15. Geständnisse - Teil I

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"Der Mensch ist die Medizin des Menschen."
- afrikanisches Sprichwort

Zwei Tage später sitzen wir uns in der Cafeteria gegenüber, zum Glück ist es Freitag und somit ist nicht all zu viel los. Ich bin froh, dass wir beide noch einen Tag zum Überlegen hatten. Meine Gedanken sind viel ruhiger und somit bin auch ich das. Mein Bedürfnis über die Ironie des Schicksals weinen zu müssen oder wie eine Gestörte darüber in schallendes Gelächter zu verfallen, ist verschwunden. Zumindest fast.
Dennoch streiche ich mir nervös meine Strähne, die mir ins Gesicht fällt, hinters Ohr -unter seiner Beobachtung.
"Ich- also keine Ahnung, wie ich anfangen soll. Es ist so, ich kenne jemanden, der von MS betroffen ist, deswegen war das erstmal so ein Schock für mich. Es hat nichts damit zu tun, dass ich deswegen nichts mit dir zu tun haben will, nur hat mich das an diese Person erinnert und-", verzweifelt fahre ich mir durch das Gesicht und sehe ihm dann direkt in die braunen Augen.
"Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich will nicht, dass wir uns aufgeben, Shervin. Die letzten Wochen, in denen wir gemeinsam Zeit verbracht haben, waren sehr wertvoll für mich. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber du hast meinen Horizont erweitert. Ich verbringe mit kaum jemandem so qualitativ gute Zeit wie mit dir. Ich will das nicht aufgeben. Falls du dich von mir abwenden wirst, dann werde ich das nicht zulassen."
Shervins Braue hebt sich in die Höhe.
"Und was ist, wenn ich keine Zeit mehr mit dir verbringen will?"
Kurz schlucke ich hart, doch setze darauf meine selbstsichere Haltung auf.
"Das wolltest du am Anfang auch nicht. Aber es ändert nichts daran, dass du danach die Zeit mit mir genossen hast."
"So ist das also?"
Ich nicke selbstbewusst.
"Und was ist, wenn deine Anwesenheit mir nicht guttut, mir wehtut?" Damit habe ich nicht gerechnet. Ich lasse meine Zunge über meine Lippen gleiten, um diese zu befeuchten, denn sie fühlen sich so staubtrocken an. Wie die Erde der Wüste.
"Wenn das so ist, dann ändert das einiges."
"Was zum Beispiel?"
"Wenn es wirklich so ist, dann werde ich Abstand zu dir halten, du musst mich dann nicht mehr ertragen."
"Obwohl du dir damit selbst wehtun wirst?", hakt er nach. Mit einem erzwungenen Lächeln nicke ich.
Er seufzt tief und legt seine Hand auf meine.
"Mediha", spricht er meinen Namen gefühlvoll aus, so dass es in meinem Bauch zieht.
"Versteh mich nicht falsch. Die Zeit mit dir ist so wertvoll in meinen Augen, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Aber du sagst es selbst, du kennst jemanden, der von dieser Krankheit betroffen ist. Dann weißt du auch, wie der Verlauf meiner Krankheit sein wird. Ich will dir sowas nicht auferlegen." Er will seine Hand wegziehen, doch lege ich meine andere Hand auf diese.
"Und was ist, wenn ich bereit dazu bin, das auf mich zu nehmen?"
Er lacht leicht.
"Das ist zwar süß von dir, aber es ist keine gute Idee, glaub mir."
"Es ist meine Entscheidung Shervin, die kannst du mir nicht abnehmen."
"Ich kann dich aber vor einer Enttäuschung schützen und das ist in diesem Fall sogar meine Pflicht."
"Nein, ich bin aus dem Alter raus, wo man mich schützen muss."
"Mediha, jetzt benimmst du dich erst Recht wie ein Kind."
"Siehst du es nicht oder willst du es nicht sehen, Shervin!", spreche ich nun wütend.
"Was?", fragt er misstrauisch, etwas ängstlich.
Ich lehne mich etwas weiter vor, fokussiere seine Augen, so dass wir uns tief in die Augen blicken. In unsere Seelen blicken.
"Ich empfinde mehr für dich. Viel mehr." Tief atme ich durch und gestehe ihm das, was ich mir selbst erst gestern Nacht eingestanden habe, während ich im Bett lag und nachgedacht habe.
"Ich liebe dich. Wenn du nun einen Menschen hinter dir lassen willst, der dich liebt, nur zu."
Es ist erschreckend diesen Gedanken laut auszusprechen und das auch noch vor ihm zu tun, dennoch ist es so befreiend wie nichts anderes. Als ob ich an einem Fels stehen und all meine Gefühle in eine Schlucht schreien würde. Ungewiss, was diese Schlucht mit meinen Gefühlen tun wird; Sie verschlucken oder doch durch den Widerhall zu mir zurücktragen?

