Überleben

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Steril.
Desinfektionsmittel.
Der typische Krankenhausgeruch umfing sie alle.

Nachdem der Rettungswagen Lea in das Kreiskrankenhaus gebracht hatte, hatten viele aus dem Verein den Weg in die Klinik gefunden.
Der Warteraum vor dem OP- Bereich glich einem Vereinshaus.
Alle waren nach dem Unfall nach Hause geeilt, hatten geduscht und waren umgezogen.

Inmitten des Szenarios saß Mario, er hatte im Notarztwagen mitfahren dürfen, nicht jedoch im RTW.
Er war noch immer kostümiert, hatte blutverschmierte Kleidung an und nahm die Welt um sich nur dumpf wahr.
Er hatte erleben müssen, wie der RTW auf der Strecke zweimal stehen geblieben war, da der Notarzt und die Sanitäter die verletzte Frau reanimieren mussten. Und dann hatte er nur das Nachsehen gehabt, als man sie aus dem RTW in die Ambulanz brachte und wenig später an ihm vorbei eilte, um sie in den OP Bereich zu schieben.
Niemand sagte ihm, was los war.
Er, der als Mediziner sonst auf der anderen Seite war, erlebte nun nichts als nackte Angst und lähmende Ungewissheit.

Die diensthabende Schwester hatte ihn in den Wartebereich verfrachtet, hatte ihm einen Kaffee gegeben.
Ein Arzt war sehr kurz bei ihm gewesen und hatte ihm versichert, das man alles tun würde, man aber noch gar keinen Überblick über alle Verletzungen habe.
Doch all das war nur wie durch Watte zu ihm durchgedrungen, wie in Zeitlupe.
Er fühlte ihre Hand auf seiner Wange, zart wie ein Windhauch. Hörte ihre leise Stimme, die sich fast schon entschuldigte weil sie nicht mehr Zeit hatten.
Und da war er selber, der sie Liebling genannt hatte, der sich fühlte seit dem Unfall als habe sein Herz aufgehört zu schlagen. Er, der nun wusste, das ihn die Gefühle überrannt hatten, das die Liebe ihn verschlungen hatte.
Er liebte sie.
Aber es drohte alles ein Ende zu haben.
Er drohte gerade alles zu verlieren.

Tim war der erste gewesen, der bei ihm gewesen war, im Krankenhaus, in dem Wartebereich. Er hatte ihm frische Kleidung mitgebracht, aber Mario wollte sich nicht fortbewegen.
Er konnte es nicht.
Tim stand vor ihm. „Mario, du musst was anderes anziehen, da ist überall Blut und...!“
Der Chef von Lea stoppte, als der Arzt ihn anblickte. Er sah Tränen in den Augen des Arztes, sah mit Erschütterung auf seinen besten Freund.
„Ich liebe sie, ich kann sie doch jetzt nicht verlieren, jetzt wo ich gefunden habe was ich immer suchte!“, gab dieser zu.
Der Apotheker ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder. „Lea ist stark!“, war das einzige was er noch sagte. Er legte eine Hand auf die Schulter seines Freundes, der sich einen Moment Schwäche erlaubte. Ein Schluchzer verließ seine Kehle, seine Schultern bebten, doch raffte er sich schnell wieder auf.
Und dann waren sie alle gekommen.
Chrissi und Steffen, Hannah als sie den kleinen Konstantin untergebracht hatte, sowie alle anderen.

Die Zeit schlich nur langsam voran.
Mario hatte den Eindruck das sie garnicht verging.
Immer wieder versuchte ihn jemand zum Trinken oder Essen zu bewegen.

Ein Hauch Aktionismus kam in ihm hoch, als Kai mit Tobi plötzlich im Warteraum stand. Chrissi stand neben Tobi und man hörte den grossen Kerl sagen: "Er ließ sich nicht davon überzeugen, nicht herumkommen!"
Mario reagierte, als jemand erschrocken sagte: „Das du dich herwagst!“
Er sah auf und erhob sich zu voller Größe. All die Gefühle und Ängste in ihm vermischten sich in dem Moment mit Wut, sodass er trotz des Karnevalskostümes und des Blutes noch größer und hünenhafter wirkte. „Sieh zu das du hier verschwindest!“, presste er hervor.
Kai wollte etwas sagen, doch Tobi hielt ihn kopfschüttelnd ab. Er war es schuld, er hatte sie gestoßen.
Er wandte sich zum gehen um, als Mario einen Schritt auf ihn zu machte.
„Eins sollte Dir vollkommen klar sein. Sollte sie das nicht überleben, werde ich Dich finden. Egal wo, ich finde Dich, und ich werde Dich zur Verantwortung ziehen.", presste er hervor und wandte sich wieder ab.

Es dauerte bis zum frühen Mittag, als endlich ein Arzt zu ihnen kam.
Professor Stockhausen, wie er sich vorstellte war noch komplett in OP Kleidung unter seinem weißen Kittel.
„Wer gehört zu Lea Klein?“, wollte er wissen. Mario erhob sich. Obwohl er selber Mediziner war, fühlte er sich gerade hilflos wie ein Kind.
Leas beste Freundin Chrissi trat neben ihn und nahm seine Hand. Er nannte dem Operateur seinen Namen.
„Frau Klein liegt auf der Intensivstation. Die Operation war soweit erfolgreich, aber wir werden weitersehen müssen!“, gab er kurz und knapp an und er wollte wieder gehen.
„Welche Verletzungen hat sie, bitte Herr Kollege, Herrlich mein Name, lassen Sie nichts aus!“, Mario wählte die Ansprache bewusst.
Der Angesprochene drehte sich zurück und musterte ihn. „Dr. Herrlich, Dr. Mario Herrlich? Der Palliativmediziner?“, wollte der Professor wissen und Mario nickte.
„Sie wissen...!“, er stoppte seine Frage, als er den verzweifelten Gesichtsausdruck sah.
„Nun gut, bei den Folgen des Autounfalles handelt es sich um ein Polytrauma. Sie hat eine Fraktur des Jochbeines und des rechten Schien- und Wadenbeinbruch. Die Fraktur des Unterschenkels wurde gerichtet und geschient. Die Verletzung des Kopfes zeigt sich aktuell ohne Folgen. Der Hirndruck ist unauffällig und das CT zeigte keine Einblutungen. Was dazu kommt und uns Sorgen bereitet, sind die Milzruptur, sowie der halbseitige Abriss der Lungenvene. Die Milz wurde entfernt. Die Lungenvene wurde vernäht. Aktuell wird sie beatmet und wir haben uns entschlossen sie für 48 Stunden in einem künstlichen Koma zu belassen.“, erklärte der Arzt. „Ich will ehrlich sein, ich kann keine Prognose abgeben. Ihr Schutzengel hat Überstunden gemacht, denn anders kann ich mir nicht erklären, das ich sie bei den Verletzungen lebend auf dem OP- Tisch liegen hatte. Die nächsten 48 Stunden werden entscheiden!“
Mario atmete tief ein und aus. „Bitte, kann ich sie sehen!“, bat er.
„Aber nur einer, nicht alle. Und ziehen sie etwas anderes an! Ich sage auf der Station Bescheid! So kommen sie nicht auf die ITS.“, erhielt er die Erlaubnis ehe der Professor tatsächlich ging.

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