Lucien
Jemand stützt mich und schleppt mich durch den Schnee.
"Wag es jetzt ja nicht, zu sterben, Lu", knurrt eine mir vertraute Stimme. "Nicht, nachdem ich dich endlich wiedersehe!"
Ich versuche die Augen zu öffnen, aber es will mir nicht gelingen. Noch immer höre ich ein schrilles Piepsen und Klingeln in meinen Ohren, aber ihre Stimme dringt zu mir durch.
Mir kommt ein erschöpftes Ächzen über die Lippen und ihr Griff an meinem Arm wird stärker.
"Ich kann übernehmen, wenn er zu schwer für dich ist!", bietet eine Stimme von der Seite an. Sie muss schreien, um den Wind zu übertönen.
Die Person, die mich stützt - oder viel eher trägt - schüttelt den Kopf. "Du musst dich darauf fokussieren, das Eis von uns fernzuhalten!", lehnt sie ab.
"Verstanden!", ist die gekeuchte Antwort.
Erst jetzt werde ich mir der Wärme in meinen Gliedern bewusst. Jemand hält das Eis von mir fern - jemand mit Eismacht - und jemand die Kälte - jemand mit Feuermacht. Eine Erkenntnis will sich mir aufdrängen, aber ich bekomme sie nicht zu fassen. Ich bin noch zu verwirrt.
Im nächsten Moment rückt alles in meiner Umgebung wieder in weite Ferne...
Als ich wieder zu Bewusstsein komme, ist es weit ruhiger um mich herum. Kein Brausen, kein Klingeln, kein Piepsen. Auch kann ich meine Augen wieder öffnen und meine Glieder spüren.
Stöhnend richte ich mich schwungvoll auf. Wo bin ich?
Um mich herum sehe ich nichts - gar nichts. Es ist stockdunkel - ich kann nichts erkennen, nicht einmal meine Hand vor Augen. Ich sehe nicht eine einzige Lichtquelle weit und breit - normalerweise würde man doch zumindest den Sternenhimmel erkennen können, aber nicht einmal der ist für mich sichtbar.
Es herrscht Windstille und es ist erschreckend still. Was geht hier vor?
"Gut. Du bist aufgewacht", ertönt eine leise Stimme von der Seite. Als ich herumwirbeln will, sticht mir eine Schmerzwelle durch den Kopf, sodass ich beinahe wieder das Bewusstsein verliere. Keuchend halte ich inne und atme tief ein und aus.
Eine Flamme leuchtet in der Finsternis auf. Aus dem Augenwinkel betrachte ich die Person, die neben mir sitzt. Es ist ein kleines Mädchen mit mitternachtsschwarzem Umhang. Das Feuer beleuchtet ihr Gesicht auf unheimliche Weise von unten - die obere Hälfte ihres Gesichts liegt im Dunkeln. Sie erinnert mich stark an das Mädchen, das mir in der Stadt freundlicherweise die Wirtstochter abgenommen hat.
"Wo bin ich?", krächze ich heiser. Alles um mich herum dreht sich und ich weiß kaum mehr, wo oben und unten ist. "Warum ist es so dunkel?"
Sie seufzt leise. "Weil die Dunkelheit das Element unserer Feinde ist - und sie nutzen es weise. Wir befinden uns nicht weit entfernt von der Basis der Sturmkönigin."
Sturmkönigin. Basis. Die Festung, zu der Snow unterwegs war? Als ich versuche mich zu bewegen, schießt eine weitere Schmerzwelle durch mich hindurch und ich schreie heiser auf.
Ein Schnalzen. "Das kommt davon, wenn man so rücksichtlos und hoffnungslos dumm ist, dass man es alleine mit einem Sturm aufnehmen will", klagt mich das Mädchen spöttisch an.
"Was ist passiert?", hauche ich, als ich wieder halbwegs reden kann, denn der Schmerz raubt mir beinahe die Sinne.
"Du bist beinahe gestorben, das ist passiert", erklärt sie. In ihrem Tonfall schwingen sowohl Spott als auch Bitterkeit mit. "Und deswegen wirst du dir nach der Schlacht noch eine ordentliche Standpauke anhören dürfen. Mach dich besser darauf gefasst."
Schlacht. Was für eine Schlacht?
Ich will gerade fragen, als mir das Mädchen eine Schale hinhält. "Trink das. Es wird deine Schmerzen mindern. Und bevor du fragst - nein, es ist nicht vergiftet, und ich habe nicht vor, dich umzubringen. Die Götter mögen denjenigen behüten, der es versucht", lacht sie wieder leise.
Offenbar gibt es jemanden, der sich um mein Wohlergehen sorgt - jemand, vor dem man Angst haben sollte. Interessant. In einem Zug kippe ich das Zeug hinunter und unterdrücke ein Würgen. Es schmeckt widerlich - aber das tun so gut wie alle Heilmittel leider.
Ich spüre sofort, wie der Schmerz in mir nachlässt. Probeweise beschwöre ich eine kleine Flamme in meiner Hand herauf. Sie brennt lichterloh und ein neues Gefühl an Energie durchströmt mich.
"Du sagtest etwas von einer Schlacht", greife ich meine ungestellte Frage wieder auf und erhebe mich von dem Schneeboden. "Welche Schlacht - mit welchen Feinden?"
Dafür ernte ich ein enttäuschtes Kopfschütteln. "Gerade erst wieder mit beiden Beinen im Leben und schon willst du es wieder wegwerfen." Abschätzig schnalzt sie mit der Zunge.
Gleichgültig zucke ich mit den Achseln. "Dann eben keine Informationen", winke ich ab und nutze die Flamme in meiner Hand als Fackel, ehe ich mich in die undurchdringliche Dunkelheit aufmache.
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Storming Light
Fantasy↬ Wenn Leben und Tod kollidieren...↫ ...Ich will nicht sterben. Das ist alles, woran ich denken kann. Als er mich ansieht, fährt ein schmerzhafter Stich durch mich hindurch. Ich kenne ihn. Ein einziges Gefühlskarussel dreht sich in mir, so plötzlich...