10. Schürfwunden und Annäherungsversuche

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"Ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein."
- Goethe-Dichtung und Wahrheit

"Er hat einfach nichts gesagt, aber das war auch Antwort genug", bringe ich meine Erzählung zu Ende.
"Er hat dich auch nicht aufgehalten, als du gehen wolltest?", fragt Afra nach.
"Nein. Aber es ist okay, Afra. Wirklich. Dass er keinen Kontakt zu mir haben will, kann ich verkraften, ich fand es eher schade, dass er einfach nichts zu sagen hatte."
"Immerhin hat er sich für sein Verhalten entschuldigt." Ich lache, denn selbst Afra weiß, wie dumm diese Situation ist.
"Vielleicht hättest du ihn doch um eine Erklärung bitten sollen."
"Vielleicht hätte ich das wirklich tun müssen. Aber wenn er es mir erklären wollen würde, hätte er das auch getan. Ich habe ihm schließlich die Möglichkeit dazu gegeben."
"Da hast du Recht, aber Jungs ticken anders als wir. Vielleicht hättest du eine Antwort verlangen müssen und ihm nicht nur eine Möglichkeit dazu geben sollen."
Ich seufze. "Gut möglich, aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr."
Eine Weile lang unterhalte ich mich noch mit Afra, bis wir dann auflegen und ich mich bettfertig mache.
Ein Glück, dass ich es geschafft habe den Text für den morgigen Tag vor meinem Telefonat mit Afra zu Ende zu lesen.

"Mediha", höre ich eine all zu bekannte Stimme nach mir rufen, weswegen ich fast stolpere. Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir erneut miteinander reden werden. Zwei Tage sind vergangen seit unserem letzten Gespräch und ich war mir sicher, dass er sich nie wieder bei mir melden würde.
Tief durchatmend drehe ich mich also zu Shervin um.
"Ja?"
"Können wir reden?" Uns trennt fast ein Meter voneinander, weswegen er die Distanz überbrückt.
"Ich wüsste nicht worüber. Ich dachte, es sei alles gesagt."
"Du hast alles gesagt, ich aber nicht."
"Ich höre."
"Wollen wir uns nicht setzen?"
"Hör zu Sherv-" "-ich weiß, ich habe dir Unrecht getan, deswegen will ich mit dir reden." Obwohl seine Worte eher sanft sind, ist seine Haltung immer noch streng. Immer noch distanziert. Und egal wie dieses Gespräch ausgeht, ich merke, dass diese Distanz bleiben wird, dass ich mich mit ihr abfinden muss und keine zu hohen Erwartungen an Shervin haben darf.
"Lass uns raussetzen", sage ich zur Tür deutend. Da das Wetter schön ist, will ich nicht in der Cafeteria sitzen. Die Bänke davor erscheinen mir eine gute Lösung.

Kurz herrscht Stille an unserem Tisch.
"Ich hätte dich an dem Tag nicht ohne Antwort lassen dürfen", fängt er das Gespräch an. "Es war unfair von mir." All diese Dinge sind zwar nett gemeint und dennoch bringen sie mir wenig. Er spricht lediglich Tatsachen an, die mir schon bekannt sind. Zumindest ist er sich selber dem auch bewusst geworden. Immerhin etwas.
"Ich bin kein sonderlich guter Freund, Mediha. Aber das hast du vermutlich schon gemerkt. Trotzdem will ich nicht, dass wir uns ständig aus dem Weg gehen müssen. Vermutlich werden wir in den nächsten zwei Jahren weiterhin Seminare miteinander haben und wir müssen uns diese Zeit nicht unangenehmer gestalten als sie ist."
Ich nicke, ich verstehe, was er mir sagen will. Erneut pralle ich an seine Mauer, dabei hatte ich die Hoffnung gehabt, dass ich dieses Mal vielleicht durch seine Mauer hindurch gelassen werde oder er mir zumindest ein Fenster öffnet. Doch dem ist nicht so. Und langsam tun die Schürfwunden, die ich mir zuziehe -während ich an seine Mauer pralle- weh. Also entscheide ich mich auch zurückzuziehen. Ich bin nicht so sadistisch, dass ich mir selber wehtue oder leide, damit ich jemand anderem guttue.
"Du hast Recht, wir müssen keine Freunde sein, es reicht, wenn wir zwei Kommilitonen sind, die gut miteinander klarkommen."
Ein leichtes Lächeln -nein, es ist lediglich ein Zucken seiner beiden Mundwinkel- entsteht.
"Bin ganz deiner Meinung", stimmt er mir zu und doch muss ich all das ertsmal in mir verarbeiten, bevor ich mich mit diesem Gedanken anfreunden kann. Also erfinde ich eine Ausrede.
"Ich muss jetzt los. Muss heute noch einige Dinge erledigen."
"Klar. Man sieht sich dann."
Ich nicke, wünsche ihm noch kurz einen schönen Tag und mache mich dann auch schon aus dem Staub.

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