Achtunddreißig

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Snow

Während ich mir Unterwäsche - und damit meine ich normale, und nicht das Spitzenzeugs, das Lucien mir andrehen wollte - und die neue Hose überstreife, die Lucien mir zugeworfen hat, rattern in meinem Kopf die Fragen, die ich ihm unbedingt stellen muss. Aber Dinge wie Warum bist du zurückgekehrt oder Liebst du mich noch immer erscheinen mir in diesem Moment unpassend und vergleichsweise unwichtig.

Also stelle ich stattdessen eine wichtige Frage. "Wer oder was sind diese Wesen - und worauf haben sie es abgesehen?"

Lucien schweigt für einige Sekunden nachdenklich, dann seufzt er. "Wir wissen nicht viel. Offenbar handelt es sich um künstlich erschaffene Geschöpfe, eine Art Versuchskaninchen, und dieser Angriff hier ist das erste Experiment. Sie fürchten sich vor Licht, da es sie zu Staub zerfallen lässt - frag mich nicht wie oder warum -, und daher werfen sie ein Netz aus Finsternis um sich, in dem sie sich wohlfühlen. Sie besitzen keine Augen, daher sind sie perfekt für Operationen aus der Dunkelheit heraus geeignet, und diese Finsternis lässt sich von keiner gewöhnlichen Lichtquelle aufwirbeln. Nur Magie kann hindurchdringen", erklärt er ernst.

"Wir?", unterbreche ich ihn aufmerksam.

Lucien hält inne und schneidet eine Grimasse, während er einen leisen, gemurmelten Fluch ausstößt, den ich nicht verstehen kann. "Ja, wir", bekräftigt er dann. "Ich bin nicht alleine hier, um dich und deine Leute aus dem Schlamassel zu ziehen." Warnend hebt er eine Hand und sieht mir tief in die Augen, nachdem ich mich fertig umgezogen habe. "Ich werde keine weiteren Fragen dazu beantworten. Du solltest mit eigenen Augen sehen, wer dich retten gekommen ist."

"Ich hasse Überraschungen", murre ich trotzig.

Lucien grinst. "Dann wird diese die Erste sein, die du lieben wirst."

Seufzend gebe ich nach. "Du hast meine Frage nicht beantwortet - was wollen diese Wesen? Wem unterstehen sie?"

Ein spöttisches Schnauben. "Wir beide wissen, wem sie unterstehen, Snow. Und wir wissen beide, was er will."

Nicht ganz. Ich meine, ich habe schon geahnt, dass sie meinem Vater unterstehen - das ist auch ziemlich offensichtlich gewesen, da er ja der Einzige zu sein scheint, der einen tiefen Groll gegen mich hegt -, aber ich bin mir über seine Absichten nicht ganz im Klaren.

Er wollte mich heiraten und mich neben sich auf einem Thron sehen - als Marionette, deren Macht er missbrauchen kann. Als Marionette, mit derer Hilfe er das Volk unterdrücken kann. Aber Vater ist ein sehr stolzer Mann - und eben diesen Stolz habe ich zutiefst gekränkt, als ich es geschafft habe, zu fliehen. Will er mich jetzt deswegen umbringen? Oder will er mich trotzdem noch immer versuchen zu brechen und zu missbrauchen? Sollen diese Wesen mich töten, gefangen nehmen oder mir nur eine Heidenangst einjagen, damit ich weinend zurück zu ihm gerannt komme, als sei ich ein kleines Kind?

Und was hat er mit Lucien vor? Vater wollte ihn umbringen lassen - um ein Exempel zu statuieren. Ist das noch immer sein Plan? Oder hat er gemerkt, dass wir eng zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen? Will er ihn jetzt als Geisel nehmen, um mich unter Druck zu setzen - so, wie er es bei Ice all die Jahre lang getan hat?

Ice. Der Gedanke an ihn versetzt mir einen Stich. Sein Verlust hängt mir immer noch an, die Trauer um ihn hat mich noch immer im Griff. Und noch immer begreife ich nicht ganz, weshalb Vater ihn all die Jahre bildlich gesprochen an die Leine genommen und mit meinem Wohlergehen erpresst hat, wenn er meinen Bruder letztendlich doch zum Tode verurteilen wollte.

Für einen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch. Jetzt ist weder die Zeit noch der Ort dafür, rufe ich mir in Erinnerung. Ich habe jetzt wichtigere Dinge zu erledigen - überlebenswichtige Dinge.

"Als wir angegriffen wurden, war Freedom bei mir und kurz darauf haben wir auch Cheri gefunden. Beide sind schreiend in der Dunkelheit verloren gegangen. Denkst du, sie sind...?", wende ich mich leise und mit belegter Stimme an Lucien. Ich bringe es nicht über mich, den Satz zu beenden.

Da ich meine Augen noch immer geschlossen halte, sehe ich seine Reaktion nicht, aber ich fühle, wie die Matratze des Bettes, an dessen Kante ich sitze, nach unten gedrückt wird und ich fühle die Wärme der Umarmung, als Lucien seine Arme um mich schlingt und sein Kinn auf meinen Scheitel stützt. "Es wird alles wieder gut, Snow", besänftigt er mich. "Wir haben uns aufgeteilt, damit wir alle schnellstmöglich den Angriff zu einem Ende führen können. Ich bin mir sicher, sie haben Cheri und Freedom schon gefunden und in Sicherheit gebracht."

Ich nicke schwach und spüre schon wieder, wie mir Tränen über die Wangen laufe. Ich habe selten so viel geweint wie in dieser Nacht, fällt mir auf. Aber ich habe auch selten so große Angst verspürt.

Und einfach, weil ich mich ablenken muss, und diese Frage noch in meinem Kopf schwirrt, spreche ich sie aus. "Was hast du vorhin eigentlich mit dem Wesen angestellt, das mich angegriffen hat?"

Ich kann aus Luciens Stimme noch den Zorn heraushören, als er antwortet. Ein Zorn, der nicht mir gilt, sondern dem Wesen. "Ich habe seine Flügel zuerst einmal mit einer kleinen Flamme geschmolzen, dann habe ich es mit Höchstgeschwindigkeit gerammt und zuletzt habe ich die Steine um es herum erhitzt, sodass es darunter begraben wurde und dabei noch zerfallen ist." Aus seinem Tonfall spricht Genugtuung und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht wegen der Brutalität oder der Macht, die er besitzt - niemals deswegen -, sondern wegen der Mordlust in seiner Stimme. 

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt