Zweiundzwanzig

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Lucien

Je näher ich den Stadtmauern komme, desto langsamer werden meine Schritte. Ich habe mich getäuscht.

Die Stadtwache ist gar nicht nervös, weil ein Fremder in dunklem Umhang näherkommt.

Oh nein, die Wahrheit liegt meilenweit entfernt davon.

Die Stadtwache ist nervös, weil da zwei vollkommen verunstaltete, blutbesudelte Leichen neben ihnen an die Mauer angenagelt worden sind. Daneben steht in ihrem eigenen Blut geschrieben Verräter der Eiskönigin. Dem Zustand der Leichen nach zu urteilen, hängen sie schon eine gewisse Zeit lang dort an den Stadttoren. 

Für einen Moment schließe ich die Augen und unterdrücke einen lauten Fluch. Was bei allen Höllen hat dich geritten, Snow, dass du einen so offensichtlichen Fehler begehst? Das Volk hat bereits gegen einen wahnsinnigen, sadistischen König zu kämpfen, der sich in einem fremden Land als Herrscher aufführt. Dass du jetzt eine derartige Botschaft an alle Bürger da draußen sendest...

Denn natürlich wird man die Blutsbande zwischen Snow und ihrem Vater ausnutzen. Der König von Luna ist übergeschnappt - nun wird das Volk denken, dass Snow es auch ist. Ich meine bereits zu hören, wie die Bürger flüstern werden: Sie sind immerhin verwandt. Das liegt in der Familie. Sie sind verflucht.

Snow, Snow - was hast du dir dabei nur gedacht? Ist dir denn nicht klar, welche Folgen das haben wird? Wie soll es weitergehen, wenn du erst einmal deinen Vater vom Thron gestoßen hast? Wenn dein Volk gegen dich rebelliert - wer soll dann regieren?

Normalerweise hätte ich ja vermutet, dass jemand anderes Snows Ruf schädigen wollen würde. Dass jemand anderes diese beiden Männer hingerichtet und ein Exempel in ihrem Namen statuiert hat, ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung. Nur leider ist unverkennbar, dass diese Männer von Splitterklingen aus Eis durchbohrt und zerfetzt worden sind - ich kenne die Spuren, die Snows Macht hinterlässt. Ich habe sie an ihr selbst gesehen, als ihre Macht sich gegen sie selbst gerichtet hat. Noch immer verfolgt mich das schaurige Bild in meinen Träumen.

Damit werde ich mich später befassen müssen, beschließe ich. Für den Moment muss ich in die Stadt gelangen und Vorräte beschaffen. Neben den grundlegenden Dingen, wie Nahrungsmittel und Notfallversorgung, benötige ich außerdem Neuigkeiten und Informationen, wie sich der König von Luna verhält. Was er plant. Wie er vorgeht. Und vor allem - ob man von Snow etwas gehört hat. Wobei ich Letzteres nicht anzweifeln sollte, bei der Warnung, die sie an diesen Stadttoren angebracht hat.

Vor der Stadtwache ziehe ich mir meine Kapuze noch tiefer ins Gesicht. "Kein schöner Anblick, wie?", deute ich mit dem Kinn in Richtung Leichen und versuche erst gar nicht zu verstecken, wie mich der Anblick innerlich aufwühlt. Mein Tonfall ist laut, gepresst, und voller Bitterkeit.

"Schlimmer als der Anblick ist der Gestank", verzieht einer der Wächter das Gesicht.

Überrascht lege ich den Kopf schief. "Wie lange hängen sie denn schon dort?", frage ich nach. Wenn die Leichen schon ihren verwesenden Gestank absondern, muss es sich um eine längere Zeitspanne handeln als ich zuerst angenommen habe.

Wieder scharrt der Wachposten mit den Füßen. "Eine Woche", brummt er angewidert.

Ich antworte mit einem mehr als knappen Nicken. Dann stecke ich die Hände wie beiläufig in meine gefütterten Manteltaschen und lege den Kopf leicht in den Nacken. Die Stadttore sind höher als gedacht. Ich würde wohl drei-, wenn nicht sogar viermal hineinpassen, was die Höhe betrifft. Während der gesamten Zeit über achte ich unauffällig darauf, dass mein Gesicht trotzdem noch im Schatten meiner Kapuze liegt. "Also, äh", beginne ich unsicher, "Darf ich hinein? Ich bin seit Wochen in dieser Eiseskälte unterwegs und hatte gehofft, hier dem Wind zu entfliehen." Nicht die ganze Wahrheit - aber auch keine vollkommene Lüge.

Argwöhnisch mustert mich der Wachposten, mit dem ich den kleinen Plausch gehalten habe. Sein Schichtpartner umklammert die Lanze in seiner Hand fester, als ich einen Blick auf das Wappen an ihrer Kleidung werfe. Ein Wolf vor silbernem Hintergrund. Lunas Wappen. Lunas Wachposten. Noch kann ich mir nicht sicher sein, dass sie nicht zu dem Suchtrupp gehören.

Nach einer intensiven Musterung legt der Wächter den Kopf schief. "Ich denke zwar nicht, dass du eine Bedrohung darstellst, aber ich muss mich an meine Anweisungen halten. Name, Herkunft und Grund des Kommens?"

Ich überlege nicht lange und zucke mit den Achseln. "Das verstehe ich. Mein Name ist Leo, ich bin Schmied in Sol gewesen, aber bei den vielen Unsicherheiten dort mache ich kein gutes Geschäft. Daher bin ich nach Luna gekommen, in der Hoffnung, hier mehr Waren verkaufen zu können."

Der Wächter vor mir nickt und dreht sich um, um die Tore für mich öffnen zu lassen, aber sein Schichtpartner hält ihn auf. Misstrauisch richtet er seinen Blick auf mich. Ich bleibe ganz lässig, lasse zu, dass er mich von oben bis unten mustert.

"Du sagst, du bist Schmied? Zeig mal her, deine Waren", fordert er mich auf. Offenbar glaubt er mir meine Geschichte nicht und will einen Beweis sehen...

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt