Vierzig

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Snow

Ich drücke mich mit dem Rücken flach gegen die Wand und halte die Luft an. Jede Sekunde zählt - wir können es uns nicht erlauben, zu trödeln.

Als ein Vogelruf ertönt, husche ich um die Ecke des Flures und packe die sich nähernde Silhouette einer Person. Es handelt sich um einen Soldaten aus meinem Trupp - seine Kleidung ist blutbespritzt, seine haut leichenblass, seine Augen weit aufgerissen und rot von den vielen Tränen, die er schon geweint hat. Ich kann ihn verstehen. Ich selbst habe bis vor Kurzem noch so ausgesehen.

Für einen Moment starrt er mich ausdruckslos an, dann blitzt Erkennen in seinen Augen auf und ihm bleibt der Mund offen stehen, nachdem sein Blick hinter mich geglitten ist. Seiner Reaktion nach zu urteilen, hat Lucien wohl auch schon seinen Part erledigt.

Ein Blick über die Schulter bestätigt meine Vermutung - der Prinz von Sol lehnt lässig an der Wand hinter mir und grinst träge, seine magische Fackel in der Hand. Er zwinkert mir zu - das soll wohl bedeuten, dass alles gut gegangen ist -, und deutet dann mit einer Kopfbewegung weiter, den Flur entlang.

Ich nicke ihm bestätigend zu, er dreht sich um und macht sich auf den Weg. "Ich erkläre es später", flüstere ich dem Soldaten so leise zu, dass ich mich selbst kaum hören kann. Er nickt nur stumm und folgt uns.

Auf dieselbe Weise retten wir ein halbes Dutzend Soldaten, während wir durch die Festung schleichen und die für unseren Plan notwendigen Punkte mit Eisspiegeln versehen - ich ergreife die Hände derer, die in der Finsternis ziellos umherstreifen, und Lucien vernichtet in der Zwischenzeit die Kreaturen, die es auf die Wandernden abgesehen haben.

Dadurch, dass ich von meinen Leuten umgeben bin, fühle ich wieder die schwere Verantwortung auf meinen Schultern - deutlicher, als je zuvor. Ich werde Lucien gegenüber immer schweigsamer und kühler, distanzierter. Er dagegen erhält mühsam seine lässige Fassade aufrecht. Ich weiß, dass es ihn in Wirklichkeit tief verletzt und vielleicht auch verunsichert - aber ich kann vor meinen Soldaten keine Schwäche zeigen. Wenn sie sehen, dass ich abhängig von jemandem bin, der mein eingeschworener Todfeind sein sollte, werden sie mir den Rücken kehren und mich alleine dastehen lassen - alleine gegen meinen Vater, alleine gegen die Ungerechtigkeit, alleine gegen die Ungleichheit, alleine gegen die gesamte verdammte Welt.

Als wir den letzten Punkt erreichen und ich den letzten Spiegel platziert habe, atme ich tief durch. Mir ist schwindelig und mein Kopf pocht stark vor Schmerzen, aber ich darf nicht zusammenbrechen. Nicht hier, nicht vor aller Augen.

Lucien behält mich im Blick wie ein Raubvogel. Obwohl er zweifellos merkt, dass ich erschöpft bin, widersteht er dem Drang, mich zu stützen - er respektiert meine Position vor den anderen. Ich kann nicht anders, als ihm das hoch anzurechnen.

Er gibt uns ein Zeichen und wir treten alle einige Schritte von ihm und dem Spiegel zurück. Nachdem er sich ebenfalls in Position gebracht hat, kanalisiert er noch mehr Licht in seiner magischen Fackel, sodass sie gar nicht mehr wie ein Feuer aussieht, sondern eher wie ein purer Ball aus Licht. Ein Ball, den er gegen den Spiegel stoßen lässt - und der daraufhin kein Ball mehr, sondern viel eher ein Strahl aus Licht ist.

Dieser Lichtstrahl wird von der Spiegelfläche reflektiert und trifft durch unsere genauen Berechnungen auf einen anderen Spiegel, an einem anderen Punkt, etwas weiter entfernt, und dieser reflektiert den Strahl zum nächsten, und so weiter, bis ein Netz aus Licht durch die gesamte Festung gespannt ist und die Schatten regelrecht wegbrennt - samt den Kreaturen, die sich darin verstecken wollten. Lautes, schrilles Kreischen ist in der gesamten Festung zu vernehmen, ebenso wie erstaunte Aufschreie und ehrfurchtsvolle Laute.

Mit einem kleinen Lächeln dreht sich Lucien zu mir um. Seine Silhouette, die von hinten von den Lichtstrahlen beleuchtet wird, verschlägt mir die Sprache und lässt meinen Magen verkrampfen. Er sieht aus wie ein Heiliger, wie ein Gottesgesandter.

Und seine Augen...

Seine Augen...

Sie leuchten. Sie strahlen. Sie sind nicht länger rotbraun, wie davor, sondern... Ein Mix aus geschmolzenem Gold und Kupfer. Luciens zweite Gabe ist das Licht, und es lässt seine feuerroten, langen, zurückgebundenen Haare schimmern wie ein Regenbogen.

Gemurmel erhebt sich hinter mir, als Lucien mich wild angrinst. Seine Freude lässt das Licht hinter ihm und das Licht in seinen Augen noch heller erstrahlen. Er streckt einladend eine Hand nach mir aus, und obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte, ergreife ich sie automatisch. Es ist, als ob ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle habe.

Als meine eiskalte Hand seine heiße Haut berührt, geht ein intensives Kribbeln durch mich hindurch, das ich noch nie gespürt habe. Mein Sturm, mein Wind, vereint sich mit seinem Licht und trägt es noch weiter, bis keine einzige Ecke in der Festung mehr dunkel ist und ich das Gefühl habe, ich hätte in die pure Sonne geblickt - allerdings ohne zu verbrennen, denn es ist auch mein Wind, der für Schutz und angenehme Kälte im Kontrast zu der brennenden Hitze von Lucien sorgt.

Als seine Augen sich ehrfürchtig weiten, weiß ich, dass meine Augen ebenfalls angefangen haben zu glühen, und mein schneeweißes, offenes, polanges Haar in einer sanften Brise hinter mir weht und sauber und rein funkelt.

Ich höre Geraschel hinter mir, aber ich kann meinen Blick einfach nicht von Lucien lösen, ebenso wie ich seine Hand einfach nicht loslassen kann. Zu angenehm und erfrischend ist das Gefühl, meine kalte Haut an seiner zu wärmen.

Er zieht mich grinsend näher an sich heran und legt einen Arm um meine Taille. Mit Blick hinter mich flüstert er mir mit funkelnden Augen ins Ohr: "Sieht ganz so aus, als hätte ich die Herzen deiner Leute erobert. Sie betrachten mich offenbar schon als so gut wie verheiratet mit dir."

Seine plötzliche Aussage holt mich mit einem Schlag zurück in die Realität und ich drehe mich um.

Die Soldaten, die wir gerettet haben, haben sich alle auf die Knie fallen lassen und starren uns vom Boden aus mit großen Augen an. "Königin Snow - und König Lucien", hauchen sie ehrfürchtig. Mir verschlägt ihr Verhalten die Sprache.

Ich versuche von Lucien wegzukommen, als mir bewusst wird, was wir für ein Bild abgeben müssen, aber sein Griff um meine Taille ist so fest, dass ich von ihm nicht abrücken kann. Es ist nicht so, dass er mir wehtun würde - er unterbindet nur jeglichen Widerstand von mir.

Die anderen Menschen, die den Lichtstrahlen bis zum Ursprung gefolgt sind, strömen zu den knienden Soldaten und lassen sich ebenfalls auf dem Boden nieder, während sie Lucien und mich regelrecht vergöttern. Ihr Flüstern wird immer lauter, bis es schließlich irgendwann ein Ruf wird, und es gibt niemanden unter ihnen, der schweigen würde - sogar die Wilden haben sich vor uns auf die Knie fallen lassen.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt