Zwei

169 13 2
                                    

Mit einem Ruck wache ich auf, mein Atem geht schwer, mein Körper ist schweißbedeckt. Ein Traum. Es war nur ein Traum.

Ich atme tief durch, versuche mich zu beruhigen. Traurig starrt Freedom mich an. Sie weiß, dass ich Alpträume habe. Sie weiß, dass ich darunter leide - und sie weiß, dass ich nicht vorhabe, darüber zu reden.

Meine Kehle ist wie ausgedörrt. Freedom, die bereits Bescheid weiß, wirft mir meinen Rucksack in den Schoß, ehe sie aufsteht und sich auf den Weg zu Cheri macht. Mit fahrigen, blauen Fingern mache ich mich daran, den Verschluss meiner Wasserflasche zu lösen und gierig trinke ich die letzten Tropfen daraus.

Ich verstaue alles wieder in dem Rucksack, stehe auf und nicke einem jungen Mann in meiner Nähe zu. Er erhebt sich ebenfalls und teilt jedem, an dem er vorbeikommt, mit, dass wir aufbrechen. Es dauert nur wenige Minuten, ehe wir alle aufgestanden sind, unsere Sachen gepackt haben und bereit dastehen.

Aus dem Schneenebel marschiert Cheri auf mich zu, die Lippen fest aufeinander gepresst. "Wir halten das nicht mehr lange durch, Snow. Wo bringst du uns hin?", verlangt sie angespannt mit gedämpfter Stimme zu wissen. Die anderen sollen ihren Unmut nicht mitbekommen. Sie will unbedingt vermeiden, dass Unruhe ausbricht.

Stumm sehe ich Richtung Norden. Gesten und Zeichen sind alles, was mir geblieben ist, seit wir das gefrorene Meer überquert haben. Geredet habe ich seit einem halben Leben nicht mehr - oder so fühlt es sich zumindest an.

"Und was ist im Norden?", knurrt Cheri. Sie verliert allmählich die Geduld. Wir alle verlieren allmählich die Geduld. Nun, alle, außer mir. Die Kälte zerrt an den Nerven der anderen, der Wind und die Rauheit der Umgebung hier machen es nicht besser, die Unsicherheit verursacht nur noch mehr Frust.

Ruhig und geduldig öffne ich meinen Rucksack und ziehe einen langen Stock daraus hervor. Mit ihm male ich eine kleine Skizze in den Schnee, die schnell wieder vom Schneegestöber bedeckt und verborgen wird.

"Eine Festung?" Cheri zieht skeptisch eine Augenbraue hoch. "Du weißt, dass dieses Land immer noch deinem Vater untersteht und man dich als gesuchte Flüchtige sofort gefangen nehmen wird?"

Ich zucke mit den Schultern und male eine Uhr in den Schnee.

"Ich soll Geduld haben? Verdammt, Snow, wir stapfen seit einem Monat durch den Schnee!", fährt Cheri mich an. "Es ist Tage her, dass wir zuletzt etwas gegessen haben und viele von uns sind kaum noch in der Lage, in deinem Tempo weiterzumachen!"

Ich atme tief durch, lege den Kopf schief, lasse meinen Blick über unseren Trupp schweifen. Durch die dicken Mäntel und Jacken und Schals kann ich kaum abschätzen, wie viel Körpergewicht ein jeder besitzt, aber ihre Gesichter sind leer und ausgezehrt.

Wieder zucke ich mit den Schultern. Wenn sie nicht mehr können, dann sollen sie nicht mehr mitkommen. Stumm wende ich mich ab, will den heutigen Marsch eröffnen, aber Cheri hält mich am Arm fest.

"Du weißt, dass wir dich nicht alleine gehen lassen werden, Snow. Aber du weißt auch, dass dein Verhalten uns alle zutiefst verletzt. Mich zutiefst verletzt. Ich weiß nicht, wie lange ich dir noch folgen kann, Snow, so wie du dich verhältst. Ich will die alte Snow zurück. Die Snow, die geredet und gelacht und gesungen und Lucien geneckt hat", schluchzt Cheri, ihre pechschwarzen Augen funkeln enttäuscht.

Mein Gesicht verhärtet sich, als ich den Namen höre. Seinen Namen. Ich will nicht über ihn nachdenken, nicht über ihn reden. Ich will sein Gesicht nicht vor mir sehen und ich will seine Stimme nicht hören.

Freedom klammert sich an Cheris Mantel und schüttelt leicht den Kopf. Cheri lässt mich los, schließt die Augen. Ohne Freedom wäre sie wohl schon längst gegangen und hätte mich alleine gelassen. Und ohne Cheri wären die anderen sicher nicht mehr hier.

Noch einmal lasse ich meinen Blick über unseren Trupp schweifen. Ich versuche, Worte aus meiner Kehle zu pressen, Buchstaben mit den Lippen zu formen, Sätze auszukotzen - aber ich schaffe es nicht. Ich schaffe es nicht, seitdem du weggegangen bist. Seitdem ihr weggegangen seid - beide.

Um Cheri eine Antwort zu geben, selbst, wenn ich nicht reden kann, werfe ich einen Schild über alle, lasse den Wind an uns vorbeiwehen und den Schnee von uns abperlen. Nur die Kälte kann ich für den Moment nicht bremsen - denn ich besitze kein Feuer, keine Wärme. Nicht diese Art.

Stumm deute ich Richtung Norden, ehe ich den ersten Schritt mache. Und sie alle folgen mir ohne zu klagen.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt