20. Zuckerwatte und kandierter Apfel

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"Eine Bindung zwischen zwei Menschen funktioniert nur, wenn beide sich dieselbe Menge an Aufmerksamkeit schenken, um gemeinsam zu wachsen."

"Ich habe zu viel geredet", spricht Shervin mit einem leichten Lachen.
Schnell schüttele ich meinen Kopf.
"Nein, kein bisschen. Du könntest stundenlang reden und ich würde dir stundenlang zuhören. Du merkst gar nicht, wie gern ich dir zuhöre. Wie gerne ich von dir lerne."
Auf Shervins Lippen entsteht ein ehrliches, schönes Lächeln.
"Bevor ich zur Arbeite gehe, habe ich da etwas für dich."
Fragend blicke ich zu ihm, während er in seinem Rucksack kramt und dann eine abgepackte Packung blauer Zuckerwatte rausholt.
Überrascht blicke ich ihn an, mit sowas habe ich absolut nicht gerechnet, weswegen es mir kurz die Sprache verschlägt.
Mit einem Lachen und Kopfschütteln nehme ich ihm die Zuckerwatte entgegen.
"Wo hast du das her?", frage ich, während ich anfange die Verpackung zu öffnen.
"Daphne wollte unbedingt auf den Weihnachtsmarkt, da habe ich meine Schwester und meinen Schwager mitbegleitet, weil ich an unser Gespräch denken musste."
Zu wissen, dass er sich das gemerkt hat und dann auch noch sich die Mühe gemacht hat mir Zuckerwatte zu kaufen, ist in meinen Augen eine sehr wertvolle Geste.
"Das ist sehr wertvoll, danke", spreche ich und schiebe mir ein Stück Zuckerwatte in den Mund. Einige Blicke sind auf uns gerichtet, was mich nicht sonderlich wundert, da wir in der Mensa sitzen und meine babyblaue Zuckerwatte in diesem Kontext etwas off-topic wirkt.
"Willst du?", frage ich Shervin, während ich ihm ein Stück reiche. Bevor er danach greifen kann, ziehe ich meine Hand jedoch wieder zurück.
Er hebt seine Braue in sie Höhe, was ich mit einem frechen Grinsen quittiere.
Bevor ich realisieren kann, was passiert, greift seine Hand nach meiner Zuckerwatte, von welcher er sich ein Stück nimmt und sie dann triumphierend in den Mund steckt.
Auf dieses Schauspiel muss ich lachen.
Es ist total absurd und ich hätte nie gedacht, dass wir eines Tages uns gegenübersitzen und uns wie kleine freche Kinder benehmen würden. Doch genau das macht diesen Moment so unbeschreiblich wertvoll.
Wenn wir über ernste Themen reden, ich von ihm lerne; wenn wir miteinander lachen; wenn wir uns wie -jetzt- kleine Kinder benehmen, jeden einzelnen Moment mit Shervin weiß ich zu schätzen und jeder einzelne Moment mit ihm ist so unfassbar wertvoll, weil er wertvoll ist.
"Ich habe noch was für dich."
"Das werden dann aber drei Geschenke, während ich dir noch gar nichts geschenkt habe."
"Das hier und die Zuckerwatte zählen nicht. Außerdem hast du mich nicht aufgegeben, obwohl ich dir anfangs genug Gründe dafür gegeben habe. Das war das wertvollste Geschenk überhaupt, mehr kannst du mir nicht geben, Mediha."
Ich spüre, wie sich meine Mundwinkel in die Höhe ziehen, so sehr wie es nur möglich ist. Shervin hält in seiner Bewegung inne und betrachtet mein Lächeln, während seins auch größer wird. Er schüttelt dann leicht seinen Kopf und greift erneut in seine Tasche.
Das nächste, was ich zu sehen kriege, ist ein knallroter kandierter Apfel.
Meine Augen weiten sich vor Überraschung.
"Woher weißt du-", ich bringe meinen Satz vor lauter Überraschung nicht zu Ende.
Mein Anblick bringt ihn zum Lachen.
"Ich bin von Daphne ausgegangen, sie liebt das auch."
"Die Kleine hat echt Ahnung. Ich bin mir sicher, dass wir uns gut verstehen werden."
"Du träumst zu viel", grinst er mich frech an.
"Deine Worte beruhigen mich nicht, nur damit du Bescheid weißt."
"Das sollen sie auch gar nicht, sie sollen dir nur die Realität vor Augen führen."
"Du bist böse."
Er grinst mich kurz an und als ich sehe, dass er nach seinem Tablett greifen will, schreite ich ein.
"Lass das, ich mache das schon." Er will zum Reden ansetzen, doch schüttele ich meinen Kopf und deute auf die Schlange, die herrscht.
"Du kommst sonst zu spät zur Arbeit, ich muss meins später doch auch wegräumen, dann stapele ich einfach beide aufeinander und gut ist. Geh jetzt."
Sein Blick gleitet auf seine Armbanduhr, widerwillig nickt er.
"Danke."
"Nicht dafür, viel Spaß auf der Arbeit."
"Werde ich bestimmt haben", seufzt er und kehrt mir dann den Rücken zu. Bis er hinter der Säule verschwindet, wo der Aufzug ist, sehe ich ihm mit einem Lächeln nach und greife dann glücklich zu meiner Zuckerwatte.

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