzweiflung zitternder Stimme. Nein, nein, nein! Nicht noch einer unserer Gruppe. Nicht er! In meinen Augen bildeten sich Tränen und meine Sicht verschwamm. Auch die letzten Kampfgeräusche blendete ich aus. Ich wünschte, dass wir nie auf diese verfluchte Reise gegangen wären, dass wir nicht in solchen Zeiten leben und so viel Leid ertragen mussten. Ich wünschte, ich wäre wieder daheim in Bruchthal und nicht hier, auf dieser windigen Klippe, zusammengesunken und um einen Freund trauernd. Ich fühlte mich auf einmal so alleine. 

Geb nicht auf, hörte ich eine Stimme in mir sagen. Das ist noch nicht das Ende. Die Stimme war ruhig und löste eine gewisse Gelassenheit in mir aus. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein. Vor meinen geschlossenen Lidern leuchtete ein helles Licht und Wärme verdrängte fast alle schlechten Gefühle. Du musst weiterkämpfen, Elodiel. 

Gab es noch Hoffnung? Erneut schaute ich über die Kante in den Abgrund, als ich mich langsam aufrichtete. Ich fragte mich, ob Aragorns Körper dort unten zerschellt auf einem Felsen lag, oder ob der Bach ihn schon flussabwärts davon getrieben hatte. Denn ich sah nichts dergleichen, worum ich auch froh war. Aber konnte es vielleicht sein, dass er noch lebe und nur verletzt dort unten lag? Durfte ich ihn einfach schon aufgeben? Er hatte es eigentlich zumindest verdient, dass man seinen Körper barg. Ich schluckte bei dem Gedanken. Konnte ich es wagen, an der Wand herunterzuklettern und in der Schlucht nach ihm zu suchen? Und wenn ja, wie würde ich es alleine schaffen, ihn zu bergen? Oder sollte ich lieber auf Verstärkung warten? Doch irgendetwas sagte mir, dass wenn noch Leben in Aragorn steckte, Eile geboten war. Und keiner schien gesehen zu haben, was passiert war, da alle noch mehr oder weniger in einen Kampf verwickelt und über die ganze Landschaft verstreut waren. Ohne weiter nachzudenken, ging ich wieder in die Hocke und schwang mich über den Abhang. 

Meine Füße fanden auf den schmalen Felssimsen Halt und so hangelte ich mich immer weiter in die Tiefe; meine Finger krallten sich in den rissigen Stein. Zweimal rutschte ich ab und musste mich fluchend an jeden noch so instabilen Büschel Gras oder unbefestigtes Geröll klammern. Auch vermied ich es, nach unten zu gucken, doch irgendwann hatte ich es unter großer Anstrengung und müden Muskeln geschafft. Ich war auf einem Feslabsatz angekommen, von dem ich nun die letzten zwei Meter auf die Kiesebene springen konnte, in der der Bach vor sich hin rauschte. Dort sah ich auch den leblosen Torso des Wargen, mit dem Aragorn in die Tiefe gestürzt war. Wenn er es nicht überlebt hat... wie stehen dann die Chancen für den Menschen?, schlich sich ein düstere Gedanke in meinen Kopf. So oder so, ich muss ihn finden, dachte ich mit einem mulmigen Gefühl und sprang. Gekonnte rollte ich mich auf dem Kies ab und erhob mich mit einer fließender Bewegung. Und da, unter dem Felsabsatz machte der Bach eine kleine Kurve - in der ich Aragorn seitlich liegen sah. Das Wasser umspülte seine schlaffen Gliedmaßen und zerrte an seinem Körper; seine Haare fielen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht. Atmet er?, fragte ich mich panisch und rannte planschend durch das zu glück seichte Wasser. Es war eisig kalt und ließ mein Herz umso schneller klopfen. Schon war ich bei ihm und kniete mich neben ihm ins Wasser. Schnell zog ich ihn an mich, versuchte ein Lebenszeichen auszumachen, doch er rührte sich nicht. Als ich mit zitternden Händen nach einem Puls suchte, meinte ich noch ein schwaches Schlagen zu verspüren. Ganz schwach. Sein Leben hing an einem seidenen Faden, aber noch war es nicht zu spät. Er war am Leben und das war alles was zählte. Erleichtert unterdrückte ich ein Schluchzen und versuchte fieberhaft nachzudenken, was nun zu tun war. Er hatte bestimmt mehrere gebrochene Knochen, immerhin war sein Genick verschont geblieben, was bei einem Fall aus dieser Höhe ein Wunder war. Ich konnte mir nur vorstellen, dass der Körper des Wargen seinen Sturz etwas abgedämpft hatte. Also hievte ich ihn vorsichtig und ächzend aus dem Wasser; seine nasse Kleidung und sein Schwert machten ihn nicht gerade leichter. Behutsam legte ich ihn auf dem Kies ab, immer wieder seinen Namen und elbische Beschwörungen flüsternd, in der Hoffnung, dass er die Augen aufschlug. Entmutigt sah ich die Felsklippe hinauf, von der ich gekommen war und auf der der Kampf stattgefunden hatte. Jetzt hörte ich kein Waffenklirren mehr, es konnte gut sein, dass wir gesiegt hatten, doch das war mir nun egal. Ich brauchte Hilfe. Wie soll ich das alleine schaffen? "Hilfe!", schrie ich versucheshalber. "Hilfe, wir sind hier unten!" Doch kam keine Antwort. Es konnte gut sein, dass meine Worte von dem Rauschen des Baches übertönt oder von dem Wind davongetragen wurden. Alleine Legolas hätte mich vielleicht hören können. Keine Reaktion. Selbst wenn man von oben über die Kante spähen würde, könnte man uns unter dem Felsabsatz nicht sehen. Und wieder kamen mir die Tränen. Beruhig dich, Elodiel, alles wird gut, versuchte ich mir selber einzureden. Denk nach. Da fiel mein Blick auf den Ring meiner Mutter an meiner Hand. Natürlich hatte ich meine Fähigkeiten nicht vergessen, doch musste ich erst wieder meine Fassung zurückgewinnen, um klar zu denken. 

Was konnte ich tun? Elbische Worte mochten vielleicht einige seiner Wunden heilen, doch wenn er nicht aufwachte, konnte ich nicht garantieren, dass ich ihn alleine nach Helms Klamm bringen konnte. Wach bitte auf, flehte ich. Bitte. Wie konnte mir denn meine Umgebung und meine Fähigkeit zu Hilfe sein? Könnte uns der Wind wieder auf die Anhöhe transportieren? Oder könnte uns der Fluss irgendwie dienen? Denk nicht so viel, handel endlich, gab ich mir einen Ruck. Ich schloss entschlossen die Augen. Na gut, versuchen wir es einfach. Erfreut merkte ich, dass mich anstatt Dunkelheit wieder das helle, warme Licht empfing, das mir schon vorhin zu Seite gestanden hatte. Das gab mir Mut und ich flüsterte andächtig "Danke", auf elbisch. Die Kraft in mir strömte von meinem Herzen in meine Glieder bis in meine Fingerspitzen und mich überfiel ein beflügelndes Gefühl. Ich fühlte mich, als würde ich schweben. Und siehe da, als ich die Augen öffnete, befand ich mich tatsächlich, windumgarnt und schwerelos einige Handbreit in der Luft. Ich konnte es nicht fassen! Vor Freude stieß ich einen spitzen Schrei aus, doch ich merkte, dass ich nicht die Konzentration verlieren durfte. "Trage uns!", sagte ich nun laut in meiner elbischen Sprache und der Wind gehorchte mir zum dritten Mal an diesem Tag. Auch Aragorns schlaffer Körper erhob sich ein Stück, was schon etwas mehr an meinen Kräften zehrte. Konnte ich es schaffen, ihn in eine ausreichende Höhe zu transportieren? Oder war das zu riskant... 

Mir kam eine andere Idee. "Forme dich!", befahl ich, meinen Blick und meine Hände auf die Felswand gerichtet. Schon bewegte sich der Stein, kleinere Brocken lösten sich und fielen zu Boden, andere schoben sich mit Leichtigkeit zur Seite oder weiter hinnein in das Gestein, bis sich jeder Zentimeter der Wand von unten nach oben nach meiner Vorstellung verändert hatte. Eine Treppe hatte sich nun vor uns gebildet, die uns nach oben bringen würde. Warum bin ich da nicht vorhin schon drauf gekommen?, fragte ich mich grinsend. Doch nun musste ich Aragorn bewegen und ich beschloss, dass es mehr Sinn machte, nur ihn vom Wind, von mir geleitet nach oben zu tragen, während ich die Treppe nutzen würde. Ich packte den Waldläufer unter den Schultern und trug ihn, nun leicht wie eine Feder rückwärts die Stufen hinauf. Konzentriert und mit Bedacht machte ich einen Schritt nach dem anderen, um nicht aus Versehen die Balance zu verlieren und womöglich wieder abzustürzen. Auch spürte ich, dass die Stufen, auf denen ich wandelte keineswegs zu hundert Prozent befestigt waren, ja , manche verschoben sich sogar etwas, wenn ich nicht aufpasste. Du hast es fast geschafft, bleib bei der Sache!, hörte ich mich selber sagen. Noch nie hatte ich zwei Elemente gleichzeitig befehligt und es machte sich schnell bemerkbar. Vor mentaler Anstrengung vernahm ich schnell ein schmerzhaftes Pochen in meinen Schläfen und es wurde auch immer schwerer, Aragorn mit mir nach Oben zu ziehen. Nur noch ein paar Stufen! 

Da machte ich den letzten Schritt über die Kante, legte Aragorn im Gras ab - und brach erschöpft am Abgrund zusammen. Sofort verabschiedete sich der helfende Wind und ich sah, dass die Steine unter mir sich lösten und entweder wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehrten oder gelockert in die Schlucht fielen. Hastig rutschte ich von der Kante weg und blieb schließlich einfach in dem Gras der Heide neben Aragorn liegen. Müde fuhren meine Augen seine Konturen nach: Seine geschlossenen Lider, seine Augenbrauen; von seiner leicht gewölbten Nase, bis hin zu seinem stoppeligen Bart und seinen spröden Lippen. Ich hätte ewig so liegen bleiben können, denn es überkam mich eine eigenartige, gleichgültige Ruhe. "Wach auf, Aragorn", flüsterte ich ein letztes Mal. Weder Hoffnung, noch Angst fanden sich in meiner Stimme. "Bitte."

Da öffnete der Waldläufer seine Augen. 

Der Herr der Ringe oder das Erbe von AngmarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt