Dreißig

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Lucien

Es ist tiefste Nacht und ich bin vollkommen durchgefroren. Wäre da nicht mein inneres Feuer, meine Gabe, wäre ich wohl längt erfroren. Aber selbst damit werde ich wohl nicht mehr lange durchhalten können.

Mit jeder verstreichenden Minute werde ich langsamer, während der Wind und der Sturm stärker werden. Je schlimmer das Unwetter wird, desto näher komme ich wohl der Festung, zu der sich Snow in der Zwischenzeit aufgemacht hat. Diesen Hinweis habe ich von dem fremden Mädchen in der Stadt bekommen, ehe sie genauso schnell verschwunden wie aufgetaucht ist - nur diesmal mit der Wirtstochter zusammen.

Ich bin seit knapp einer Woche unterwegs - ich bin schon lange an die Grenze meiner Kräfte gestoßen. Trotzdem schiebe ich mich weiter vorwärts. Das Mädchen hat mir nämlich noch eine Warnung mit auf den Weg gegeben: Die Gefahr nähert sich rasant. Beeile dich - oder es könnte schon vor deinem Eintreffen zu spät sein.

Der Wind peitscht mir erbarmungslos ins Gesicht. Meine Beine und Arme werden bereits taub, trotzdem kämpfe ich gegen das Unwetter an. Schritt für Schritt schiebe ich mich vorwärts, während ich die Arme zum Schutze meines Gesichts erhoben habe. Ich kann mich nicht mehr an die letzte Pause erinnern, die ich eingelegt habe - nicht einmal an meine letzte Mahlzeit kann ich mich erinnern.

Trotzdem - ich muss weiter. Ich muss zu Snow und ihr die Andenken überreichen. Früher darf ich nicht aufgeben, früher darf ich dem Tod nicht nachgeben.

Der Schneesturm ist derart stark, dass ich nicht einmal die Hand vor Augen sehen kann. Die Augen offen zu halten ist bei dem Wind generell schwer. Meine Sicht wechselt zwischen schwarz und weiß, wenn ich die Augen schließe oder offen habe. Mehr Farben kann ich nicht erkennen.

Eine besonders starke Böe peitscht gegen mich an. Ich habe das Gefühl, sie schiebt mich nach hinten. Ächzend versuche ich mich in dem knietiefen Schnee aufrecht zu halten und mich dagegen zu stemmen. Snow hat ganze Arbeit bei der Verteidigung ihrer Basis geleistet.

Der Wind pfeift mir lautstark in den Ohren. Es ist unfassbar schmerzhaft und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht schon längst taub bin, so laut ist die Umgebung.

Ich muss trotzdem weiter, koste es was es wolle. Ich muss zu Snow, ich muss dafür überleben und ich muss ihr die Andenken überreichen. Was danach passiert ist egal. Ich muss einfach nur bis dahin durchhalten.

Etwas Scharfes fliegt an mir vorbei. Aus dem Augenwinkel sehe ich das Rot, das sich aus meiner Wange ergießt. Offenbar hat ein Eissplitter mir einen Schnitt zugefügt. Es ist mir egal. Den Schmerz davon spüre ich gar nicht - die Qualen des Rests meines Körpers überwiegen.

Meine Beine zittern, meine Arme sind bleischwer und meine Muskeln flehen mich geradezu an, endlich nachzugeben und ihnen eine Pause zu bescheren. Aber eine Pause ist gleichbedeutend mit dem freiwilligen Tod.

Eine weitere Windpeitsche schlägt nach mir. Durch die Erschöpfung knickt eines meiner Beine weg und ich sinke auf die Knie. Stöhnend versuche ich mich wieder aufzurichten, aber es will mir nicht gelingen. Ich spüre meine Beine nicht mehr.

Gemeinsam mit der Erleichterung meines Körpers, sich endlich ausruhen zu dürfen, breitet sich ein Netz aus Schmerzen überall in mir aus. Mich verlässt die Kraft, mich weiterhin aufrecht zu halten. Müde sacken meine Arme herab und mein Körper kippt leblos in die Schneeschicht hinein. Das letzte, das ich sehe, ist das unendliche Weiß des Schnees.

Storming LightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt