7. Triumph

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"Erst wenn wir aufhören, uns als Zentrum aller Werte zu betrachten, können wir anfangen, die Anderen zu verstehen."
- Dieter Dorn

Das ganze Wochenende über beschäftigt mich das, was ich in der Turnhalle gesehen habe.
Shervins Bild taucht immer wieder vor meinem inneren Auge auf und jedes Mal wächst meine Bewunderung immer mehr. Ich weiß nicht wieso, doch nehme ich an, dass er nicht immer im Rollstuhl saß und dennoch ist es so, als ob es ein Teil von ihm sei. Nicht so, als ob er damit verwachsen ist aber trotzdem so, dass es total natürlich aussieht.
Es ist kein gutes Zeichen, dass mich das Ganze so lange beschäftigt, dem bin ich mir bewusst und doch weiß ich nicht, was ich dagegen tun kann.

Am Montag sitzen wir um 8:30 im Büro unseres Dozenten, der unseren Referatsentwurf komplett umschmeißt, weswegen ich am liebsten laut aufschreien würde. Doch bin ich froh, dass wir uns um alles so früh gekümmert haben, denn sonst wären wir niemals damit fertig geworden.

"Würde es für euch klar gehen, wenn wir beide die Textaufgabe übernehmen?", fragt mich Kim und am liebsten würde ich mit einem lauten 'Nein!' antworten, muss mich selber jedoch daran erinnern, dass ich 21 Jahre alt bin und keine vier.
Da mir nichts anderes übrig bleibt, als dem zuzustimmen, tue ich das. Auch Shervin macht es mir nach, doch bleibt seine Zustimmung bei einem Nicken.
Kurz besprechen wir, dass wir uns vor dem Referat nochmal zusammensetzen, so dass sich die Mädels auch an unserem Referatsinput orientieren können und dementsprechend ihre Gruppenarbeit besser gestalten können.

"Wann hättest du Zeit?", frage ich Shervin, sobald die beiden Mädels weg sind.
"Wenn du heute kannst, dann hätte ich bis 10:30 Uhr Zeit." Kurz überlege ich, mein erstes Seminar für den heutigen Tag findet erst um 11:45 statt, also wäre es echt sinnvoll sich nun mit ihm zusammenzusetzen und das Ganze so schnell wie nur möglich hinter sich zu bringen.
Doch wir haben dieses Seminar gemeinsam, also werfe ich ihm einen fragenden Blick zu.
"Ich werde heute nicht zum Seminar kommen." Mehr als das verrät er mich nicht, also nicke ich.
"Hast du alle Texte schon gelesen?", frage ich nach, denn ich werde ganz sicher nicht die ganze Arbeit auf mich nehmen.
"Fast. Bei dem kurzen Text fehlt mir nur der untere Abschnitt."
"Das war für unsere Fragestellung nicht sonderlich relevant, ist also halb so schlimm. Wollen wir uns dann in die Cafeteria setzen?"
"Da ist es zu laut, wie wäre es, wenn wir uns an die runden Tische, kurz vor den Büros der Dozenten setzen?", fragt er, weswegen ich zustimme.

"Du warst am Donnerstag in der Vorlesung nicht da", kommt es mit einem Mal über seine Lippen, als ich dabei bin meine Sachen heraus zu kramen.
Ich halte in meiner Bewegung inne, sehe aus dem Augenwinkel, dass auch er einen überraschten Gesichtsausdruck hat.
Kurz hatte ich die Befürchtung, dass mir die Erinnerung an Donnerstag zusetzen würde, doch passiert genau das nicht. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich die Situation ziemlich gut im Griff.
"Hatte etwas zu erledigen."
Kurz herrscht Stille.
"Soll ich dir meine Mitschriebe zuschicken?", fragt er mich dann aus heiterem Himmel, so dass ich aus allen Wolken falle. Es ist nicht so, dass ich irgendwas in seine Worte hineininterpretiere, denn unsere Professorin hat oft genug erwähnt, dass sie die wichtigen Schwerpunkte in der Vorlesung betonen wird, so dass wir ungefähr wissen, was für die Klausur relevant sein wird.
Aufgrund dessen ist die Anwesenheit in ihrer Vorlesung und die Mitschriebe, die man macht, ziemlich wichtig.
"Das passt schon, danke."
Er fängt an in seinem Block zu blättern und kurz darauf schiebt er mir diesen zu.
Ein kurzer Blick verrät mir, dass es seine Mitschriebe von Donnerstag sind.
Etwas überfordert und dennoch dankbar mache ich Fotos von den drei Blockseiten. Dabei entgeht mir nicht, dass Shervin für einen Jungen eine ziemlich ordentliche -fast schon schöne- Schrift hat.
"Danke", spreche ich mit einem warmen Lächeln aus.
"Kein Ding, jetzt sind wir quitt", kommt es von ihm, so dass ich ihm den Kopf dafür abreißen könnte.
Hat er das wirklich nur angeboten, um nicht mehr in meiner Schuld stehen zu müssen?
Mit einem Kopfschütteln, aber ohne ein weiteres Wort zu verlieren, fahre ich meinen Laptop hoch und wir arbeiten anderthalb Stunden sehr konzentriert, so dass unsere PowerPoint Präsentation fast fertig ist.
"Ich glaub, du musst jetzt los."
"Passt auch, wenn ich erst um 11:00 Uhr losgehe, lass uns das bisschen noch fertig machen." Das Angebot nehme ich gerne an, denn ich will mich nicht nochmal mit Shervin treffen. Also bringen wir schnell noch den Teil zu Ende, der uns übrig geblieben ist.
"Ich schau dann gleich nochmal drüber und schicke sie ihm dann. Nicht dass danach noch etwas wichtiges fehlt."
Shervin nickt, packt seine Sachen zusammen, nickt mir zum Abschied kurz zu und verschwindet dann auch. Ich würde mich am liebsten seufzend auf den Tisch fallen lassen, doch unterlasse ich solche dummen Aktionen.
Auch ich packe meine Sachen zusammen, laufe in die Cafeteria, kaufe mir Schokolade -denn ich habe Nervennahrung mehr als nur nötig- und setze mich dann an einen freien Platz in der Cafeteria, um die Präsentation nochmal durchzugehen. Nachdem ich einige Kleinigkeiten -vor allem Formulierungen und Rechtschreibfehler- umgeändert habe, schicke ich sie Shervin, damit er auch nochmal drüber schauen und falls nötig etwas daran ändern kann.

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