12. erste Komplimente

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"Nothing more attractive than a man who teaches you things without making you feel like you're dumb for not knowing it already."

Das weitere Gespräch an diesem Montag mit Shervin verlief eher mager und da wir nun mitten in der Klausurphase waren, hatte ich zum Glück nicht den Kopf mir darum Gedanken zu machen.
Nach der Klausur hatten wir nur kurz miteinander gesprochen und uns für zwei Tage später zum Lernen verabredet.
Wir hatten fast pausenlos 4 Stunden lang die Texte besprochen, doch waren wir nicht ganz durchgekommen, weswegen wir uns für den heutigen Tag erneut verabredet haben.
Es ist erstaunlich, wie gut wir zusammen lernen können und ich merke, dass es auch ihn immer wieder wundert, dass wir so gut mit den Texten durchkommen. Seit gestern ist unsere Kommunikation noch lockerer und ich muss mir eingestehen, dass mich das glücklich macht. Ich bin eindeutig ein hoffnungsloser Fall.

Ein Blick in den Spiegel verrät mir, wie schrecklich ich aussehe! Vielleicht übertreibe ich auch dezent, aber mein Spiegelbild gefällt mir nicht, denn meine Augenringe sind dunkler als sonst. Und meine Haut blasser als gewohnt, somit sind meine Hautunreinheiten auch deutlicher zu sehen. Seufzend öffne ich den Badschrank, mache meinen Schminkschwamm nass und drücke ihn danach aus. Nachdem ich meine Haut eingecremt habe, trage ich eine BB-Creme auf und verdecke meine Augenringe zusätzlich mit einem Concealer, denn das haben sie im Moment mehr als nötig.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass ich vor allem die BB-Creme auftrage, weil ich gemeinsam mit Shervin lernen werde. Sonst hätte ich es bei einem Concealer belassen.
Nein, denn sonst hätte ich Zuhause gelernt und hätte mich deswegen gar nicht geschminkt. Es ist okay, wenn ich in der Klausurphase wie ein Zombie rumlaufe, es stört mich nicht, denn es gibt wichtigeres als mein Aussehen -vor allem in der Klausurphase- nämlich meine Zensuren und das letzte, was ich will, ist, dass diese schlecht ausfallen. Abgesehen davon kann man mir in dieser Phase ruhig ansehen, dass ich müde und gestresst bin, ich habe kein Problem damit. Es ist kein Stress, mit dem man nicht klarkommt, kein erdrückender Stress, dennoch einer der stetig da ist und sich bemerkbar macht. Doch dadurch, dass der Stress stetig anhält, macht er einen manchmal verrückt.

Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich mich so vor Shervin stellen kann. Ich weiß, es ist dumm, aber ich kann es nicht ändern, denn ich will ihm gefallen.
Genervt über meine eigenen Gedanken seufze ich laut und merke, dass das einer der Momente ist, in denen ich von mir selber genervt bin, weil ich dieses mädchenhafte Denken nicht loswerde. Bevor ich anfange mit mir selber zu schimpfen, verlasse ich das Bad und kurz darauf auch schon das Haus.

"Du wolltest heute ungeschminkt kommen", sind Shervins erste Worte, selbst die Begrüßung lässt er ausfallen. Manchmal weiß ich nicht, was ich von seiner so direkten und teilweise sogar harschen und schroffen Art halten soll. Aber wie war das gleich; Menschen da abholen, wo sie sind? Nun gut, dann würde ich das wohl machen müssen.
"Ich habe dir nichts versprochen." Und das ist die Wahrheit, ich habe lediglich gestern mit einem 'Mal schauen' geantwortet und das ist kein eindeutiges Ja, also habe ich nicht gelogen und somit muss ich auch kein schlechtes Gewissen haben.
"Ich check's nicht."
"Was?", frage ich ihn verständnislos.
"Die Sache mit der Schminke."
Leicht lache ich.
"Das Gute ist, dass du das nicht checken musst, denn wir sind für pädagogische Anthropologie hier und nicht damit wir die Sache mit der Schminke ausdiskutieren."
Shervin will erneut zum Reden ansetzen, doch sieht er meine Haltung, weswegen er den Kopf senkt und dann schüttelt.
"Du hast das gar nicht nötig." Er kann's einfach nicht sein lassen!
"Woher weißt du das?" Er holt tief Luft, ich sehe, wie er mit sich ringt.
"Mediha, ich hatte auch Hautprobleme und wenn du genau hinschaust, dann wirst du das auch sehen. Es ist nichts Schlimmes."
Oh, denkt er wirklich, dass mir das noch nicht aufgefallen ist? Wenn er das wirklich denkt, na ja... Dann ist ihm wohl nie aufgefallen, wie ich ihn beobachte und dabei versinke. Das ist gut. Das ist sogar sehr gut!
Und doch machen diese kleinen Imperfektionen -wie seine Hautprobleme oder sein leicht schiefes Nasenbein- ihn perfekt. Vielleicht würde das jemanden stören, vielleicht würde Shervin genau aus diesen Gründen für viele an Schönheit verlieren, doch genau das macht ihn eigentlich schön. Es macht ihn greifbar. Es macht ihn menschlich. Und das liebe ich an Menschen so sehr.
"Für dich vielleicht nicht, aber mich stört es."
Er seufzt, murmelt leise etwas und schaut mir dann direkt in die Augen.
"Auch wenn du es mir nicht glaubst, du bist hübsche junge Frau. Hör auf das anzuzweifeln. Deine Schönheit braucht keine aufgesetzte Perfektion."
Hat er gerade gesagt, dass ich hübsch bin? Hallo liebes Herz, lebst du noch?
Erst als ich nach Luft schnappe, wird mir bewusst, dass ich diese angehalten habe. Das bringt Shervin natürlich zum Lachen.
"Tu nicht so, als ob du es nicht gewusst hättest", kommentiert er.
"Was?", frage ich verständnislos, denn ich bin wirklich verständnislos. Sein Geständnis hat meine Gehirnzellen von mir genommen, zumindest fühlt es sich so an.
"Tu nicht so, als ob du nicht gewusst hast, dass ich so über dich denke."
"Woher hätte ich das wissen sollen?"
Er setzt zum Reden an, doch bringt er kein Wort über seine Lippen, es schleicht sich lediglich ein unwiderstehlich schiefes Lächeln um diese und ich habe das Gefühl gleich umzufallen. Dieser Mann wird mich noch mein Leben kosten.
"Können wir jetzt lernen?", bringe ich verdattert von mir.
Sein leises tiefes Lachen ertönt im Raum, ich verkneife mir ein Grinsen nur schwer.
Um meinen Kopf von Shervins Worten abzulenken, konzentriere ich mich wirklich auf die Lernerei, was erstaunlich gut klappt. Das ist ein Wunder. Wirklich! Meiner Meinung nach kann das auch so in die Geschichtsbücher eingehen.

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