Er schweigt. Es herrscht eine Weile Stille zwischen uns. Eiserne Stille. Doch sein Schweigen zerrt an meinen Nerven. Also entziehe ich ihm meine Hände und stehe dann auf.
Ich laufe einige Schritte Richtung Ausgang, während ich mir auf die Zähne beiße, um nicht loszuheulen.
Er empfindet nicht dasselbe für mich und diese Erkenntnis schmerzt.
"Mediha", ruft er nach mir, ich will mich nicht umdrehen, will ihm nicht ins Gesicht schauen, denn ich weiß nicht, wie lange ich meine Tränen dabei zurückhalten kann. Dennoch bleibe ich stehen und drehe mich langsam zu ihm um.
Er bleibt vor mir stehen.
"Wenn ich dir jetzt auch meine Gefühle beichte, dann gibt es für uns beide kein Zurück mehr. Dann schlagen wir einen Weg ein, der uns beiden viel Schmerz bringen wird. Du musst viel auf dich nehmen. Wenn ich dir jetzt meine Gefühle beichte, dann können wir uns nicht mehr einfach so aus dem Weg gehen, wenn wir merken, dass uns die Situation zu viel wird. Wenn ich dir jetzt meine Gefühle beichte, dann wirst du sehr stark sein müssen. Wie soll ich dir das nur antun?" Er merkt gar nicht, dass seine Worte meine Seele auflachen lassen, dass er mich durch sie glücklich macht. Vor Glück wollen mich meine Beine nicht mehr halten, weswegen ich nach einem Stuhl greife und ihn quietschend zu mir ziehe. Nachdem ich mich auf diesem niedergelassen habe, greife ich nach Shervins Händen.
"Was ist, wenn ich bereit bin das auf mich zu nehmen?"
Ich sehe, wie das innere seiner Augen auflacht. Seine Hände umgreifen meine fest.
"Okay dann; ich habe mich in deinen Sturkopf verliebt. Ich liebe es, wie du nicht lockerlässt. Liebe es, wie du mit Menschen umgehst. Nie hast du mich hilflos fühlen lassen, nie aus mitleidigen Augen angeschaut. Ganz im Gegenteil, ständig hast du mir die Stirn geboten und ich liebe es, wie du mir Normalität gibst, mich als Shervin wahrnimmst, nicht als den Jungen im Rollstuhl. Ich liebe es, wie du keine Diskussion mit mir scheust, nur weil ich im Rollstuhl sitze und hilflos scheine."
"Du und hilflos?" Ich lache, doch sind meine Augen tränengefüllt.
"Ich beichte dir hier meine Gefühle und du machst dich lustig darüber?"
Lachend schüttele ich meinen Kopf und atme tief durch. Den Verstand habe ich schon lange verloren, denn seine Worte lassen all meine Gefühle und Gedanken Achterbahn fahren.
"Danke", wispere ich lediglich tief in seine Augen blickend.
"Dafür, dass ich dich liebe?", fragt er irritiert.
"Nein du Dummkopf", entgegne ich lachend.
"Dafür dass du meine Gedanken und Gefühle Achterbahn fahren lässt, denn so verrückt es auch klingt, ich liebe es. Und danke dafür, dass du dich nicht gegen uns, sondern für uns entschieden hast."
Seine Augen funkeln vor Glück.
"Ich weiß zwar nicht, womit ich so jemand verrücktes wie dich verdient habe, ob du meine Belohnung oder Bestrafung bist, aber dennoch liebe ich dich." Lachend schlage ich ihm gegen den Oberarm.
"Du bist so ein Arsch, ich glaube das wird sich nie ändern."
Er grinst und legt dann seine Hand auf meine Strähne, welche er streichelt und dann hinter meinem Ohr befestigt. Derweil halte ich die Luft an.
"Atme, sonst stirbst du", grinst er mich frech an und kassiert deswegen erneut einen Schlag gegen den Oberarm.
"Du bist so ein Arsch."
"Das hatten wir schon."
"Trotzdem."
"Okay, dann bin ich das eben."
Als ich lache, fließt mir eine Träne aus meinen gefüllten Augen. Er fängt sie auf und wischt sie weg.
"Wein nicht", wispert er.
"Es ist vor Glück", beichte ich leise.
"Trotzdem. Sei glücklich. Aber weine nicht vor Glück."
"Wieso?", forsche ich interessiert nach.
"Eine Träne von dir fühlt sich wie ein Messerstich an", seine rechte Hand gleitet über sein Herz und er tippt dann mit seinem Zeigefinger darauf, "genau hier", ergänzt er. Um nicht zu weinen schließe ich meine Augen, als ich sie wieder öffne, sehe ich Shervins Augen, die mich bewundernd anschauen. Beschämt blicke ich weg.
"Oh mein Gott, du kannst dich ja schämen!", spricht er gespielt überrascht und bringt mich zum Lachen.
"Du bist so ein-" "-ja ja schon klar, ich bin so ein Arsch. Wie gesagt, das hatten wir schon. Lass dir neue Beleidigungen einfallen, sei etwas kreativer, wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Auf Dauer wird das langweilig."
"Also entweder bist du heute gut gelaunt oder du bist selbstverliebt und ich habe das noch nie zuvor wahrgenommen."
"Wirst du einen Rückzieher machen, wenn ich dir sage, dass ich schon immer selbstverliebt war?", grinst er mich frech an.
"Nö, ich werde dein Ego etwas schädigen, damit du nicht mehr so selbstverliebt bist." Auf meine Worte legt er seinen Kopf in den Nacken und fängt an zu lachen, was auch mir ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Es ist so schön mitanzusehen, wie glücklich er ist. Mein Herz wird bei diesem Anblick leichter und ich weiß, dass ich alles dafür geben würde, um Shervin glücklich zu sehen.

Was passiert hier nur?
Manchmal bin ich selbst überrascht über die Wendungen/Geschehnisse in meinen Geschichten.
Ich hoffe, es hat euch gefallen meine lieben Zuckermenschen!❤
Teil II kommt hoffentlich am Samstag.

Eure Verâ

MSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt