Eins

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Stumm und leise schleichen wir durch das große Tor - unser letztes Hindernis, ehe wir auf ein Schiff steigen und fliehen können. Wir müssen nur noch durch dieses Tor - ungesehen, ungehört, ungerochen.

In weiter Ferne erklingt ein trostloses Heulen. Mein erster Gedanke gilt der Gefahr von Wölfen - mein zweiter ist ein spöttisches Kopfschütteln über mich selbst.

In den letzten Stunden ist so viel passiert. Zu viel. Viel zu viel, sodass ich kaum hinterher komme, sodass meine Gedanken nur noch eine einzige Schlammgrube sind, sodass ich den Schmerz und die Wut und die Trauer hinter einer dornenbestickten, windgepeitschten Mauer aus Eis verberge.

Wäre das Eis und der Wind und der singende Sturm nicht, wäre da nicht deine singende Stimme, die mir noch in den Ohren klingt, Ice, wäre da nicht das Knistern der Scheite, das mir in Erinnerung geblieben ist, Bruder, wäre da nicht die kleine Truppe hinter mir, die sich im Schatten der Dunkelheit fortbewegt gemeinsam mit uns - dann wäre ich längst nicht mehr auf den Beinen.

Dann würde ich auf die Knie sinken, weinen und nie mehr auch nur einen Finger rühren. Dann würde ich mich selbst aufgeben, alle meine Träume, meine Ziele, meine Wünsche. Dann würde ich hier einfach sitzen bleiben, alle im Stich lassen, und bald gefunden werden. Dann würde ich vor Vater gezerrt werden, würde mich vor Leere und Stille nicht rühren können, sodass nicht einmal Ketten vonnöten wären, während er meinen Körper besteigt, während er mich entehren würde, während er mich zu seiner Marionette machen würde und frei über unsere Macht verfügen würde.

Es ist viel passiert. Viel zu viel, als dass ich das Ganze jetzt verarbeiten könnte und viel zu viel, als dass ich Zeit hätte, jetzt zu reflektieren und den ganzen Schmerz erneut durchzumachen. In weiter Ferne, auf einem Hügel, den ich weit hinter mir gelassen habe, liegt noch dein verkohlter Leichnam, Ice. Und ausgehend von diesem Zielpunkt ziehen Hunde, riesig und mit scharfen Zähnen, ihre Kreise auf der Suche nach uns. Sie sind darauf abgerichtet, uns zu finden und bewegungsunfähig zu machen.

Wieder ein Heulen - diesmal näher. Die Hunde heulen, weil sie keine Spur finden. Weil sie Hunger haben und sich noch keinen Bissen von uns genehmigen konnten.

Eine kleine Hand zieht an meinem Ärmel. Als ich einen Blick halb hinter mich werfe, sehe ich grasgrün leuchtende Augen, die mich ruhig anstarren. "Wir müssen weiter. Nur noch durch das Tor und auf das Schiff, Snow. Es ist nicht mehr weit, bald können wir uns ausruhen", flüstert sie eindringlich.

Sie hat recht. Ich weiß, dass sie recht hat. Wir müssen weiter, ehe die Hunde uns aufspüren. Ich lasse meinen Blick weiter schweifen, hin zu einem pechschwarzen Augenpaar am Ende unserer Truppe. Sie wirft einen Blick zurück, sieht sich um, dann nickt sie. Keine Verfolger in Sichtweite.

Ich wende mich wieder der Schneelandschaft vor mir zu - der Schneelandschaft, die in der ganzen Hauptstadt von Sol herrscht, als wäre ein riesiger Schneeball explodiert, und die Bürger in Angst versetzt -, versuche, in dem dichten Nebelvorhang meines Schnees etwas zu erkennen, Gestalten, Schatten, Spuren - irgendetwas. Aber da ist nichts.

Ein leiser Abklatsch von Erleichterung durchfährt mich, dringt sachte durch das Schild aus Eis und Wind in meinem Inneren. Ich gebe Freedom mit meinen Fingern ein stummes Zeichen, deute mit dem Kinn nach vorne, warte auf eine Antwort. Für einen Moment verengt sie die Augen, reckt das Kinn in die Höhe - ein Kopfschütteln. Die Luft ist rein - hier ist niemand.

Schnell und leise erhebe ich mich in eine gebeugte Haltung, mache einige Schritte ins Freie und als kein Schrei ertönt, als keine Bögen angelegt werden, als keine Schwerter gezogen werden, da folgt mir der Rest unseres Trupps.

Wir reden kein Wort und geben kein Geräusch von uns, während wir durch den Schnee schleichen, hinüber zum Hafen. Der zerrende Wind, der uns umtost, der mich umtost, dämpft jeden Ton von uns, der fallende Schnee verdeckt unsere Spuren, bevor einer unserer Feinde sie lesen kann. Auf diese Weise muss niemand von uns zurückkehren, um alle Fährten zu verwischen. Auch die Hunde können nicht lange nach uns suchen - der Frost ist unbarmherzig, ein Frost, der auch in mir alles bedeckt, alles erfriert.

Meine Beine schmerzen vor Kälte und kribbeln vor Taubheit, und doch verlange ich noch mehr von ihnen, rücke vor, nehme keine Rücksicht und setze meinen Weg fort. Auch der Rest unserer Truppe leidet, aber niemand beklagt sich. Wir sind am Leben, wir sind frei - mehr können wir uns gerade nicht wünschen.

Dunkel und hoch erscheint die Silhouette des Hafens, die Stege sind kaum erkennbar, die Schiffe regen sich nicht. Freedom flucht leise. "Das Meer ist gefroren", murmelt sie mir ehrfürchtig zu. "Das ist noch nie passiert."

Unsere Truppe wird ein wenig unruhig, einige murmeln etwas, Unsicherheit zeichnet sich in ihrem Verhalten ab. Ich schnaube leise, schüttele den Kopf und rücke weiter vor. Wir können jetzt nicht Halt machen, wir können jetzt nicht nach einem anderen Weg suchen. Wir werden ein Schiff besteigen und das Meer überqueren, selbst, wenn ich dafür all meine Macht aufbringen muss. Der Frost ist mein Freund, die Kälte mein Kumpane, der Wind mein Wegweiser. Wir schaffen das schon irgendwie.

Ich verfalle in Lauftempo, bewege mich schneller als seit Stunden, renne der dunkeln Silhouette entgegen. Ob der Rest mir noch folgt weiß ich nicht - und es ist mir auch egal. Wenn sie nicht mitkommen, dann werde ich eben alleine das Land verlassen.

Am Hafen angekommen, halte ich wieder inne, lausche und versuche etwas zu erkennen. Nichts. Erwartungsvoll drehe ich mich um, will eine Bestätigung von Freedom. Aber sie ist nicht da. Ich spähe in den Nebel hinter mir, suche nach ihrer kleinen Gestalt - aber da ist nichts. Es scheint, als wäre ich alleine. Leise Alarmglocken klingen in meinem Kopf, eine Warnung, eine stumme Botschaft.

Aber um sie zu begreifen bin ich zu müde, um zu reagieren bin ich zu träge. Und so kommt es, das sich eine Klinge an meinen Hals legt. So kommt es, dass eine Stimme meinen Namen flüstert, singt, schnurrt, ruft, schreit. So kommt es, dass sich das kalte Eisen in meinen Hals bohrt, dass die Klinge meine Haut durchschneidet und mein Blut, mein brennendes Blut, das einzige an mir, das noch mit Licht, Leben und Lachen erfüllt ist, aus mir herausspritzt, im reinen, weißen Schnee landet und ihn rot färbt.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt