Neunundzwanzig

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Lucien

In einer schmalen, dunklen Seitengasse lasse ich die Wirtstochter von meinen Armen auf den Boden gleiten. Sie scheint noch immer ein klein wenig neben der Spur zu sein wegen der Geschehnisse, aber zumindest schreit sie nicht. Das ist doch schon einmal ein Anfang.

Mittlerweile ist es tiefe Nacht - der Mond ist aufgegangen. Ironischerweise ist es Vollmond, was bedeutet, dass man die Reisenden zu dieser Uhrzeit auf den Straßen besonders gut erkennen kann. Keine gute Zeit für eine stille, heimliche Flucht. Naja, da lässt sich nichts machen.

Ich ziehe den Koffer unter meiner Kleidung hervor und breche ihn kurzerhand auf. Darin liegt ein weißer Umhang mit goldenen Fragmenten, und darauf wiederum ein aufgebrochener Briefumschlag. In fein säuberlicher Schrift steht geschrieben:

An Snow und Ice, meine geliebten Kinder.

Von Cynthia.

Ich wage nicht, den Brief aus dem Umschlag herauszuholen. Das ist eine private Botschaft von Snows Mutter an sie und ihren verstorbenen Bruder. Soweit ich weiß, ist sie bei Snows und Ices Geburt gestorben. Die einzigen Erinnerungen, die sie ihnen hinterlassen hat, waren Lieder, vorgetragen von ihren ehemaligen Dienerinnen und kurze, versteckte Briefe.

Das habe ich zumindest aus einer verlässlichen Quelle gehört.

Ich schmelze den Koffer wieder zu und richte mich auf. Die Wirtstochter scheint vollkommen am Ende ihrer Kräfte zu sein. Müde sackt sie entlang der Wand zu Boden und starrt mich mit großen Augen an. Noch immer kommt kein Ton über ihre Lippen, obwohl sie mich schon die ganze Zeit über mit offenem Mund anstarrt.

Wird wohl besser so sein. Denn wenn sie erst einmal mit der Fragerei anfangen würde - was sollte ich ihr antworten? Tut mir leid, da waren finstere Kerle die das letzte Andenken eines Verwandten meiner großen Liebe für viel Geld verschachern wollten? Wohl kaum. Dann würde sie mich erst Recht verpetzen - und ich könnte es ihr nicht einmal verdenken. Ich habe ihr Hoffnung gemacht, während ich Snow nicht aus dem Kopf bekomme und das war mein Fehler. Ich kann nur hoffen, dass er mir nicht zum Verhängnis wird.

"Was mache ich jetzt nur mit dir?", murmele ich leise vor mich hin. Zurückbringen kann ich sie nicht. Man würde sie für die Mörderin halten - oder für eine Komplizin. Das wäre ihr Untergang.

Mitnehmen kann ich sie auch nicht. Nicht, wenn Snow mich wahrscheinlich umbringen wird, kaum, dass sie mich erblickt. Auf den Straßen kann sie aber auch nicht bleiben - da treiben sich zu viele düstere Kerle herum...

"Ich kann mich um sie kümmern", ertönt eine Stimme neben mir auf einmal.

Erschrocken zucke ich zusammen, wirbele herum und habe meinen Dolch sofort kampfbereit erhoben.

Neben mir steht ein kleines Mädchen - ihr Gesicht kann ich nicht erkennen, weil sie einen nachtschwarzen Umhang trägt und dessen Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat, aber ihre Stimme war definitiv weiblich. Unbeeindruckt von meiner Reaktion steht sie still da. Die Art und Weise, wie sie sich vollkommen reglos halten kann, erscheint mir schon nahezu unmenschlich.

"Wer bist du?", frage ich, während ich mich langsam entspanne, sie aber trotzdem noch wachsam im Auge behalte.

Das Mädchen schüttelt den Kopf. "Das ist unwichtig. Du musst weiterziehen, kannst sie aber weder mitnehmen noch hierlassen." Keine Frage. Sie ist erstaunlich scharfsinnig. Das macht sie für mich noch verdächtiger. "Ich kann dir diese Last abnehmen und mich um sie kümmern."

"Wieso sollte ich dir vertrauen?" Argwöhnisch betrachte ich sie. Ihr Aussehen ist allerdings derart unscheinbar, dass ich rein gar nichts erkennen kann.

Sie legt den Kopf schief und die Geste erinnert mich bei ihr an einen Raubvogel, der sein Ziel taxiert. "Es gibt keinen Grund, weshalb du mir vertrauen solltest. Aber sie ist für dich eine Last, die du loswerden musst, wenn du dein Ziel erreichen willst. Ich sehe das Problem dabei nicht, sie mir anzuvertrauen."

Ein Punkt für sie. "Woher kann ich mir sicher sein, dass du dich gut um sie kümmern wirst?", wende ich ein.

"Was sollte ich ihr schon antun? Ich bin nur ein Kind, das gelernt hat, auf den Straßen zu leben", spottet sie bitter.

Sie ist mir wirklich nicht ganz geheuer. Die Art und Weise, wie sie sich lautlos bewegen kann, wie sie sich reglos halten kann, wie sie redet und sich verhält, als sei sie weit älter, als sie aussieht... Ich komme nicht umhin, ihr zu misstrauen. Auf der anderen Seite hat sie Recht.

"Na gut", wende ich ein, "Wenn sie auch keine Probleme damit hat." Fragend drehe ich mich zu der Wirtstochter um.

Sie sieht erschrocken zwischen uns beiden hin und her.

Das kleine Mädchen mit dem Umhang geht ruhig auf sie zu und hält ihr einen Keks hin. "Willst du lieber mit einem flüchtigen Mörder reisen, oder mit einem unschuldigen Kind zu einem warmen Plätzchen gehen, das einzig und allein für uns Heimatlose erbaut worden ist?"

Die Art, wie sie unschuldig betont, gefällt mir nicht. Ich muss allerdings zugeben, mir gefällt alles an der Situation nicht. Wobei ich meine Sorge um das Wohlergehen der Wirtstochter selbst nicht verstehe. Vielleicht ist es ein erbärmlicher Versuch meines Unterbewusstseins, mein schlechtes Gewissen zu mildern, weil ich ihr Leben zerstört habe.

So oder so - die Wirtstochter ergreift den Keks des kleinen Mädchens dankbar. Das ist Antwort genug.

Und damit steht mir der Weg frei, nach Snow zu suchen und ihr die letzten Andenken ihrer Verstorbenen zu bringen - ehe sie mich töten wird.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt