Sechsunddreißig

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Snow
Lucien trägt mich auf seinen Armen in das Gästezimmer hinein, während ich mich hemmungslos wie ein kleines Kind an seiner Brust ausweine.

Er ist der Erste, vor dem ich es mir erlaube, Schwäche zu zeigen, der Erste, neben meiner anderen Hälfte, die nicht mehr existiert...

Ich verdränge den Gedanken. Jetzt ist nicht die Zeit, alten Geschehnissen nachzutrauern. Wir müssen gerade mehr denn je zusammenhalten - und wo wäre ich bitte schön, wenn Lucien mich nicht gerettet hätte? Bestenfalls tot.

Die vertrauten vier Wände helfen mir, wieder zur Ruhe zu kommen. Zwar ist es nicht mein Zimmer, aber diese Gästeräume sind allesamt gleich aufgebaut und Luciens schwebende Flammenfackel vertreibt die Dunkelheit so weit, dass man nahezu den ganzen Raum überblicken kann, so, wie es in jeder anderen normalen Nacht möglich wäre.

Innerhalb dieser wenigen Minuten ist auch die Tränenspur auf meinen Wangen eingetrocknet und hinterlässt ein träges Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung. Trotzdem vergrabe ich mein Gesicht noch immer an Luciens Brust und atme tief seinen beruhigenden Duft nach Asche und Glut ein.

Als er mich wieder runterlässt, befinden wir uns im Badezimmer, und er legt mich in die Badewanne hinein. "Ich dachte mir, du möchtest dich vielleicht hübsch machen, bevor wir auf dramatische Weise dein Hauptquartier von diesen Viechern säubern", erklärt er mit einem neckenden Schmunzeln und einem demonstrativen Blick auf meine eingenässte, stinkende Hose, als ich ihn fragend ansehe.

Er hat Recht, das weiß ich, und er sagt es auch nicht, um mich zu verspotten - es ist viel eher eine Einladung. Eine Einladung zu einem Wortgefecht als Ablenkung, um zumindest zu einem Stück zurück zur Realität zu finden. Und ich nehme dankend an.

Während ich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkneife und ihn in den harten Unterarm zwicke, werfe ich ihm einen niederschmetternden Blick zu und recke das Kinn ein wenig höher.

Er grinst nur scheinheilig, lässt mich los, richtet sich auf und dreht sich um. Als er Anstalten macht, wegzugehen, hechte ich nach vorne und packe ihn an einem Zipfel seines Mantels. "Ich will jetzt nicht... allein sein", erläutere ich mein Verhalten mit erstickter Stimme.

Nicht nach diesen Ereignissen. Nicht nachdem ich alleine durch die Festung irren musste. Nicht nachdem ich nicht weiß, wo Cheri und Freedom sind, wie es ihnen geht, was passiert ist. Wer oder was diese Wesen sind. Wem sie unterstehen. Worauf sie es abgesehen haben. Danach werde ich noch fragen müssen. Später.

Denn all diese Fragen verschwinden aus meinem Kopf, treten in den Hintergrund, als Lucien ein anderes Thema anschneidet.

Langsam dreht er sich um und starrt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, nachdem ich ihn losgelassen habe. "Schlägst du gerade tatsächlich vor, dass ich dir dabei zusehe, wie du dich nackt wäschst? Und du erwartest wirklich, dass ich da tatenlos bleibe?", hakt er ungläubig nach. Das hungrige Feuer in seinen Augen löst gleichzeitig eine Gänsehaut bei mir aus und erregt mich.

Offenbar merkt man es mir an, denn seine Augen werden ein wenig glasig, als er seinen Blick über mich gleiten lässt. Langsam. Von oben bis unten. Ohne eine Stelle auszulassen. "Wir sind beide keine unbestückten Kinder, Snow", gurrt er mit rauer Stimme. Dann zwinkert er mir zu und grinst breit. "Wobei ich zugeben muss, dass ich wohl mehr zu bieten habe, wenn es darum geht, seinen eigenen Körper einzusetzen."

Ich fühle, wie meine Wangen anfangen zu brennen. Empört springe ich auf. "Natürlich sollst du mich nicht dabei anstarren, wie ich dusche!", fahre ich auf, aber meine Stimme klingt trotzdem ein wenig zu schrill und atemlos. "Du sollst nur im Raum bleiben - da, wo ich dich sehen kann! Und wehe, du spickst!"

Er versucht es lässig und verspielt wirken zu lassen, als er über meine heftige Reaktion gegen seinen Vorschlag lacht, aber ich kann die Rauheit und das Verlangen dahinter erkennen. "Schade", neckt er mich, als er mir den Rücken zudreht, wie ich es erbeten habe.

Etwas in meinem Inneren, von dem ich mir nicht ganz so sicher bin, ob ich es reizen und erkunden will, tendiert dazu, ihm zuzustimmen und unwillkürlich schießt mir eine Frage durch den Kopf, die für mich plötzlich mehr Gewicht trägt, als sie sollte.

Wenn ich seinem Vorschlag zugestimmt hätte - hätte er mich dann wirklich auf diese Weise berührt? Ausgerechnet jetzt?

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt