Achtundzwanzig

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Lucien

Ich schneide eine Grimasse. Das wird gleich sehr, sehr hässlich werden.

Ich kann den Ring unmöglich zurückgeben und so tun, als hätte ich nicht erkannt, wem er gehört hat. Nicht bei diesem Ring - nicht bei diesem letzten Andenken. Er sollte bei der Person sein, die diesen schweren Verlust noch immer zu verkraften hat.

Denn der Ring ist nicht irgendeiner - er hat Snows Zwillingsbruder gehört. Er hat Ice Silberwolf gehört. Ich kenne die Geschichte dahinter nicht, und ich weiß auch nicht, was es damit auf sich hat, aber Fakt ist, dass er das letzte Andenken an ihn ist, das Snow geblieben ist - neben der Erinnerung an ihn.

Nein, ich kann das Schmuckstück nicht diesem wilden Haufen geben. Ich muss es Snow bringen. Wenn du mir noch einmal unter die Augen trittst, werde ich dich eigenhändig abschlachten, sind ihre letzten Worte an mich gewesen, bevor sie eine Welt hat einstürzen lassen. Aber selbst, wenn sie ihr Todesversprechen wahr macht - das ist es mir wert. Wenn ich dafür den Schmerz ihres Verlustes auch nur um ein Minimum reduzieren kann, ist es mir das wert.

Eine Welt, in der Snow mich nicht will, in der ich kein Prinz sein kann, in der ich keinen weiteren Zweck erfüllen kann, macht für mich ohnehin keinen Sinn mehr. Ein Leben, in dem ich bedeutungslos lebe und sterbe, macht für mich keinen Sinn mehr. Ich muss den Ring um jeden Preis zu Snow bringen - und es ist mir egal, wenn sie mich danach eigenhändig foltert und umbringt.

Nein, ich kann den Ring nicht diesen finsteren Gesellen überlassen. Ich behalte sie alle im Auge, während ich ihn gemächlich einstecke. "Ihr habt keine Ahnung, was ihr da in euren Besitz gebracht habt", flüstere ich heiser. "Ihr habt kein Recht, ihn auch nur anzufassen."

Der Anführer schnaubt nur lautstark und zieht seine eigene Waffe. "Du bist ganz schön Vorlaut, dafür, dass du gleich sterben wirst", spottet er.

"Dies ist weder der Ort, noch die Zeit, um die ich sterben werde", kontere ich. "Macht euch auf euren Tod gefasst."

Höhnisches Gelächter, während dem die Ersten vorstoßen. Ich weiche einigen Klingen aus, ziehe zeitgleich meine versteckten Dolche und pariere die Hiebe, die leicht verzögert kommen.

Keine Sekunde später schlitze ich schon einem nach dem anderen die Kehle auf, während ich herumwirbele und Schlägen ausweiche. Mein Vorteil ist der kleine Raum. Sie sind so viele, dass sie bei jedem Ausweichmanöver meinerseits einen ihrer eigenen Leute treffen.

Sie sterben schnell und schmerzlos - auch, wenn sie ihre verbliebenen Atemzüge noch dazu nutzen, möglichst laut zu schreien, damit auch ja jeder innerhalb des Gasthauses aufmerksam wird. Einige versuchen auch, die Flucht zu ergreifen. Ich äschere sie ein, bevor sie weit kommen. Diese Männer sterben weniger schnell - und weit qualvoller.

Ich kann keine Augenzeugen brauchen. Meisterschmied Leo, der seine Kunden abgeschlachtet hat - das ist kein Makel, den ich auf meiner Scheinidentität gebrauchen kann.

Kaum ist der letzte Gefallen, steht schon der erste Gast auf der obersten Treppenstufe und sieht das Gemetzel. Es ist die Wirtstochter, die mich mit offenem Mund stumm anstarrt. Ich bin innerhalb von wenigen Sekunden bei ihr und halte ihr den Mund zu, damit sie nicht schreien kann. "Alles in Ordnung. Ich werde dir nichts tun. Bleib einfach ganz ruhig", flüstere ich ihr zu.

Sie nickt perplex. Mir bleibt nicht viel Zeit, ehe die Nächsten eintreffen werden. Ich lasse von ihr ab und drehe mich dem blutigen Schauplatz zu. Rücksichtslos stöbere ich durch die Taschen des Anführers. Ich wische meine blutigen Klingen an seiner Kleidung ab und stecke seinen Goldbeutel ein. Dabei fällt mir im Augenwinkel ein Aufblitzen von Licht auf - unter dem Bett steht ein kleiner Koffer.

Ohne zu zögern stecke ich ihn unter meine oberste Kleidungsschicht. Schritte nähern sich - die Wirtstochter steht noch immer verstört und unsicher herum. Wenn man sie hier findet, umgeben von so vielen Leichen, wird man ihr unangenehme Fragen stellen. Es wird klar sein, dass sie den Täter gesehen und laufen lassen hat. Es wird ihren Ruf zerstören und ich habe zwar nicht wirklich eine Ahnung, wie und warum diese Dinge in Luna so gehandhabt werden - aber der Ruf einer Frau scheint lebenswichtig zu sein.

Ich kann sie genauso wenig hier lassen, wie ich den Ring zurücklassen könnte. Kurzerhand nehme ich sie auf die Arme. "Festhalten und nicht schreien", flüstere ich ihr zu, als sie quiekt.

Damit springe ich aus dem kleinen Fenster auf das Dach und verschwinde mit ihr hinaus in die untergehende Sonne.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt