Fünfunddreißig

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Snow

Ich will nicht sterben.

Es ist ein Mantra in meinem Kopf.

Ich will nicht sterben.

Es ist ein Ruf, ein Schrei, der aus mir herausbricht.

Ich will nicht sterben.

Es ist ein Gebet, das ich an wen auch immer schicke.

Ich will nicht sterben.

Ich will nicht sterben.

Ich will nicht sterben.

Licht blitzt hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Ein lauter Knall ertönt, dessen Lautstärke ein Klingeln in meinen Ohren verursacht, eine Druckwelle schleudert mich hart gegen die Wand, an die mich ohnehin schon presse, als wolle ich mit ihr verschmelzen...

Dann Stille. Nichts rührt sich. Der Geruch von Gesteinsstaub kitzelt meine Nase, ebenso wie der unverkennbare Duft von Glut, Asche und Rauch.

Ängstlich öffne ich zögerlich die Augen. Die Finsternis ist wieder zurückgekehrt. Aber nicht vollständig - nicht vollständig, denn da ist jemand, mit einer Flamme in der Hand, als würde er eine Fackel tragen... Jemand mit feuerroten, langen Haaren.

Hustend richtet er sich auf und schüttelt einiges von dem Staub von sich ab. Er zieht eine Grimasse und dreht sich keuchend zu mir um.

Als er mich ansieht, fährt ein schmerzhafter Stich durch mich hindurch. Ich kenne ihn.

Ein einziges Gefühlskarussel dreht sich in mir, so plötzlich und mit so einer Intensität, das mir schwindelig wird und ich gar nicht weiß, wie ich mich verhalten, wie ich mich fühlen soll...

Ich bin glücklich, ihn wohlauf wiederzusehen.

Ich bin besorgt, weil er über und über mit Blut und Gesteinsstaub bedeckt ist.

Ich bin wütend, weil er sich gegen meine Drohung gestellt hat.

Ich bin voller Liebe, weil er mich vor dem sicheren Tod gerettet hat.

ich bin voller Hass, weil er für den Tod von Ice mitverantwortlich war.

In erster Linie bin ich aber überwältigt.

Überwältigt davon, ihn wiederzusehen, überwältigt davon, dass ich noch lebe, überwältigt davon, dass es ein Licht in dieser allumfassenden Dunkelheit gibt - und dass es niemand geringerer als Lucien Goldlöwe ist, der dieses Licht verkörpert.

Vor Erleichterung knicken meine Beine unter mir weg und ich sinke kraftlos auf die Knie.

Ich bin gerettet.

Ich lebe.

Ich lebe.

Ich lebe!

Ein Vogelruf ertönt um die Ecke. Lucien richtet sich wachsam auf und schickt einen anderen Vogelruf als Antwort zurück, während er mich nicht aus den Augen lässt.

Ich muss erbärmlich aussehen. Vollkommen verheult, mit nasser Hose, zerzausten Haaren, wahrscheinlich noch leichenblass... Aber es ist mir in diesem Moment egal. Ich will nur raus hier. Ich will nur raus aus dieser Dunkelheit, aus diesem Alptraum, aus dieser Schreckensnacht.

Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn ich mir das alles nur einbilde?

Was, wenn mein Verstand mir einen grausamen Streich spielt, weil ich solche Angst vor dem Tod habe? Oder bin ich vielleicht sogar schon tot? Mein Herz rast wie verrückt - aber ist das wirklich noch mein Herz oder doch nur Einbildung?

All diese Sorgen verschwinden, als er mich zögerlich angrinst. "So sieht man sich wieder, Flöckchen", flüstert er leise.

Als Antwort schluchze ich nur laut und starre ihn an, unsicher, ob ich dieser Hoffnung wirklich nachgeben darf.

Ruhig und gelassen kniet er sich vor mich hin. "Wir haben nicht viel Zeit bis diese Wesen nachsehen, was aus ihrem Freund geworden ist. Wir müssen uns irgendwo verstecken, Snow, nur für kurze Zeit", redet er sanft, aber eindringlich auf mich ein.

Nein, selbst, wenn das alles nur ein Streich ist und gar nicht real - ich will es genießen. Ich will zur Ruhe kommen.

Ich bin derart überfordert von allem, dass ich einfach meine Arme um seinen Hals schlinge und mich an ihm festhalte, während mir endlos Tränen über die Wangen strömen. Ich bin so müde. Ich habe das alles sowas von satt - das Hassen, das Denken, das Rächen, das Spielen, das Kämpfen... Erschöpft schmiege ich mein Gesicht an seine Brust und weine einfach hemmungslos. Es ist schon ein Wunder, dass ich überhaupt noch so viele Tränen besitze, nachdem ich mich nun schon zwei Mal eingenässt habe.

Tröstend streicht er mir über den Rücken, lässt die Flammenfackel über unseren Köpfen schweben und nimmt mich kurzerhand auf die Arme, ohne einen Kommentar wegen meiner nassen Hose von sich zu geben. "Wir brauchen einen ruhigen Ort", erinnert er mich sacht und ich sehe ihm an, wie er mit sich ringt, da er mir gerade einfach nur beistehen will, es aber nicht kann, ehe wir temporär außer Gefahr sind.

Ich reiße mich so sehr zusammen, dass ich mich auf das Problem fokussieren kann. Ein ruhiges Plätzchen. Innerhalb der Festung. "Nächster Flur rechts, zweite Tür links", wispere ich. "Ein leerstehendes Gästezimmer."

Dankbar nickt er und macht sich auf den Weg.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt