Schritt für Schritt

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Zwei Tage nach dem Jahreswechsel hatte Lea ihren ersten Reha- Tag.
Im Nachbarort konnte sie dies an einem Reha- Zentrum ambulant machen. So konnte sie selber hinfahren und auch selber nach Hause fahren. Sie hatte die Genehmigung der Kasse für drei Wochen Intensiv- Rehabilitation erhalten.
Das bedeutete von Montag bis Freitag würde sie täglich Sport machen müssen, was sie nicht unbedingt verabscheute, aber seltener war ihr bedeutend angenehmer.
An diesem ersten Tag wurde sie von Mario begleitet. Sie bekamen die Räumlichkeiten vorgestellt und im Anschluss wurde der Therapieplan besprochen.
Da Lea bereits völlig genesen war, was die Verletzungen anging, konnte man auf ganz leichte Einheiten verzichten. Ihr Plan sah schwimmen und Wassergymnastik vor, sowie Physio und Massagen.
An diesem ersten Tag hatte sie Physio, damit ihre Belastbarkeit und ihre Beweglichkeit ausgetestet werden konnte. Danach konnte Mario seine Liebste mitnehmen.

Abends war noch ein Treffen wegen Karneval. Während die Männer am Wagen unterwegs waren, fuhr Lea weiter zur Schneiderin, um sich abmessen zu lassen. Direkt im Anschluss saßen sie alle bei Tanja, wo Dekorationen und Tänze besprochen wurden.
Lea hatte gerade einen Hugo erhalten, als Mario mit Tanjas Mann Nico reinkam. Beide in der Hand ein Kölsch so dass die junge Frau auf Wasser umstieg.

In den kommenden Tagen gewöhnte sie sich an das Sportpensum und lernte zu akzeptieren das sie nicht alles auf einmal haben konnte.
In den ersten Tagen hatte sie Muskelkater und Muskelkrämpfe. Sie wurde nachts wach vor lauter Wadenkrämpfen. Mario massierte dann ihre Beine, achtete darauf, das sie zusätzlich Magnesium nahm. Beim ausdauernden Schwimmen fehlte ihr schneller die Puste, als sie es gewöhnt war und das ärgerte sie.

So konnte sie in der ersten Woche auch nichts anderes machen. Sie, die soviel machen und erledigen wollte, kam einfach nicht dazu.
Mario musste ihre Erwartungen bremsen und musste über ihr enttäuschtes Klagen oft Lachen.

Doch ihr Übermut sorgte auch für einen Dämpfer. Sie freute sich ihres Lebens, aber sie traf Entscheidungen, die nicht jedermann verstand.
Während sie die Autofahrerin, welche den Unfall verursacht hatte, angezeigt hatte, ließ sie Kai verschont.
Mario wusste, das Kai sie im Krankenhaus aufgesucht hatte, das hatte Lea ihm gesagt, aber er verstand es nicht. Er konnte tolerieren das er sie besucht hatte, aber nicht akzeptieren. Er konnte ebenso tolerieren das es ihn traf, das jetzt er mit Lea zusammen war, aber seine gewaltsame Reaktion verurteilte er scharf.
In seinen Augen war er der eigentlich Schuldige. Ohne seinen alkoholbedingten Ausraster, ohne sein Schubsen wäre Lea nie auf der Straße und vor dem Auto gelandet.
An dem Abend, als die zweite Woche Reha vorbei war, war deshalb ein Brief von der Staatsanwaltschaft gekommen. Man stellte auch von deren Seite das Verfahren gegen Kai ein.

Missmutig saß Mario beim Essen. Lea wusste, das es ihn belastete, das er einen anderen Weg gegangen wäre.
„Willst Du wegen meiner und der Entscheidung vom Gericht jetzt weiter schmollen?“, wollte sie wissen.
Geräuschvoll stieß er den Teller von sich, was Lea nicht interessierte. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und wartete auf eine Antwort. „Du weißt wie ich dazu stehe!“, gab er von sich.
Seine Stimme zitterte.
Lea hatte immer wieder den Eindruck, das es ihm mehr zu schaffen machte, was alles geschehen war.

„Ich möchte kein Verfahren gegen ihn!“, erklärte sie sich wieder und wieder. Sie mochte Kai nicht noch mehr Aufmerksamkeit schenken, als er ohnehin schon wieder hatte.
Mario erhob sich, tigerte in der kleinen Küche auf und ab.
„Du könntest tot sein!“, spie er aus.
„Ich bin es aber nicht!“, gab sie energisch zurück.
Dieser Abend verlief deutlich schlechter, als sie es wollte. Sie konnte seine Gedanken in diesem Punkt nicht nachvollziehen.
Dieses Thema belastete ihn, aber er sprach nicht darüber. Er missbilligte nur ihre Entscheidung.
„Ich weiß das Du mich nicht verstehst, aber es ist meine Sicht!“, gab sie ihm zu verstehen.
„Er hat dich geschubst, er hat dafür gesorgt, das Du auf die Straße geraten bist. Ich kann nicht verstehen, das Du es so einfach übergehen willst!“, verriet er.
Sie versuchte seine Hand zu nehmen, doch er zog sie weg. „Es ist aber in dem Fall meine Entscheidung!“, versuchte sie ihm begreiflich zu machen.

An diesem Abend diskutierten sie beide noch derart heftig, das Mario sich dem entzog und aus der Wohnung flüchtete.
Lea glaubte, das er bald wiederkäme, doch dem war nicht so.
Sie hatte die Küche aufgeräumt und versuchte ihn mehrfach auf dem Handy zu erreichen, aber er war nicht erreichbar oder ignorierte sie. Irgendwann schlief sie wartend auf der Couch ein.

Als ihr Handywecker sie am Morgen auf der Couch weckte, war Mario nicht nach Hause gekommen. Er hatte auch nicht auf ihre Anrufe und Nachrichten reagiert.
Sie duschte und zog sich um. Dann machte sie sich auf den Weg, ihn zu suchen.

Da er nicht an der Hütte war, rief sie Tim an. Dort war er allerdings auch nicht. Als sein Auto auch nicht an der Praxis oder bei seinen Eltern stand, kam ihr nur ein Ort in den Sinn.
Sie hatte den Platz seit dem Unfall gemieden, doch nun zog es sie an ihren Unfallort.

Sie parkte ihren Wagen auf dem kleinen Parkplatz. Die wenigen Meter zu der Unfallstelle ging sie langsam.
Ihr Atem ging flach und hektisch.
Ihr Herz schlug schneller.

Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jacke und starrte auf den Asphalt.
Der Wind spielte mit einigen ihren Strähnen, wirbelte sie durch die Luft. Lea sah währenddessen den Unfall vor ihrem inneren Auge.
Jeder einzelne Moment, der Streit, der Schubser, das Auto und der Aufprall. Ihr war, als würde sie das Blut schmecken welches ihr damals aus dem Mundwinkel tropfte.

Sie spürte ihn, aber sie drehte sich nicht um.
„Ich kann verstehen das Du meine Entscheidung nicht gut heißt, aber ich will nicht mehr daran denken. Und wenn ich Kai anzeige, dann muss ich nicht nur einmal vor Gericht sondern zweimal. Und das bedeutet ich muss das mehrmals durchkauen . Das will ich nicht, das kann ich nicht!“, sagte sie leise, aber sie wusste das er jedes Wort hörte.
„Ich weiß und es tut mir leid, das ich versucht habe Dich in eine Richtung zu drängen. Ich verstehe dich und ich werde dich nicht mehr drängen!“, entgegnete er.

Dann drehte die junge Frau sich um, blickte zu ihrem Verlobten. Er sah erschöpft aus und zog sie an sich.
Engumschlungen standen sie eine kleine Ewigkeit dort.
Irgendwann sah sie zu ihm auf, legte ihre Hände auf seine stoppeligen Wangen.
Zart küsste er sie.

Sie wusste, das es zwischen ihnen rasant ging, aber das mit dem Unfall würde nur Schritt für Schritt vorüber gehen.
Doch zusammen würden sie diese Schritte gehen, in dem Tempo welches für sie gut war.

„Lass uns nach Hause gehen!“, murmelte sie. Er nickte an ihrem Kopf. Dann fuhren sie nach Hause.

Da steckt der Unfall wohl doch noch in den beiden, mehr als sie dachten.
Wie denkt ihr darüber?

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