28. Stark sein

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"Das, was du im Herzen trägst, wird bestimmen, wo du im Leben stehst."

Als ich kurz vor ein Uhr nachts eine Nachricht von Afra kriege, nehme ich mein Handy sofort zur Hand. Sie hat den ganzen Tag nicht auf meine Nachrichten geantwortet und ich mache mir Sorgen um sie. Sie kapselt sich wieder ab und das macht mich unruhig.
An der Art wie sie schreibt, erkenne ich, dass es ihr nicht sonderlich gut geht.
>Ich rufe dich jetzt an<, tippe ich und warte kurz, bis sie mit einem einfachen 'Okay' antwortet.

"Wie geht es dir?", frage ich sie, sobald sie den Anruf entgegennimmt.
"Gut und dir?"
"Auch. Warst du heute beschäftigt?", forsche ich nach, worauf sie lediglich mit einem 'Hmm' antwortet. Und aus ihrer Stimmlage höre ich raus, dass sie wirklich beschäftigt war, so dass es sie müde gemacht hat. Beschäftigt im Kopf und vermutlich auch im Herzen.
Da ich merke, dass sie meine Fragen nicht beantworten will, fange ich an, ihr von der bevorstehenden Hochzeit zu erzählen.
Afra lässt sich auf das Theater ein, so dass wir ein ziemlich banales, vielleicht ein klein wenig unnötiges Gespräch über die ganzen Vorbereitungen und meine Vorstellungen haben.
Es scheint so, als ob mein Vorhaben wirklich klappt. Sie scheint ihre Sorgen für eine Weile vergessen -oder zumindest verdrängt- zu haben.

"Du wirst Morgen bei uns sein?", forscht Afra nach. Die eigentliche Frage lautet, was mich bedrückt.
"Ich liebe es, dass wir uns so gut kennen. Ja, ich brauche einen Ratschlag von deinem Vater."
"Ist es wegen den Worten deiner Oma?"
"Es geht nicht darum, dass ich Angst habe, dass mir dasselbe Schicksal wie meiner Mutter widerfahren wird. Doch die Gnadenlosigkeit ihrer Worte lasten auf mir. Anfangs war ich wütend, doch ich merke, dass sie Spuren hinterlassen haben. Mit meiner Mama will ich nicht sprechen, es handelt sich immerhin um ihre eigene Mutter. Und mit Shervin erst recht nicht."
"Das ist total normal Mediha. Geh zu meinem Papa, er wird dir guttun."
"Vielleicht solltest du es zulassen, dass er auch dir guttut."
Afra lacht leise.
"Hör bloß auf, seine Sorge macht mich verrückt. Du solltest ihm klar machen, dass es mir gut geht."
"Ich soll ihn also anlügen?"
"Nicht wirklich lügen, ihm lediglich die Sorgen nehmen."
"Du weißt, dass das nicht klappen wird. Außerdem merkt man allein an der Art, wie du sprichst, dass es dir nicht gut geht, Afra. Niemand wird mir das also abkaufen."
"Mir geht es aber gut", beteuert sie.
"Ist klar und ich bin der Osterhase."
"Freut mich dich kennenzulernen."
"Hör auf vom Thema abzulenken."
Kurz herrscht Stille.
"Majid will derzeit kommen, er drängt. Er ruft mich auch ständig an, will, dass ich für ihn da bin. Aber ich kann im Moment einfach nicht. Ich kann mir selbst nicht guttun, wie soll ich dann für ihn da sein?"
Auf die Worte meiner besten Freundin beiße ich mir auf die Lippen. Solche Worte hört man von Afra nicht, doch dass sie diese ausspricht, zeigt, wie schlecht es ihr geht.
"Macht mich das eigentlich zu einer schlechten Schwester?", wispert sie und ich schließe schmerzvoll meine Augen, da ich die Verzweiflung aus ihrer Stimme raus höre.
"Afra, nein. Um Gotteswillen! Du bist auch nur ein Mensch und es ist normal, dass dir manchmal auch die Puste ausgeht."
"Er hat mir gestern geschrieben, ob ich Zeit zum Telefonieren habe, ich habe ihm erst spätabends geantwortet, obwohl ich die Nachricht gesehen habe und meinte dann, dass wir heute reden werden. Er hat am Nachmittag angerufen, ich bin nicht ran, weil ich einfach nicht die emotionale Kraft dafür hatte. Ich bin so eine verdammt schlechte Schwester." Ich höre die Tränen aus ihrer Stimme und es bricht mir das Herz.
"Afra bitte hör auf dir sowas einzureden, bitte! Du weißt, dass das nicht stimmt. Du bist unter ganz anderen Verhältnissen als er aufgewachsen. Schau mal, bei euch herrscht kein Krieg mehr. Ihm geht es gut, er wächst nicht unter Streitereien auf. Wenn du mal nicht für ihn da bist, dann passiert nichts. Er ist nicht du. Du hast Schaden getragen, als man nicht für dich da war. Aber er tut es nicht, weil deine Eltern da sind und in ihrer Rolle funktionieren. Also hör auf dich selbst niederzumachen. Lass es zu, dass wir nun für dich da sind."
Es herrscht Stille, doch höre ich ihren tiefen Atem und ich weiß, dass sie sich etwas sammeln muss, damit sie beim Reden nicht in Tränen ausbricht, denn sie kann es absolut nicht ausstehen, wenn irgendjemand mitkriegt, dass sie weint.
"Du hast ja Recht, aber-" "-nichts aber Afra! Ich werde Morgen da sein, dann mache ich ihm klar, dass er auch mich anrufen kann."
"Mediha, du hast selber viel um die Ohren."
"Ich habe gar nichts um die Ohren. Sei leise. Schau, dass du dich wieder sammelst, ja? Und wenn du Redebedarf hast, dann weißt du, dass ich da bin. Du musst nicht mit allem selber fertig werden. Gib deine Last ab, lass es nicht zu, dass sie dich verschluckt", bitte ich sie.
"Ich versuch's", ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern und ich hoffe, dass sie es wirklich versucht.

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