Der Junge, der überlebte

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Harry fand ihn nach der Schlacht im Raum der Wünsche. Er hatte diesen Raum schon zu vielen verschiedenen Zeiten gesehen - voll mit Hängematten und Kissen und flackernden Lichtern, voll mit Müll und fast leer.

Aber der Raum sah so aus wie damals, als sie sich das erste Mal getroffen hatten, in einer einsamen Nacht vor 3 Jahren, hölzerne Wände und hölzerner Boden und ein großes Fenster aus gefärbtem Glas. Draco kniete in der Mitte, Kleider ausgebreitet um ihn herum und Harry fand, dass er wunderschön aussah im bunten Licht. Er hielt etwas in der Hand, zwei dünne Stöcke Holz. Mit einem Ruck erkannte Harry, dass er ihre Zauberstäbe gefunden hatte.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihn fallen gelassen hatte - im Wald, vielleicht, nachdem er auf den Boden gesunken war, nachdem die Welt weiß und silber wurde und dem grau von Dracos Augen glich. Wenn er die Luft anhielt konnte er noch die Erde in seinem Mund schmecken, gemischt mit dem metallischen Geschmack von Blut.

Er näherte sich Draco; sein Gesicht war matt, seine Haare durcheinander. Ein dunkler Streifen Blut zog sich über seinen Wangenknochen, verpasste gerade so die Falte unter seinem linken Auge; Harry wollte mit seinen Fingern darüber streichen. Es war alles Dreck und Schweiß und Tränen, gebrannte Löcher in Dracos Kleidern und Schnitte entlang seinen Armen, das feste Zusammenpressen von Dracos Lippen und das Knirschen seiner Zähne.

Er fragte sich, wann Draco das letzte Mal geschlafen hatte - er wusste, dass es für Ron und Hermine schon lange her war. Ron ging mit Trauer so um, wie er es immer tat, überflutete sich selbst mit Arbeit, bewegte Steine und schaufelte Kies bis seine Hände bluteten. Hermine war lustlos, schwebte ziellos von Raum zu Raum, aß nicht, drank nicht, redete nicht.

Draco war immer noch auf Knien in der Mitte des Raumes, das Rote Licht vom Glas warf Muster auf sein Gesicht. Es war leise genug, dass Harry das leise „Es tut mir leid" hören konnte, dass von Dracos Lippen kam, gebrochen und rau und leer.

Er hätte es besser wissen sollen. Er hatte es versucht, zu oft, als man zählen könnte. Aber Harry konnte nicht aufhören, nach ihm zu greifen, Fingern griffen nach Dracos Schultern, sehnten sich schmerzhaft danach, die warme Berührung von Haut zu fühlen.

Er dachte aber, dass Draco aufschaute, als seine Finger durch Draco hindurch glitten, genau so substanzlos, wie das Licht, das durchs Fenster kam. Wenn er seine Augen schloss, konnte er sich die Hitze fast vorstellen, die von Dracos Haut ausging, genau wie vor zwei Nächten, als die beiden aneinander gekuschelt dagelegen hatten, Dracos Gesicht an Harrys Hals geschmiegt. Harry würde das nie wieder haben, dieses simple Gefühl von Berührung, von dem Gewicht von jemandem, der neben ihm lag.

Draco jedoch wird es haben. Draco wird weitermachen, jemand anderen finden. Er war zu schön, als dass niemand ihn lieben würde.

Der Gedanke an Draco, wie er neben jemand anderem lag, schicke physischen Schmerz durch Harrys Körper, schmerzhaft genug, dass, als er nach vorne griff, er den Druck von Draco gegen ihm schon fast erwartete. Es tat dann noch mehr weh, als er beobachtete, wie seine Finger bis zum Fußboden fielen.

Draco ließ einen weiteren Schluchzer von sich. Seine Hände waren von Staub bedeckt - er hatte sie seit heute morgen nicht gewaschen. Harry erinnerte sich an den Regen, die Menschenmenge, Dracos tränenbedecktes Gesicht, als er die Erde auf Harrys Grab schaufelte. Harry hatte da gestanden, stundenlang beobachtet, wie Draco sich vom Regen durchnässen ließ, die Worte auf dem Grabstein verschwammen - Harry James Potter, der Junge, der überlebte.

„Es ist nicht deine Schuld", flüsterte er, die Tränen drückten auf seine Stimme. Er setzte sich neben Draco, versuchte, seine Arme um ihn zu legen, versuchte, seinen Kopf auf seine Schulter zu legen, wie er es vor so langer Zeit getan hatte.

„Du kannst mich...", begann Draco, unterbrach sich dann selbst, die rauen Kanten in seiner Stimme taten Harry weh. „Du kannst mich nich verlassen."

„Werde ich nicht", versprach Harry, obwohl er wusste, dass Draco ihn nicht hören konnte. „Ich schwöre. Werd ich nicht."

Er schaute zu, wie Draco in seine Hände schluchzte, alles blutige Knöchel und silberne Augen und Harry fragte sich, wer wirklich mehr gelitten hatte - die Person, die starb, oder die, die zurückgelassen wurde.

Harry Potter - OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt