Sie sollten schnell her kommen...

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Tage vergingen.
Tage zwischen Hoffen und Bangen.

Tage, die Mario auf der Intensivstation verbrachte, solange es bei der Besuchszeit erlaubt war.
In der Praxis hatte er sich dazu krankschreiben lassen, sein Kollege in der Praxis führte sie allein, so lange es eben dauern würde.
Lediglich an zwei Tagen ließen sich Termine nicht verschieben, weil er da von seinen Söhnen erwartet wurde.
In dieser Zeit wachte Chrissi am Krankenbett.
Sie warteten, daß sie aufwachte.
Sie warteten auf ein Lebenszeichen, eine Regung.
Warteten, das sich regte, das Halten ihrer Hand mit einem leichten Druck erwiderte.

In den ersten zwei Tagen war es ein ständiges auf und ab gewesen.
War Mario bei ihr, ging es ihr gut. Sobald er weg war, verschlechterten sich ihre Werte. Es konnte sich niemand erklären, allerdings hatte eine der Schwestern eine Idee.
Am dritten Tag testeten sie das auf der ITS aus.
Während der Besuchszeit baten sie den besorgten Mann  sich zu verabschieden und den Patientenraum zu verlassen.
Nur widerwillig ließ er sich überzeugen und tat wie ihm geheißen.
Mit der Krankenschwester und Professor Stockhausen wartete er im Überwachungsraum. Und tatsächlich dauerte es keine zehn Minuten und ihre Werte schnellten besorgniserregend in die Höhe. Umgehend schickten sie Mario wieder in das Zimmer, der sofort seinen angestammten Platz einnahm und ihre Hand ergriff. Sofort normalisierten sich die Werte der kranken und komatösen Frau.
Professor Stockhausen nuschelte ein „Interessant“ und nickte der Schwester zu. Diese holte einen Patientenkittel und reichte ihn dem Besucher. Irritiert wollte er wissen, was das solle.
„Tragen sie ihn bitte, das er ihren Geruch annimmt. Ich kenne das aus der Säuglingspflege und bin überrascht, das es auch bei Erwachsenen so etwas gibt. Ich habe die Hoffnung, das ihr Geruch Ihr Ruhe gibt. Es ist ein Versuch!“, erklärte sie ihr Vorhaben.
Dem gab der Arzt gerne klein bei.
Er trug den Kittel während des Besuches und legte ihn ihr abends über die Decke.

Dieses Ritual schien zu helfen und am vierten Tag begannen sie das Narkosemittel auszuschleichen.
Wann sie aufwachen würde, das konnte niemand genau vorhersagen.
So liefen die Tage weiter.

Ihre Knochenbrüche heilten, die Hämatome verblassten.
Die weiter durchgeführten CTs zeigten auch weiter keine Auffälligkeiten.
Auch die Lunge erholte sich. Zwei Aufnahmen des Thorax, sowie zwei Bronchoskopien zeigten, das die Lunge sich komplett erholen würde.

Der Unfall war zehn Tage her, als der Arzt das Gespräch suchte.
Er erläuterte, das nun die Narkosemittel komplett abgesetzt waren und die Beatmungsmaschine abgenommen wurde.
Sie erhielt noch Sauerstoff über die Maske, aber der Tubus war entfernt worden und sie atmete allein. Ihre Atemzüge waren flach, aber gleichmäßig und sie versorgten sie mit ausreichend Sauerstoff.
Aber sie machte keine Anstalten aufzuwachen.
Es war nicht ungewöhnlich, da jeder sein eigenes Tempo zur Genesung hatte, doch es beunruhigte Mario.
Er wollte ihr in ihre Augen schauen.
Er wollte ihr Lachen hören und auch ihr Geplapper.
So vieles wollte er ihr sagen, so vieles drängte in ihm was ihr mitgeteilt werden sollte.

Am elften Tag nach dem Unfall saß er neben ihr und hielt wie gewohnt ihre Hand.
Er betrachtete ihr blasses Gesicht. Mittlerweile war die komplette Schminke aus dem Gesicht verschwunden und es sah beinahe aus als würde sie schlafen.
Er bat sie immer wieder aufzuwachen, das sie ihn nur einmal anlächeln würde.

In der Nacht von Freitag auf Samstag, fast genau zwei Wochen nach dem Unfall, lag Mario im Bett und schlief.
Traumlos, denn sein Grund zu träumen war nicht da. Und er schlief auch nicht tief genug, um überhaupt träumen zu können.
Der grelle Klingelton riss ihn aus dem Schlaf. Er ging dran, murmelte verschlafen seinen Namen.
„Herr Herrlich, Intensivstation der Kreis Klinik, Pfleger Lukas. Sie sollten schnell herkommen...“, tönte es.
Ohne weiter zuzuhören, ohne zu antworten, beendete er das Gespräch und war aus dem Bett gesprungen.
In Jeans und Sweatshirt stieg er in seine Sneakers und saß keine drei Minuten nach dem Anruf im Auto. Er hatte sich nicht einmal die Haare gekämmt.

Er raste zum Kreiskrankenhaus und überschritt gefühlt jede Verkehrsregel.
Das war ihm egal.

Das war er gewesen.
Der Anruf, vor dem er sich so sehr gefürchtet hatte.
Das war der Anruf gewesen, der das schlimmste befürchten ließ, denn es konnte nichts Gutes heißen.

Er hoffte nur eines.
Er hoffte rechtzeitig zu kommen.

Um sich verabschieden zu können!
Er wollte sie im Arm halten, wenn sie ihren letzten Atemzug machte.
Sie sollte nicht allein sein.
Er wollte nicht allein sein.
Er war nicht bereit für das was jetzt geschehen würde.

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